„Es ist nicht außergewöhnlich, nur interessant“, antwortete Fred LaRocca. „In dem Prospekt ist der verantwortliche Vorstand dieser Stiftung angegeben. Longorias Name ist dabei.“
„Dass dieser Workaholic dazu überhaupt noch Zeit hatte“, staunte Sam Folder.
7
Am folgenden Tag lag das ballistische Gutachten vor. Wir saßen in Mister McKees Dienstzimmer und ließen uns die Ergebnisse von unserem Chefballistiker Dave Oaktree erläutern.
Oaktree hatte mit dem Beamer seines Laptops die Vergrößerung der Oberflächenstruktur eines der Projektile an die Wand projiziert, die aus James Longorias Körper stammten.
„Sie können hier deutlich zwei verschiedene Riefungen feststellen“, erläuterte Oaktree. „Eine ist etwas stärker. Sie stammt vom Lauf einer 45er Automatik, die aktenkundig ist. Diese Waffe wurde bei mehreren Schießereien zwischen rivalisierenden Gangs in der South Bronx verwendet. Sie gehörte dem Gang Leader Shane Kimble, den wir ja bereits in der Liste der Verdächtigen führen. Er sitzt wegen Mordes in Rikers Island. Die Waffe, die er damals benutzte, galt als verloren.“
„Es haben wohl alle angenommen, dass Kimble sie in den East River geworfen hat“, meinte ich.
Aber das war offensichtlich nicht der Fall gewesen.
Dave Oaktree ergriff jetzt wieder das Wort. Er markierte mit einem Laserpointer eine bestimmte Linie auf der Abbildung. „Ich wollte eigentlich noch erläutern, was da sonst noch zu sehen ist“, erklärte er.
„Dann fahren Sie fort, Dave!“, wies Mister McKee ihn an.
„Die schwächeren Riefungen, die man hier sieht, stammen vom Schalldämpfer. Der könnte ein Eigenbau sein, was vielleicht Rückschlüsse auf den Täter zulässt. Es müsste dann jemand sein, der sich in der Metallverarbeitung auskennt und über handwerkliches Geschick verfügt.“
„Gang-Mitglieder, die in der Lage sind, ihre Harleys zu tunen, sind nun wirklich keine Seltenheit!“, seufzte Orry. „Und irgendwelche Spoiler-Bleche an ihren aufgemotzten Wagen hinzubiegen, das bekommen auch die allermeisten von denen hin.“
„Aber eigentlich solle man annehmen, dass die harten Jungs aus Kimbles Gefolge, die inzwischen für ihn die Geschäfte auf der Straße führen, genau wissen, dass man eine Waffe nicht mehrfach verwenden kann, wenn man nicht auffallen will“, sagte Fred LaRocca.
„Vielleicht ist es ja gerade das, was die Täter wollen!“, vermutete Mister McKee. „Kimble wird doch von seinen Leuten noch immer als Held verehrt, wie ich den Berichten in dem Dossier entnommen habe, das Max uns dankenswerter Weise zusammengestellt hat.“ Unser Chef hob die Schultern. „Es sieht fast so aus, als wollte hier jemand seine ganz persönliche Markierung hinterlassen...“
„...die sich dazu noch auch auf Kimble bezieht!“, stimmte Milo zu. „Was will uns der Killer damit sagen? Seht her, wer einen Kimble ins Loch bringt, dem ergeht es schlecht oder so ähnlich?“
Mister McKee atmete tief durch und nickte schließlich. „Wäre nicht das erste Mal“, murmelte er düster vor sich hin. Er blickte in die Runde. „Ich denke, es liegt jetzt klar auf der Hand, was als nächstes zu geschehen hat. Wir nehmen uns Kimble auf Rikers Island und seine Komplizen vor, die noch immer frei herumlaufen. Im Übrigen möchte ich noch etwas in eigener Sache sagen.