„Sie lügen, das darf nicht wahr sein!“, hauchte sie mit großen, erschreckten Augen und bebenden Lippen.
„Wir suchen seinen Mörder“, sagte ich. „Was wissen Sie von ihm? Kennen Sie seine Freunde, seine Feinde?“
„Nein. Sind Sie sicher, dass...?“
„Wenn Sie wollen, können Sie sich den Toten ansehen, nur, um ganz sicherzugehen. Aber ich rate Ihnen davon ab. Es ist nichts für schwache Nerven.“
„Ich glaube, ich brauche einen Kognak“, meinte sie. Sie stand auf und ging hinaus. Nach fünf Minuten kam sie zurück. Sie hatte die Dienstkleidung abgestreift und trug jetzt ein zartgrünes Kostüm im Chanel-Schnitt. Es stand ihr gut zu Gesicht. „Ich habe mich bei dem Geschäftsführer entschuldigt – ich darf nach Hause gehen. Es wird am besten sein, Sie begleiten mich“, sagte sie.
Wir verließen das Restaurant. „Ich wohne ganz in der Nähe“, informierte mich das Mädchen. Sie war blass und nervös; ich hatte das Gefühl, dass sie etwas auf dem Herzen hatte, ohne so recht zu wissen, ob es zweckmäßig war, das Thema anzuschneiden.
„Erzählen Sie mir etwas von Tom“, bat ich. „Wie lange kennen Sie ihn?“
„Etwa drei Monate“, sagte sie. „Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir zu Fuß gehen? Es sind nur zehn Minuten bis zu meiner Wohnung.“
Ich nickte. „Ich verschaffe mir gern ein bisschen Bewegung.“
„Wie ist es passiert?“, fragte sie.
„Er wurde erschossen.“
„Von wem?“
„Das wissen wir noch nicht.“
„Ich kann es nicht fassen.“
„Waren Sie sehr eng mit ihm liiert?“
„Er, er wollte mich heiraten.“
„Und Sie?“
„Natürlich wollte ich auch, aber... “
„Aber?“
Sie zuckte die Schultern. „Ich kann das schwer erklären. Ich fürchtete mich davor.“
„Vor der Ehe, oder vor Greenland?“
„Er war mir manchmal direkt unheimlich. Es gab Dinge, die er mir nicht plausibel machen konnte. Er hatte Geheimnisse vor mir.“
„Zum Beispiel?“
„Ich habe nie erfahren, für welche Firma er arbeitet. An Geld hat es ihm nie gefehlt, aber ich weiß bis zum heutigen Tage nicht, wer es ihm zahlte.“ Sie blieb stehen und blickte mich an. Ich blieb ebenfalls stehen. „Hat er krumme Geschäfte gemacht?“, fragte sie mich.
„Fest steht, dass sein Umgang nicht der beste war“, sagte ich und fügte rasch hinzu: „Das bezieht sich nicht auf Sie. Ich meine damit die Leute, die ihm beim Geldverdienen halfen.“
„Kennen Sie sie?“
„Nur zum Teil. Wie steht es mit Ihnen? Hat er Sie mal mit seinen Freunden bekannt gemacht?“
„Er hat mir niemals einen Bekannten vorgestellt“, maulte sie. „Das war auch so eine Sache, die mir nicht gefiel. Ich entschuldigte es damit, dass er vielleicht eifersüchtig sei, aber es war eines von den Dingen, die mich zuweilen in Rage brachten.“
„Würden Sie ihm ein Verbrechen Zutrauen?“
Das Mädchen ging weiter. Ich blieb an ihrer Seite. „Ein Verbrechen? Schwer zu sagen. Wer weiß schon, was in einem Menschen steckt? Nein, ich glaube nicht, dass ich ihn eines wirklich schweren Verbrechens für fähig hielte. Er konnte hart sein, das spürte ich zuweilen, er war auch vital und energisch, aber weshalb hätte er sich dem Verbrechen widmen sollen? Er war intelligent und wendig genug, um sein Dasein auf korrekte Weise fristen zu können.“
„Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen. Nicht alle Leute benutzen ihren Intellekt, um damit der Moral die Stange zu halten.“
„Sie sagen das nicht ohne Grund, nehme ich an? Sie beziehen es auf Tom?“
„Er steht im Verdacht, zwei Menschen ermordet zu haben.“
Das Mädchen blieb abermals stehen. Diesmal waren ihre Augen noch größer und erschreckter als vorher. „Nein!“, stieß sie hervor. „Das halte ich für ausgeschlossen! Er war clever, er wäre vielleicht bereit gewesen, sich durch irgendwelche betrügerischen Manipulationen zu bereichern – aber Mord? Das ist unmöglich.“
Ich fasste sie behutsam unter und führte sie weiter.
