Nach dreizehn Jahren. Sofie Schankat. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sofie Schankat
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783748201595
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der Schule abgeholt und mit ihnen ins Freibad oder Pizza essen gefahren war, der Filme mit ihnen geschaut und ihnen vorgelesen hatte, wenn es seine Zeit zuließ, der mit ihnen gespielt und sie mit Geschichten übers Eishockey ins Bett gebracht hatte.

      Aber … das war einige Jahre her jetzt. Die Beziehung zu Markus hatte sich verändert. Er war strenger und fordernder zu Yannick geworden. Diese kumpelhaften Papa-Momente, die immer so etwas Besonderes, weil auch Seltenes gewesen waren, gab es eigentlich schon lange nicht mehr.

      Aber wir haben Eltern, die uns lieben, genug zu essen, immer saubere Kleidung, ein Dach über dem Kopf, unter dem wir es uns gemütlich und schön machen können, uns beide und unsere Fantasie und die vielen Geschichten, hatte Yannick sich und Amy immer gesagt. Es gab so viele Menschen, die das alles nicht hatten. Die noch viel ärmlicher wohnten oder gar gar keine Wohnung hatten. Die sich keine Bücher und Spielsachen und Filme leisten konnten. Die keine Eltern hatten. »Wir haben allen Grund, dankbar zu sein«, hatte er immer gesagt. Aber manchmal war das schwer. Wenn man das Gefühl hatte, immer nur alleine gelassen zu werden, nicht die Wahrheit gesagt zu bekommen, wenn da das Gefühl war, dass da irgendetwas über ihnen hing, etwas Düsteres, Trauriges.

      Der erste Tag

      Amy saß zitternd und schweißgebadet im Bett. Sie spürte, wie ihre Brust sich heftig hob und wieder senkte und wie ihr Herz raste. In ihren Ohren hallte dieses Brüllen wieder. Eine dunkle, tiefe Stimme. Was sie sagte, hatte Amy noch niemals verstanden. Es war bloß ein verschwommenes Schimpfen, aber trotzdem machte es ihr nicht weniger Angst, im Gegenteil.

      Die erste Nacht im Mariannenweg. Amy fror plötzlich, obwohl sie gleichzeitig schwitzte. Die Umrisse im Zimmer waren ihr noch nicht bekannt, nicht vertraut, sie waren keine Beruhigung und bedeuteten keine Sicherheit.

      Bin ich überhaupt zu Hause, in Sicherheit? Amy sah sich, immer noch zitternd, um. Auf der gegenüberliegenden Zimmerseite stand eine Gestalt. Ein Mann, dunkel, groß, bedrohlich, Amy konnte seine Umrisse genau erkennen. Er hatte sich aufgerichtet und die Arme ausgestreckt, eine Hand gehoben, um zu einem kräftigen Schlag auszuholen. Er keuchte und brüllte – »Nein!« Amy warf sich schreiend auf die Matratze, vergrub den Kopf in den Händen, wand sich auf der Stelle, wäre am liebsten ins Bett hineingekrochen. »Nein! Ne-ein!« Er kam auf sie zu, die Hand gehoben, bereit, zuzuschlagen, genau über ihr –

      »Amy!« Jemand packte sie.

      »Nein!« Amy zappelte hysterisch um sich, schlug mit aller Kraft und stieß gegen etwas Hartes und zugleich Weiches. Ein Mensch. Der Mann aus der Zimmerecke. »Nein, nein, lass mich, nein!«

      »Amy!« Es wurde hell und die Gestalt verwandelte sich in Yannick, der über ihr im Bett hockte und ihre Arme festhielt, damit sie ihn nicht traf. »Amy, wach auf! Du hast geträumt!«

      »Da ist einer!«, stieß Amy hervor und drückte zitternd ihren Kopf ins Kissen. »In der Ecke … ein Mann …«

      »Amy, da ist nichts! Beruhige dich doch! Da ist nichts!« Yannick strich ihr sanft über den Rücken, und ganz allmählich beruhigte Amy sich, spürte, wie sich ihr verkrampfter Körper lockerte und ihr Herz wieder langsamer schlug. »Es ist hell. Ich habe das Licht angemacht. Schau hin«, raunte Yannicks Stimme sanft.

      Amy lugte langsam über das Kissen hinweg ins fremde Zimmer hinein. Auf der gegenüberliegenden Seite standen Kartons, in drei Reihen aufeinandergestapelt. Der linke Stapel umfasste zwei Kartons mehr als der mittlere und der rechte einen weniger. Da war ihre Gestalt. Umzugskartons.

      Die Anspannung und die Angst fielen langsam von ihr ab und sie begann zu weinen. Sie tastete schluchzend nach Penny, der bei ihrer Zappelei ein Stückchen nach hinten gerutscht war. »Tut mir leid.«

      »Psst.« Yannick schloss sie in seine Arme und strich ihr übers Haar. »Du kannst doch nichts dafür! Es ist alles gut. Schscht.«

      »Ich dachte, die Umzugskartons wären ein Mann …«

      »Morgen packen wir sie alle aus«, wisperte Yannick und wiegte sie sanft in seinen Armen.

