Lottes bunter Lebensherbst. Gabi Ebermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabi Ebermann
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347093829
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Geschichten rund um ihre Familie, die in den letzten Jahren so viel Betriebsamkeit mit sich gebracht hatten, dass es immer was zu tun gab für die Alten.

      Hilde, Hans, Sophie und Lotte halfen, wo auch immer Not am Mann oder der Frau war, und wenn sie ihre Köpfe zusammensteckten, lösten sie nahezu jedes Problem. Das schweißte das vierblättrige Kleeblatt fest zusammen. Wenn Lotte für irgendetwas im Seniorenheim unendliche Dankbarkeit empfand, dann für diese Freunde.

      Dass es also im Hause Hagen-Brunn bald Nachwuchs geben sollte, war wunderschön. Lotte wusste zwar noch nicht, ob Miki und Tom sich endgültig für das Geschwisterchen entscheiden würden, aber so wie sie die beiden einschätzte, hegte sie kaum einen Zweifel daran. Die Alten konnten die Bedenken der beiden Väter durchaus verstehen, aber sie waren sich auch sicher, dass sie das meistern konnten. Sie würden in ihre Aufgabe hineinwachsen, wie alle anderen Eltern auch. Mittlerweile hatten Hilde, Hans und Sophie die kleine Familie genau so liebgewonnen, wie Lotte selbst. Keiner von ihnen fand auch nur irgendetwas Ungewöhnliches daran.

      5

      Als Lotte damals von Australien zurückkam, haderte sie sehr mit ihrem Dasein im Seniorenheim. Sie freute sich zwar auf Hilde und Hans, aber während der vier Wochen im Generationenhaushalt mit Lisa und ihren Enkelkindern war ihr schmerzlich bewusst geworden, was ihr in den vergangenen Jahren so sehr gefehlt hatte: es machte Spaß, ihre Lieben zu verwöhnen. Lotte hatte es immer noch drauf, sie war ganz und gar das starke Muttertier und Lisa dankbar dafür, dass sie endlich einmal das Zepter aus der Hand geben durfte und wieder ein ganz klein wenig das Kind von früher sein durfte. Sie musste sich als selbständige Frau, Mutter und Ärztin und, wie Lotte schon damals heimlich vermutete, als alleiniges Oberhaupt der Familie beweisen. Jimmy schien eher ein drittes Kind, als ein kongenialer Partner für seine Frau zu sein. Lotte entging das nicht, aber sie wollte sich nicht in deren Ehe einmischen, schließlich ging das nur die beiden etwas an. Sie sorgte sich um Lisa, sie war viel zu blass um die Nase, fast durchsichtig und schien mit dem Haushalt, den Kindern und ihrem verantwortungsvollen Beruf am Rande ihrer Schaffenskraft zu stehen. Umso mehr freute es Lotte, wenn sie sich in diesen Tagen einbringen konnte, um ihre Tochter ein wenig zu entlasten. Lisa bemühte sich im Ausgleich dazu, ihrer Mutter einen unvergesslich schönen Aufenthalt zu bereiten. Sie organisierte Ausflüge, lud Freunde ein, ging mit ihr in die Oper und zum Shoppen. Sie alberten miteinander herum wie zwei alte Freundinnen und taten einander uneingeschränkt gut, die Gedanken um die baldige erneute Trennung schoben sie weit von sich. Lotte wollte die Zeit so intensiv wie möglich mit ihrer Familie verbringen. Natürlich interessierte sie sich auch für das Land, das jetzt Lisas neue Heimat geworden war, aber das hatte keine Priorität. Man hätte sie vier Wochen mit Lisa und den Kindern ins Haus sperren können, es wäre ihr auch recht gewesen. Sie sog jedes Wort und jede Bewegung in sich auf, um es für immer in ihrem Herzen festzuhalten. Lotte war sich ganz sicher, wenn sie irgendwann ihre Augen schloss, würde sie Lisa und die Kinder vor sich sehen, riechen und sanft berühren können. Damals schon kam Jim in diesen Gedanken nicht vor. Das fiel Lotte aber erst viel später auf.

      Einige Wochen nachdem Lotte aus Australien zurück war und sie sich wieder an das Leben im Heim gewöhnt hatte, geriet ihr Leben plötzlich völlig aus den Fugen. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag oder besser gesagt die Nacht, in der sie sich so hilflos und unvermögend wie nie zuvor im Leben fühlte.

      Zunächst hatte sie das Klingeln ihrer „Liste“ – so nannte Lotte ihr iPad immer noch – nachts hochgeschreckt. Sie hatte sich ein wenig früher hingelegt und schon tief und fest geschlafen. Sie konnte sich zuerst gar nicht richtig orientieren. Es war absolut ungewöhnlich, dass Lisa sie um diese Zeit anrief, auch wenn es in Australien natürlich erst Mittag war. Lotte rappelte sich hoch und holte die Liste. Ebenso wie die bedeutungsvolle Bezeichnung für das Tablet, hatte sich in all den Jahren auch der Aufbewahrungsort nicht geändert: ihre Unterwäschelade. Als die Dämpfung durch BHs und Unterhosen wegfiel, wurde das Klingeln laut und eindringlich.

      Sie klappte die Hülle weg und hob ab. „Lisa? Du? Um diese Zeit?“ Lotte rubbelte ihre Augen, um sicher zu gehen, dass sie nicht träumte. Und dann, mit einem Schlag war sie hellwach.

