Lisa war weit fort, Lotte trotz eines neuen Netzes aus Freundschaften und Interessen einsam und Georg zog weiter von einer Affäre zur anderen.
Lisa hatte einen erheblichen Teil ihrer Ersparnisse für den Neustart in der Ferne bekommen, dennoch blieb genug Geld für Lotte übrig. In dieser Hinsicht waren sie eine funktionierende Verbindung gewesen, aus der niemand unversorgt herausging. Ihr inneres Band war jedoch auf der einen Seite gerissen und auf der anderen in endlose Länge gedehnt worden.
Lotte fühlte sich zu dieser Zeit so unglücklich, dass sie bald darauf beschloss, sich einer anderen Gemeinschaft anzuschließen. Sie gedachte, der Einsamkeit für immer ein Schnippchen zu schlagen, und so zog sie ins Seniorenheim, ins „Haus des Lebens“.
Wenn Lotte heute an Hilde, Hans und Sophie dachte, hatte sie im Nachhinein auch wirklich recht behalten, wenngleich der Weg nicht immer ein einfacher gewesen war.
Lotte hatte längst aufgehört, mit dieser Entscheidung zu hadern. Das Leben, das ihr noch blieb, war zu kurz, um immer wieder alles in Frage zu stellen.
7
An diesem Tag war Lotte mit Leopold verabredet. Sie wollten in den Tiergarten gehen und anschließend auf einen Tee im Kaiserpavillon.
Bald nach ihrer Rückkehr aus Australien hatten sie damit begonnen, sich für gemeinsame Unternehmungen zu treffen. Sie besuchten Konzerte und Ausstellungen, oder wanderten einfach nur ein wenig durch die Gegend. Leopold übernahm nun dabei ein wenig die Rolle von Miki.
Manchmal schauten sie auch bei ihrem gemeinsamen Freund Theo am Friedhof vorbei. Er war ihr Verbindungsstück. Es kam ihnen so vor, als hätte er ihre Begegnung von oben arrangiert.
Beim Willkommensfest, das ihr Hilde und Hans nach ihrer Australienreise bereitet hatten, war unter anderen auch Leopold, Mikis Opa, eingeladen. Er fragte sie damals, ob sie Lust hätte, mit ihm zu Theo rauszufahren und ein wenig über den Friedhof zu spazieren. Und ob Lotte Lust dazu hatte! So begann das damals mit ihren Verabredungen. Sie hatten viele gemeinsame Interessen. Alleine konnten sich weder Leopold noch Lotte so richtig aufraffen, aber wann immer einer von beiden eine Idee hatte, war der andere gleich dabei. So entstand diese sehr befruchtende Partnerschaft. Manchmal kamen auch Hilde und Hans mit und auch Klara und Sophie ließen sich gerne einmal anstecken von ihrem Tatendrang. Meistens jedoch zogen Leopold und Lotte zu zweit los.
Einige Wochen nach den dramatischen Ereignissen in Australien hatten sie sich ebenfalls verabredet. Der geplante Spaziergang würde für Lotte eine willkommene Abwechslung sein.
Sie ging nach dem Mittagessen auf ihr Zimmer, um sich noch ein wenig auszuruhen. Durch die Ereignisse rund um Lisa war sie ein wenig kraftlos geworden. Ihre Tochter befand sich am anderen Ende der Erde, allein mit einem bodenlosen Fass voller Sorgen, und sie saß hier und konnte nichts tun, als ab und zu über Skype tröstende Worte zu spenden. Sie kam sich in dieser Zeit als Mutter richtig ohnmächtig vor.
Lotte hatte natürlich kurz überlegt, in den nächstbesten Flieger zu steigen, um Lisa und den Kindern beizustehen, aber sie wusste auch, dass sie das ganz alleine nicht schaffen würde. Sie saß oft stundenlang da und heulte leise vor sich hin. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann sie je zuvor geweint hatte. Die Zeit mit Georg hatte sie diesbezüglich hart werden lassen.
Sie döste vor sich hin, als sie das Läuten des Telefons hochschrecken ließ. Ein hausinterner Anruf. Hans, Hilde? Die wussten doch, dass sie sich mit Leopold treffen wollte. Vielleicht hatten sie ja kurzfristig Lust bekommen, mitzugehen.