      »Hoffentlich ist Papa nicht aufgewacht«, murmelte Amy leise in sein Shirt.

      »Na, und wenn.«

      Sie löste sich etwas von ihm, um in sein Gesicht sehen zu können. In dieses freundliche Gesicht mit den dunklen Augen. »Können wir noch mal Cinderella hören?«, bat sie zaghaft.

      Yannick strich ihr über die nasse Wange. »Klar.« Er beugte sich vor zum Nachttisch, auf dem der CD-Rekorder stand, und drückte noch einmal auf Play. Dann löschte er das Licht wieder. Amy deckte sich trotz der Hitze zu, schmiegte sich an Yannick, hielt Penny von der anderen Seite im Arm und schloss erschöpft die Augen. Sie wollte sich zu Cinderella und dem Prinzen ins Schloss denken, um vielleicht doch noch einmal einzuschlafen und genau dorthin zu gleiten, ein Teil zu werden von dieser Disney-Welt, in der es außer der bösen Stiefmutter keine Gefahren gab und vor der sie auch keine Angst hatte, weil in der Disney-Welt alles stets gut ausging und sie das Ende von Cinderella auch schon kannte.

      Yannick hielt sie in seinen Armen und spürte ihr Herz immer noch sehr schnell in ihrer Brust hämmern. Es standen ihm noch deutlich die Bilder von früher vor Augen, an die er sich in aller Klarheit erinnern konnte, obwohl die meisten anderen Erinnerungen aus dieser Zeit verschwommen waren, weil er noch sehr klein gewesen war. Amy war stumm gewesen. Sie hatte in ihren ersten Lebensjahren nicht gesprochen. Hatte immer nur mit großen Augen vor sich hin gestarrt, hatte oft geweint und geschrien … Es hatte blanke Panik in ihren Augen gelegen, vor der Yannick selbst manchmal Angst gehabt hatte. Er erinnerte sich auch noch genau an ihr tägliches Gebet vor dem Zubettgehen, etwas später dann, als sie schließlich doch angefangen hatte zu sprechen: »Bitte beschütze Mama, Papa und Yannick, bitte gib, dass ihnen nichts passiert, bitte pass auf sie auf und beschütze sie, bitte mach, dass kein Mann kommt, bitte mach, dass keiner schreit und weint, bitte mach, dass keiner Angst hat und dass keinem etwas wehtut.« Diese Worte hatte sie haargenau so jeden Abend vor dem Zubettgehen gebetet. Mit zusammengepressten Händen und Augen und bebender Stimme. Ein inbrünstiges Flehen nach Schutz. Ihnen war nie etwas zugestoßen. Es war nie ein Mann gekommen. Trotzdem hatte Amy das jeden Abend gebetet, als hätte sie genau davor wahnsinnige Angst.

      Aber wenn Yannick sie in den Arm genommen hatte, sie gestreichelt, ihr etwas vorgelesen oder erzählt hatte, dann hatte sie sich beruhigt. Er hatte schon damals den heftigen Wunsch verspürt, Amy zu beschützen, sie fröhlich zu machen und ihr die Angst zu nehmen. Weil sie seine kleine Schwester war und er alles für sie sein wollte. Bereitwillig hatte er auch zwei Wochen hintereinander in Dauerschleife dasselbe Hörspiel gehört, denselben Film geschaut, wenn es Amy dadurch gutgegangen war, obwohl das oft genug eine Herausforderung für ihn gewesen war. Oft war es ja tatsächlich er gewesen, der sich um Amy kümmern musste, wo sie doch schon so früh so viel alleine gewesen waren. Er liebte sie trotz allem mehr als alles andere – wie sollte das anders sein, wo er doch im Grunde oft nur sie und sie nur ihn gehabt hatte?

      Yannick hatte absolut keine Lust auf die Tests, die zum Ende des Sommertrainings und vor dem Start des On-Ice-Trainings durchgeführt wurden. Um zu sehen, wie man sich während des Sommertrainings entwickelt hatte. Hinter seiner Stirn pochte es leicht. Er hatte eine Zeitlang wachgelegen, nachdem Amy ihn durch ihren Alptraum geweckt hatte.

      »Du bist nicht konzentriert, Yannick«, riss ihn Markus aus seinen Gedanken.

      »Ich bin konzentriert.«

      »Nein, bist du nicht. Du bist mit deinen Gedanken wieder einmal ganz woanders.«

      »Trotzdem kann ich mich konzentrieren.«

      »Na, das hoffe ich, auch wenn es nicht so wirkt.«

      Yannick verdrehte innerlich die Augen und hielt demonstrativ an einer roten Ampel. Er spürte den Blick seines Vaters genau auf sich und wusste, ohne hinzusehen, dass er kritisch war aufgrund seiner Verträumtheit. Markus war äußerst schlecht gelaunt. Du kannst hier in der ersten Liga trainieren, Papa. Aber Markus schien sich überhaupt nicht darüber zu freuen. Er hatte sich nicht einmal richtig über das Angebot gefreut. Das war so eine Sache, die Yannick dann wieder nicht verstand. Ständig so tun,