      „Mami!“ Lisa weinte und ihre Stimme war ganz dünn. „Mami“, schluchzte sie erneut, „es ist etwas Schreckliches passiert“. Lotte war starr vor Sorge und Hilflosigkeit. Ein kalter Schauer rieselte ihr den Rücken hinunter.

      „Bitte beruhige dich doch! Ist was mit den Kindern?“ Lisa brachte die Worte kaum über die Lippen und die schlechte Verbindung trug auch nicht gerade dazu bei, dass Lotte Klarheit bekam. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, in der Lotte beim Anblick ihrer verzweifelten Tochter fast das Herz brach. Jimmy war tot! Tot? Nein, das konnte nicht sein. Sie hatte doch noch ganz deutlich das lebendige Bild ihrer Familie vor sich, als sie ihr zum Abschied zuwinkte, und da gehörte Jim nun einmal eindeutig dazu. Tot? Lisa wirkte jetzt ein wenig gefasster, die Worte waren ausgesprochen. Sie entschuldigte sich bei ihrer Mutter, sie so spät in der Nacht mit dieser furchtbaren Nachricht zu überfallen.

      „Aber ich konnte einfach nicht anders, Mami.“ Sie musste in dieser schweren Stunde mit dem wichtigsten Menschen auf der Welt sprechen, um Trost und Halt zu finden.

      Jimmy war früh morgens mit dem Auto losgefahren und gegen irgendein Tunnelportal geprallt. Zwei Polizisten hatten ihr vor einer Stunde die traurige Nachricht überbracht. William und Aaron waren noch in der Schule und Lisa hatte einfach nur reglos dagesessen und ihren Tränen freien Lauf gelassen. Sie hatte lange überlegt, ob sie ihre alte Mutter so spät noch anrufen sollte, oder nicht, aber sie konnte nicht anders. Sie hatte noch die schwere Aufgabe vor sich, es den Kindern zu sagen und davor musste sie unbedingt selbst ihre Fassung zurückgewinnen. Lisa wusste, dass Lotte eine unheimlich starke Person war und sie brauchte jetzt ihre Mutter wie nie zu vor, auch wenn sie sich Tausende Kilometer weit entfernt befand. Lotte wäre am liebsten durch den Bildschirm ans andere Ende der Welt gekrochen, hätte Lisa in den Arm genommen und wie ein kleines Kind gewiegt. Wie konnte das geschehen, wie konnte das ihrem kleinen Mädchen nur passieren und wie sollte es jetzt weitergehen?

      Dann brach es aus Lisa heraus, wie ein Wasserfall aus einer engen Felsspalte, der unaufhaltsam talwärts drängte.

      Lisa und Jim hatten schon seit vielen Jahren ernsthafte Schwierigkeiten gehabt. Lotte ahnte schon lange, dass die beiden nicht uneingeschränkt glücklich waren miteinander, aber in welcher Ehe herrschte schon immer nur Sonnenschein? Die Herausforderungen, vor die einem das Leben so stellte, waren eben nicht immer einfach zu bewältigen und dass es in einer Beziehung Höhen und Tiefen gab, wusste Lotte ja aus eigener Erfahrung wohl am besten. Den Partner nicht zu vernachlässigen, wenn sich alles um die Kinder drehte, war ohnehin schwierig genug. Dass die beiden aber mit einem viel größeren Problem zu kämpfen hatten, schockierte Lotte zutiefst. Ihr Schwiegersohn war spielsüchtig gewesen! Das erklärte so Einiges! Daher auch die ewige Geldknappheit.

      Lotte erfuhr jetzt die ganze Wahrheit. Jim hätte die ganze Familie fast in den Ruin getrieben. Er hatte seinen Job verloren und das lange Zeit vor Lisa verheimlicht. Er verließ jeden Morgen pünktlich das Haus und kam nachmittags wieder zurück. Über Monate war ihm diese Inszenierung perfekt gelungen, bis seine Ehefrau zufällig einen Kollegen von ihm traf, der sich nach ihm erkundigte und ihn lieb grüßen ließ. Lisas Enttäuschung und Zorn darüber, dass Jimmy sich ihr nicht anvertraut hatte, um gemeinsam nach einer Lösung zu suchen, war grenzenlos. Sie hatte ihm damals eine entsetzliche Szene gemacht, nach der er wortlos ging und tagelange verschwunden blieb. Lisa wollte sich vor William und Aaron nichts anmerken lassen, aber die beiden bemerkten natürlich, dass ihre Mutter ziemlich von der Rolle war. Sie erfand ein Seminar, an dem ihr Vater unvorhergesehen hatte teilnehmen müssen und hoffte, dass Jim bald wieder zu Sinnen kommen würde. Er schuldete ihr schließlich mehr als eine Erklärung. Als ihr Ehemann dann drei Tage später vor der Tür stand, grau und unrasiert, ließ sie ihn kommentarlos hinein.

      Und dann brach alles aus ihm heraus und sie hörte einfach nur zu. Ihr bisheriges Leben schien eine einzige Lüge zu sein, es fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Sie hatte die Probleme ihres Mannes nicht erkannt oder besser gesagt, verdrängt. Hatten sie sich schon so weit voneinander entfernt? Wie konnte das geschehen? Sie waren doch einmal eine ganz normale kleine Familie gewesen.

      Jimmy weinte wie ein kleines Kind und