Nach dreizehn Jahren. Sofie Schankat. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sofie Schankat
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783748201595
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und in den meisten Fällen dramatisch. Yannicks Lieblingsgenre waren daher dramatische Romane. Und historische Romane, da er sich sehr für Geschichte interessierte und es liebte, durch ein Buch auch in eine andere Zeit abtauchen zu können. Und weil er mit Begeisterung anspruchsvolle Bücher las, las er auch Klassiker sehr gerne. Am schönsten war es, wenn diese drei Dinge alle auf ein Buch zutrafen.

      In Veronicas Bücherregalen wimmelte es nur so von dieser Art Bücher. Lies mich!, schienen sie zu schreien. Sie winkten mit den tollsten Abenteuern, den herzzerreißendsten Beziehungen, den tragischsten Schicksalen und den spannendsten Jahrhunderten. Sie überlieferten Gedanken, geradewegs aus den Köpfen von Menschen, die vielleicht schon seit Hunderten von Jahren tot waren. Ihre Gedanken lebten weiter. Konnten auch Hunderte von Jahren später noch begeistern.

      Die Besuche bei seiner Mutter waren immer schon etwas ganz Besonders gewesen. Yannicks Begeisterung für Literatur war mit den Jahren immer größer geworden. Als Veronica noch in Deutschland gelebt hatte, waren Yannick und Amy öfter bei ihr gewesen. Yannick erinnerte sich noch gut daran, wie er dann abends oft aus dem Kinderzimmer und zu Veronicas Arbeitszimmer geschlichen war. Er hatte im Schlafanzug auf dem Flur gehockt, neben der angelehnten Tür, und den Tipp-Geräuschen von Veronicas Tatstatur gelauscht. Hin und wieder hatte auch ein Blatt geraschelt oder ein Löffel in einer Tasse geklimpert oder die Maus geklickt. Er hatte es geliebt, diesen Geräuschen zu lauschen. Sie waren immer etwas Zauberhaftes gewesen. Er hatte gewusst, dass da gerade eine wundervolle Geschichte entstand. Monatelange Schweißarbeit, damit – in Veronicas Fall – Millionen von Menschen für ein paar Stunden in eine andere Welt und in den Kopf von jemand anderem abtauchen konnten. Er hatte stets etwas wie Ehrfurcht bei diesem Gedanken empfunden. Vielleicht waren Bücher für ihn auch deshalb etwas so Besonderes, Kostbares, und Wertvolles, weil er von klein auf mitbekommen hatte, wie viel Arbeit und Leidenschaft hinter den paar Hundert Seiten eines Buches steckte.

      Noch heute hatte er diese Geräusche im Ohr. Manchmal war das Tippen ganz zaghaft und sanft gewesen, manchmal ganz fest und beinahe aggressiv. Leidenschaftlich. Und auch heute noch war Veronicas Arbeitszimmer für ihn ein ehrfurchtgebietender, ganz und gar kostbarer Ort. Er betrat das Zimmer langsam, schlich auf leisen Sohlen zum Schreibtischstuhl und ließ sich behutsam darauf nieder.

      Hier saß Veronica Treu und schrieb das, was man später zwischen zwei Buchdeckeln kaufen konnte. Auch hier gab es Bücherregale, jede Menge Skizzen von Figuren an den Wänden, einen riesigen und immer gut mit zusammengeknüllten Zetteln gefüllten Papierkorb und Tausende von Notizen. Am Ende wurde das alles zusammengewürfelt zu einer Geschichte. Yannick fiel es schwer, sich diesen Prozess richtig vorzustellen. Er selbst würde niemals ein Autor werden können. Er hatte noch nie versucht, eine Geschichte zu schreiben. Besser war er darin, die Geschichten anderer zu analysieren, zu interpretieren, auseinanderzunehmen und dann darüber zu schreiben. Und natürlich darüber nachzudenken. Yannick liebte es nachzudenken. Zu träumen. Zu fantasieren.

      Er saß in Veronicas Autorensessel, die Arme auf die Lehnen gestützt, sah sich die Skizzen an, gab sich alle Mühe, aber er konnte sich beim besten Willen einfach nicht vorstellen, worum es in Veronicas nächstem Buch wohl gehen würde. Welchen Charakteren sie dort das Leben schenken würde. Vielleicht wusste Veronica es selbst noch nicht.

      Yannick strich andächtig über den Laptop, auf dem Veronicas Gedanken gespeichert waren. Manchmal konnte er nicht glauben, dass Veronica Treu seine Mutter war. Dass er der Sohn einer so berühmten Autorin war. Warum ausgerechnet er? Wer entschied das? Wer hatte entschieden, dass ausgerechnet er Yannick Sladowski geworden war, der Sohn von Veronica Treu und Markus Sladowski? Dass er in diese Familie hineingeboren worden war?

      Da hörte er die Haustür. Er erhob sich und trat rasch aus Veronicas Arbeitszimmer, zum letzten Mal für so lange Zeit.