Überraschenderweise kam der Anruf aber von der Rezeption. Ein Herr würde unten auf sie warten. Das konnte eigentlich nur Leopold sein, doch er war viel zu früh dran. Na, was soll’s, dachte sich Lotte, schlüpfte in ihre Schuhe, schnappte sich Jacke und Tasche und machte sich auf den Weg nach unten.
Als sie in die Lobby kam, sah sie ihn schon von weitem. Er hatte sie noch nicht erblickt, weil er seitlich zu ihr stand. Lotte blieb wie vom Donner gerührt stehen. Sie hätte ihn unter Tausenden sofort erkannt, doch es musste ein Trugbild sein. Sie hatte in den letzten Tagen wahrscheinlich zu oft an die glücklichen Zeiten zurückgedacht, in der sie ihrer Lisa noch ein sicherer Hafen waren.
Lotte kniff die Augen zu, sie zwickte sich selbst in den Unterarm und ging ein paar Schritte vorwärts, dann drehte er sich um. Georg! Trotz des vorangeschrittenen Alters strahlte er immer noch das gewisse Etwas aus. Seine Haltung war leicht gebückt, das Haar etwas schütterer, aber er wirkte immer noch sehr stattlich.
Jetzt erblickte er Lotte. Sie sah das kurze Aufleuchten in seinen Augen, den anerkennenden Blick. Er wirkte überrascht. Aber sie wusste es auch ohne ihn, sie hatte sich ziemlich gut gehalten. Hätte sie allerdings gewusst, wer sie erwartete, hätte sie noch ein wenig Gas gegeben puncto Styling.
Seine Augen glänzten, seine Gesichtszüge waren warmherzig und weich. Er wirkte zögerlich. Man merkte ihm eine gewisse Anspannung an, er hatte ja keine Ahnung, ob ihn seine Ex-Frau davonjagen würde, oder ob sie wie Erwachsene miteinander umgehen konnten. Lotte wusste es wohl auch nicht, ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen, die Augenbrauen hochgezogen, die Stirn gerunzelt. Sie liebte solche Überraschungen ganz und gar nicht, aber was wäre gewesen, wenn er sich angekündigt hätte? Sie wäre wohl zu einem Treffen nicht bereit gewesen. Ob kindisch oder nicht, Lotte hatte mit Georg abgeschlossen, dachte sie zumindest. Die üblichen, unvermeidlichen Treffen zu etwaigen Familienfesten waren ihnen ob Lisas Abgang nach Australien ja erspart geblieben. Kurz nach der Scheidung hatten sie nur noch die eine oder andere Zusammenkunft, um letzte Formalitäten und Bankenwege zu erledigen – Ende der Geschichte. Und jetzt das!
Lotte wusste eigentlich kaum etwas von Georgs letzten Jahren, nur, dass er sich weiter um Lisa kümmerte, Anteil am Leben seiner Tochter und Enkel nahm und schon zweimal bei ihnen auf Besuch in Australien war. Was den Rest seines Lebens betraf, darüber sprachen Lisa und sie nicht.
Was wollte er hier? Es konnte sich nur um Lisa handeln, alles andere schien undenkbar.
Lotte kam es wie eine Ewigkeit vor, in der sie sich gegenseitig taxierten und nicht so recht wussten in welcher Form sie sich begrüßen sollten. Georg machte linkisch ein paar Schritte auf sie zu, streckte ihr den Arm entgegen und entschied sich dann kurzfristig zu einer behutsamen Umarmung. Als er sie berührte, durchzuckte es Lotte wie ein Blitz, er roch wie immer, er fühlte sich gut an. Georg tätschelte kurz ihren Rücken und einen Augenblick lang hielten sie sich fest. Es tat gar nicht mehr weh. Lotte war erstaunt. Mit einem Mal fiel alles von ihr ab. Sie wusste in diesem Moment, sie konnten jetzt gemeinsam Vater und Mutter sein für Lisa, sie konnte Georg wieder in die Augen schauen. Ihre eigenen Belange verloren an Bedeutung. Zu sehr war Lotte in ihrem neuen Leben gefestigt, als dass sie jemals wieder in dem alten Schmerz versinken hätte können.
„Hallo Lotte, du siehst einfach umwerfend aus“, schmeichelte er ihr. Georgs Stimme hatte nichts an Kraft eingebüßt. „Bitte sei mir nicht böse, dass ich dich hier so überfalle, aber ich hatte Sorge, du würdest einem Treffen nicht zustimmen.“ Wie recht er hatte.
Sie standen in der Aula des Seniorenheimes und wussten jetzt irgendwie nicht den richtigen