Wenn in den bereits geschilderten beiden Betrachtungsweisen einerseits das Einzelne - Hegel meint offenbar die Beobachtung - und andererseits das Allgemeine - gemeint sind offenbar die begrifflichen Konstruktionen der rationalen Psychologie - als etwas für sich Festes angenommen worden sei, so würden, Hegel zufolge, der empirischen Psychologie auch die Besonderungen, in die, ihr zufolge, der Geist zerfällt, als in ihrer Beschränktheit starre gelten. Dadurch würde der Geist zu einem bloßen Aggregat von selbständigen Kräften werden, von denen jede mit der anderen nur in einer Wechselwirkung, somit in einer nur äußerlichen Beziehung steht. Denn obwohl diese Psychologie auch die Forderung erhebe, dass zwischen den verschiedenen Geisteskräften31 sich ein harmonischer Zusammenhang einstellt - ein nach Hegel häufig geäußertes, unbestimmtes Schlagwort -, so sei damit nur eine Einheit, die sein soll, nicht aber die ursprüngliche Einheit des Geistes ausgesprochen. Noch weniger sei aber die Besonderung, zu der der Begriff des Geistes, der seine an sich seiende Einheit darstellt, fortgeht, als eine notwendige und vernünftige erkannt. Jener harmonische Zusammenhang bleibe daher eine leere Vorstellung, die sich in nichts sagenden Redensarten verbreitend, nicht als eine Macht über die als selbständig vorausgesetzten Geisteskräfte angesehen werden könne.
Anstoß zum spekulativen Denken
Das Selbstgefühl von der lebendigen Einheit des Geistes setze sich, wie Hegel nach dem Zusatz ausführt, von selbst gegen die Zersplitterung des Geistes in die verschiedenen, Vermögen, Kräfte oder Tätigkeiten, die man sich als gegeneinander selbständig vorstelle, durch.32 Noch mehr aber würden die sich sogleich darbietenden Gegensätze zwischen der Freiheit des Geistes einerseits und seiner Determiniertheit andererseits, ferner zwischen der freien Wirksamkeit der Seele einerseits und ihrer äußerlichen Leiblichkeit andererseits sowie auch der innige Zusammenhang beider, das Bedürfnis wecken, hier zum Begreifen zu schreiten. Insbesondere hätten die Erscheinungen des animalischen Magnetismus33 in neueren Zeiten auch in der Erfahrung die substanzielle Einheit der Seele und die Macht ihrer Idealität zur Anschauung gebracht, wodurch alle festen Unterschiede, die der Verstand trifft, in Frage stünden, so dass eine spekulative Betrachtung zur Lösung der Widersprüche geboten sei.
Alle in den oben aufgeführten endlichen Auffassungen des Geistes seien, wie Hegel hierzu in seinem Zusatz erläutert, verdrängt worden, und zwar teils durch die ungeheure Umgestaltung, die die Philosophie in neuerer Zeit erfahren habe, und teils, von der empirischen Seite aus betrachtet, durch die Erscheinungen des animalischen Magnetismus, die das endliche Denken herausgefordert hätten. 34 Was die Umgestaltung der Philosophie betrifft, so habe diese die endliche Betrachtungsweise des nur reflektierenden Denkens zur Auffassung des Geistes als der für sich selbst wissenden wirklichen Idee, also zum Begriff des lebendigen Geistes, erhoben, der sich auf notwendige Weise in sich selbst unterscheidet (differenziert, d. Verf.) und aus seinen Unterschieden zur Einheit mit sich zurückkehrt. 35 Damit seien aber nicht bloß die in jenen endlichen Auffassungen des Geistes herrschenden Abstraktionen des nur Einzelnen, nur Besonderen und nur Allgemeinen überwunden und zu Momenten des Begriffs (des Geistes, d. Verf.), der ihre Wahrheit sei, herabgesetzt worden, sondern es sei auch, statt einer äußerlichen Beschreibung des vorgefundenen Stoffs, die strenge Form des sich selbst mit Notwendigkeit entwickelnden Inhalts als die allein wissenschaftliche Methode zur Geltung gebracht worden.36 Werde in den empirischen Wissenschaften der Stoff als ein durch die Erfahrung gegebener, von außen aufgenommener und nach einer bereits feststehenden allgemeinen Regel geordnet und in einen äußerlichen Zusammenhang gebracht, so habe dagegen das spekulative Denken jeden seiner Gegenstände und die Entwicklung derselben in ihrer absoluten Notwendigkeit zu zeigen. Dies geschehe dadurch, dass jeder besondere Begriff aus dem sich selbst hervorbringenden und verwirklichenden allgemeinen Begriff oder der logischen Idee abgeleitet wird.37 Die Philosophie müsse daher den Geist als eine notwendige Entwicklung der ewigen Idee begreifen und