      Amy zog den Reißverschluss ihres Koffers zu, stellte ihn auf und ließ die Schultern fallen. Sie sah sich in ihrem Zimmer bei Veronica um. Es war das schönste Zimmer, das sie jemals gehabt hatten, denn sie hatten es ganz nach ihren Wünschen einrichten können. Yannick hatte Amys Vorschläge fast alle akzeptiert, und so waren zwei der Wände in einem zarten Rosa gestrichen worden, die Möbel waren weiß und vor dem Fenster hingen kunstvoll hochgeraffte, hauchdünne weiße Vorhänge, auf die silberne Sterne gedruckt waren. Unter der Decke hatten sich Amy und Yannick leuchtende Sternen-Aufkleber gewünscht, sodass sie wie ein Sternenhimmel aussah, und ein gemütlicher, kuscheliger Lesesessel vervollständigte die Einrichtung. Es war eine Schande, dass sie im Jahr kaum mehr als drei Wochen hier verbrachten.

      Wenn Amy an ihre neue Wohnung in Heschbach dachte, wurde ihr schlecht. Wie sah wohl das Kinderzimmer aus? Es gab schreckliche möblierte Wohnungen, vor denen sie ihre Abneigung erst hatten überwinden müssen. Es war nicht einfach, immer in möblierten Wohnungen zu wohnen, in denen einem nichts gehörte, die sich oft ein bisschen nach Ferienwohnung anfühlten. Und es war ebenso wenig einfach, sich an eine neue Stadt zu gewöhnen, an neue Menschen, eine neue Schule … Es gab Kinder, die waren in ihrem ganzen Leben noch nie umgezogen. Sie kannten die Orte und Menschen, von denen sie jeden Tag umgeben waren, seit sie denken konnten. Sie waren niemals aus ihrer Sicherheit und Geborgenheit gerissen worden. Ihre Seele war noch niemals brutal und schmerzhaft auseinandergerissen worden, um sich dann unvollständig und beschädigt irgendwo neu zurechtfinden zu müssen.

      Bei jedem Umzug hatte Amy etwas verloren. Ein Stück Sicherheit, Geborgenheit. Sie hätte sich am liebsten irgendwo anders hin gewünscht. Irgendwohin, wo es dieses bedrohliche Unbekannte nicht gab. In einen Märchenwald, in ein Märchenschloss. Irgendwohin, wo es friedlich und schön war, wo alles sicher und einfach und unkompliziert war. Waren es nicht genau diese Welten, in die Amy sich ihr Leben lang geflüchtet hatte, wenn sie sich unsicher und geängstigt gefühlt hatte? Wo sie einen Halt gesucht hatte? Sie konnte sich stundenlang in ihren zauberhaften Märchen- und Prinzessinnenwelten aufhalten, in romantischen Liebesgeschichten schwelgen und sich selbst dabei beinahe ganz vergessen. Wann immer ihr das Leben zu bedrohlich war, flüchtete sie gedanklich in eine ihrer heilen Kinderwelten. In die Welten der Märchen und Prinzessinnen, die immer gerettet und beschützt wurden. Von ihren Helden und Beschützern.

      »Hast du alles?«

      Amy zuckte zusammen und drehte sich um. Yannick stand in der Tür. Ihr Held und Beschützer. Der bei jedem Abschied und jedem Umzug bei ihr war. Er war ihr Zuhause. Er, der immer bei ihr gewesen war, egal wo sie gerade gewohnt hatten, und an dessen Gegenwart sich nie etwas verändert hatte. »Ja, ich habe alles gepackt.«

      Sie hievten ihre Koffer hoch und Amy warf noch einen letzten Blick auf ihr wunderschönes Zimmer, das doch fast ein richtiges Prinzessinnenzimmer war.

      Veronica war schon beim Auto. Sie luden die Koffer in den Kofferraum, dann fuhren sie los. Amy wollte dieses gemütliche, kleine, geborgene Dünenhaus überhaupt nicht verlassen. Wie gerne wäre sie hiergeblieben! Für immer, bis in alle Ewigkeit mit Yannick in aller Abgeschiedenheit in diesem Dünenhaus gleich am Meer. Hatte dieser Gedanke nicht etwas Zauberhaftes, etwas ganz und gar Romantisches? Vom Alltag und aller Welt abgeschnitten, inmitten von diesen vielen Büchern, von diesen vielen Geschichten, die zum Träumen einluden, zusammen mit Yannick? Ist das nicht alles, was ich brauche, um glücklich zu sein?

      Amy sah betrübt aus dem Autofenster, während sie auf dem Weg zum Bahnhof waren. Da war es wieder, das Herzklopfen, das Herzkrampfen, die wahnsinnige innere Unruhe und Angst. Die Angst davor, Veronica zu verlassen, Veronica und Ginny und das Dünenhaus.

      Amy knetete ihre Hände und sah der am Fenster vorbeiziehenden, so herrlich ländlichen Landschaft zu. Felder, Weiden, da standen Pferde, und die wunderschönen Windmühlen! Amy konnte diesen letzten Anblick wie immer überhaupt nicht genießen, sie konnte das alles gar nicht ein letztes Mal positiv auf sich wirken lassen, so sehr war sie damit beschäftigt, jeden Eindruck, den sie bei den Windmühlen und Pferdeweiden und Bäumen und kleinen Häuschen bekam, so tief wie möglich, eigentlich schon krampfhaft, regelrecht verzweifelt in sich aufnehmen zu wollen. Weil sie wie immer das erdrückende, schreckliche, angstvolle Gefühl hatte, dies könnte die letzte Möglichkeit sein. Was sollte denn passieren? Sollte Holland untergehen? Veronicas Haus abbrennen? Veronica sterben? Das alles war eigentlich so unwahrscheinlich, das alles malte man sich doch eigentlich nicht aus, daran dachte man doch gar nicht. Aber