„Mörder tragen kein Kainszeichen im Gesicht“, sagte ich. „Sie sprechen und leben wie die meisten von uns, es gibt keine klar erkennbaren Hinweise auf das, was in ihnen ist. Wir vom FBI erleben das immer wieder. Gerade die nächsten Angehörigen von Mördern sind immer die Ahnungslosesten. Mörder sind nicht nur brutal und gefühlskalt, sie haben auch gute, positive Eigenschaften. Den Frankenstein-Typ gibt es im Leben kaum. Der Jammer ist, dass Hollywood Gruselfilme einen Schablonentyp geprägt haben, den die Kriminologie nicht kennt.“
Ich ließ ihren Arm los. Sie ging allein weiter, etwas stolpernd und unsicher, als hätte sie keine Kraft in den Füßen.
„Sie sagen, er war ein Mörder“, meinte sie kaum hörbar. „Ich kann nicht entscheiden, inwieweit das richtig oder falsch ist. Aber es stimmt doch, dass er erschossen wurde, nicht wahr? Also ist er das unschuldige Opfer!“
„Das Wort unschuldig können wir, fürchte ich, in diesem Zusammenhang beiseitelassen. Er wurde ermordet, weil er sich innerhalb einer Gangsterorganisation Rechte anmaßte, die ihm von anderen abgesprochen wurden. Er mordete, und ein paar andere Leute rächten diesen Mord. So lautet meine These. Sie kann falsch sein. Ich bin gerade dabei, sie zu untermauern, und hoffe, dass Sie mir helfen können.
„Wie sollte ich das? Ich hatte keine Ahnung von dem Leben, das er führte!“
„Sie waren oft mit ihm zusammen. Oder?“
„Ziemlich oft.“
„Wie oft?“
„Ein bis zweimal wöchentlich“, meinte sie.
„Na, bitte! Sie haben mit ihm gesprochen. Sie konnten manchmal, bewusst oder unbewusst, einen Blick in seine Brieftasche werfen, Telefongespräche mithören, die ihn erreichten, Notizen lesen, die auf seinem Schreibsekretär lagen. Kurz und gut, wenn Sie genau nachdenken, fallen Ihnen sicherlich tausend Dinge ein, die für uns von Bedeutung sind.“
„Was für Dinge?“, fragte sie, wartete aber die Antwort nicht ab, sondern blieb stehen und meinte: „Wir sind da. Hier wohne ich. Ist es Ihnen recht, wenn ich vorangehe?“ Ich nickte. Wir betraten ein leidlich modernes Apartmenthaus. Der Lift brachte uns ins sechste Stockwerk. Miss Rondas Wohnung war recht niedlich, eine Art Superpuppenstube, den man oft bei alleinstehenden jungen Mädchen findet. Bestickte Sofakissen waren Trumpf.
„Setzen Sie sich, bitte“, sagte sie. „Ich brauche jetzt einen Drink. Und Sie?“
„Mir genügt ein Glas Orangensaft, falls Sie so etwas im Hause haben sollten.“
„Es ist alles da, ich bin sofort wieder zurück“, meinte sie und verließ das Wohnzimmer. Ich hörte, wie sie die kleine Diele durchquerte und die Küchentür öffnete.
Im nächsten Moment geschah es.
Sie stieß einen lauten, gellenden Schrei aus.
Fast gleichzeitig hörte ich ein Geräusch, das einem dumpfen Schlag oder Zusammenprall ähnelte.
Schritte hasteten durch die Diele.
Im Nu war ich auf den Beinen. Ich riss die Wohnzimmertür auf und sah zwei Dinge: Miss Ronda lag bewusstlos in der Diele und ein Mann hastete aus der Wohnung.