dasjenige, was die besonderen Teile der Wissenschaft vom Geist ausmacht, rein aus dem Begriff desselben sich entfalten lassen.38 Wie bei dem Lebendigen überhaupt auf ideelle Weise alles schon im Keim enthalten sei und von diesem selbst und nicht von einer fremden Macht hervorgebracht werde, so müssten auch alle besonderen Formen des lebendigen Geistes (z. B. Verfassungen und Gesetze, d. Verf.) aus seinem Begriff als ihrem Keim sich hervor treiben. Unser vom Begriff bewegtes Denken bleibe dabei dem ebenfalls vom Begriff bewegten Gegenstand durchaus immanent.39 Wir würden der eigenen Entwicklung des Gegenstandes gleichsam nur zusehen und sie nicht durch Einmischung unserer subjektiven Vorstellungen und Einfälle verändern. Der Begriff bedürfe zu seiner Verwirklichung keines äußeren Antriebs. Seine eigene Natur, die den Widerspruch der Einfachheit und des Unterschieds in sich schließe und deswegen unruhig sei, treibe ihn dazu, sich zu verwirklichen, nämlich den in ihm selbst nur auf ideelle Weise, d. h. in der widersprechenden Form der Unterschiedslosigkeit vorhandenen Unterschied zu einem wirklichen Unterschied zu entfalten. Durch diese Aufhebung seiner Einfachheit als eines Mangels, einer Einseitigkeit, mache er sich wirklich zu dem Ganzen, von dem er zunächst nur die Möglichkeit enthalte.40
Nicht weniger als beim Beginn und Fortgang seiner Entwicklung sei, so Hegel, der Begriff bei ihrem Abschluss von unserer Willkür unabhängig. Bei der nur “räsonierenden Betrachtungsweise“ (ders.) erscheine der Abschluss allerdings mehr oder weniger willkürlich. In der philosophischen Wissenschaft dagegen setze der Begriff selber seiner Entwicklung dadurch eine Grenze, dass er sich eine Wirklichkeit gibt, die ihm völlig entspricht. 41 Schon am Lebendigen sei diese Selbstbegrenzung des Begriffs sichtbar. So schließe der Keim der Pflanze - dieser sinnlich vorhandene Begriff - seine Entfaltung mit einer ihm entsprechenden Wirklichkeit, also mit der Hervorbringung des (neuen) Samens ab. Das gleiche gelte vom Geist; auch seine Entwicklung habe ihr Ziel erreicht, wenn sein Begriff sich vollkommen verwirklicht hat, oder, was dasselbe sei, wenn der Geist zum vollkommenen Bewusstseins seines Begriffs gekommen ist.42 Dieser Vorgang, in dem sich der Anfang mit dem Ende zu einem Eins zusammenziehe, diese Verwirklichung des Begriffs, in der dieser zu sich selber komme, erscheine aber im Geiste in einer Gestalt, die noch vollendeter sei als beim bloß Lebendigen. Denn während beim Lebendigen (z. B. einer Pflanze, d. Verf.) der hervorgebrachte Samen nicht derselbe sei mit dem, von dem er hervorgebracht worden ist, sei in dem sich selbst erkennenden Geist das, was er hervorbringt, ein und dasselbe mit dem Hervorbringenden.43
Nur wenn man den Geist in dem Prozess der Selbstverwirklichung seines Begriffs betrachtet, würde man ihn in seiner Wahrheit erkennen; denn Wahrheit heiße eben Übereinstimmung des Begriffs mit seiner Wirklichkeit. In seiner Unmittelbarkeit (z. B. bei einem Kleinkind, d. Verf.) sei der Geist noch nicht wahr, habe seinen Begriff noch nicht gegenständlich gemacht, habe das in ihm auf unmittelbare Weise Vorhandene noch nicht zu einem von ihm Gesetzten umgestaltet, seine Wirklichkeit noch nicht zu einer seinem Begriff gemäßen umgebildet. Die ganze Entwicklung des Geistes bestünde in nichts anderem als darin, sich zu seiner Wahrheit zu erheben, und die so genannten Seelenkräfte hätten keinen anderen Sinn als den, die Stufen dieser Erhebung zu sein. Dadurch, dass der Geist sich selbst unterscheidet (oder sich differenziert, d. Verf.), sich selbst umgestaltet und seine Unterschiede zur Einheit seines Begriffs zurückführt, sei er ein Wahres, ein Lebendiges, Organisches und Systematisches.44 Nur indem die Wissenschaft vom Geist diese seine Natur erkennt, sei sie ebenfalls wahr, lebendig, organisch und systematisch. Dies seien Prädikate, die weder der rationalen noch der empirischen Psychologie zuerkannt werden könnten, weil jene, also die rationale Psychologie, den Geist zu einem von seiner Verwirklichung abgeschiedenen, toten Wesen mache und diese, also die empirische Psychologie, den lebendigen Geist dadurch abtöte, dass sie ihn auseinander reißt in eine Mannigfaltigkeit selbständiger Kräfte, die nicht vom Begriff hervorgebracht und zusammengehalten werden.