“ Alle Blicke waren jetzt gespannt auf den Mann gerichtet, der unser Field Office seit vielen Jahren im Rang eines Assistant Directors leitete. „Es wird Ihnen allen nicht entgangen sein, wie nahe mir der Tod von James E. Longoria gegangen ist. Ich denke, zu den Gründen habe ich genug gesagt. Mehr braucht niemand von Ihnen darüber wissen. Ich möchte, dass Sie verstehen, weshalb ich in diesem Fall mich persönlich weitgehend heraushalten werde. Ich war weder am Tatort, noch habe ich Longorias Haus betreten, um bei der Durchsuchung und Sicherung von Beweismitteln dabei zu sein. Das wird Sie vielleicht verwundern, aber ich denke, das Wichtigste ist, dass wir gute Arbeit leisten. Persönliche Interessen müssen dahinter zurückstehen. Mich würde nichts mehr reizen, als persönlich auf die Jagd nach dem Mörder von James Longoria zu gehen, aber ich weiß, dass für erfolgreiche Ermittlungsarbeit eine professionelle Distanz nötig ist, die dann einfach nicht mehr gewahrt wäre. Und das kann im Extremfall bedeuten, dass man auf einem Auge blind ist und die entscheidenden Dinge zur Lösung eines Falls nicht sieht. Vielleicht auch gar nicht mehr sehen will. Wie auch immer, ich möchte nur, dass Sie verstehen, dass es kein Widerspruch ist, wenn ich mich einerseits bewusst zurückhalte und Sie Dinge tun lasse, von denn Sie vielleicht erwartet hätten, dass ich sie selbst tun sollte.“ Mister McKee ließ noch einmal den Blick schweifen und sagte dann: „Das wäre alles.“
8
Zusammen mit unseren Kollegen Clive und Orry fuhren Milo und ich nach Rikers Island.
In einem Verhörraum trafen wir uns mit Shane Kimble, der in Begleitung von Cheyenne Masters erschien, einer jungen, aufstrebenden Strafverteidigerin, die für die renommierte Kanzlei Richardson, Franklyn & Partners arbeitete. Wer immer diese Kanzlei mit seinem Mandat betraute, durfte nicht arm sein. Zwar war Shane Kimbles Drogenvermögen seinerzeit nach dem Rico’s Act beschlagnahmt worden, aber offenbar hatte er es doch irgendwie geschafft, einige seiner Drogengelder irgendwo in einem sicheren Drittland zu parken. Über Vertrauensleute konnte er dann an die Gelder heran. Es hätte mich persönlich nicht gewundert, wenn die Kanzlei Richardson, Franklyn & Partners selbst ihre Finger in diesem Verschleierungsspiel gehabt hätte. Der seriöse Ruf dieser Kanzlei rührte vor allem aus jener Zeit, als Doug Richardson senior noch persönlich die Geschäfte geführt hatte. Seit nunmehr fünf Jahren hatte der alte Richardson sich jedoch aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen und seine Kanzleianteile in die Hände seines Sohnes gelegt, der weit weniger Skrupel zu haben schien. Immerhin waren er geschickt genug, um sich nichts nachweisen zu lassen, aber es pfiffen die Spatzen von den Dächern, dass die Anwälte dieser Kanzlei sich zumindest mittelbar an diversen Geldwäschegeschäften beteiligt hatten.
Shane Kimble war ein großer, breitschultriger Mann, dem anzusehen war, dass er die Zeit auf Rikers Island dazu genutzt hatte, seine Muskeln in den Fitnessräumen dieser Strafanstalt zu stählen. Sein Haar war kurz geschoren. Am Oberarm trug er eine Tätowierung, die ihn als Mitglied der SOUTH BRONX TIGERS auswies, einer Gang, die er lange Zeit angeführt hatte, bis die Ermittlungen von James Longoria dafür gesorgt hatten, dass er nun wohl den Rest seines Lebens hinter Gittern sitzen musste. Er hatte weder mit vorzeitiger Entlassung noch mit Bewährung zu rechnen. Das ging schon allein wegen seines Verhaltens