Sarah fühlte sich wie eine Versagerin. Dabei hatte sie exakt nach den Verordnungen gehandelt und wollte nur das Beste für ihre Patientin. Fabienne zuckte die Schultern. An ihr perlten solche Vorwürfe offenbar wie Regen ab.
Einmal mehr war Sarah über die Zielstrebigkeit ihrer Vorgesetzten erstaunt. Die hagere Abteilungsschwester sprach die meiste Zeit eher leise und in freundlichem Ton, der nichts von dieser, beinahe an Kompromisslosigkeit grenzenden Eigenschaft erahnen ließ. Wenn sie sich allerdings ordentlich aufregte, konnte sie bedeutend lauter werden. Ihre Autorität wurde von allen Krankenschwestern respektiert. Die Lernschwestern zitterten manchmal vor ihr oder standen wie das Kaninchen vor der Schlange. Regulas fachliches Wissen stand außer Frage. Lediglich ihre menschlichen, psychologischen Fähigkeiten waren deutlich weniger ausgeprägt. Sie war launisch, hatte Tage, an denen sie ausgesprochen freundlich war und andere, an denen sie kauzig wirkte. Schnell hatte sich auch herumgesprochen, dass sie freiwillig beim Militär war, was ihr den Spitznamen General einbrachte. Trotz allem war Schwester Regula recht beliebt. Meist bevorzugte sie niemanden und ließ die Lernschwestern selbständig arbeiten. Manchmal, falls Regula von ihren Fähigkeiten überzeugt war, durften sie auch Dinge tun, welche nach den strengen Schulungsrichtlinien verboten waren. Nach so vielen Jahren im Beruf erlaubte sie sich kleine Eigenmächtigkeiten.
In der folgenden Stunde besserten Célines Schmerzen kein bisschen. ‚Schwester Regula hat also doch recht behalten‘, dachte Sarah. Durfte sie jetzt schon das stärkere Mittel abgeben? Alle diplomierten Schwestern, die Sarah hätte fragen können, waren abwesend oder beschäftigt. Sie fühlte sich unwohl und mit der Situation überfordert, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als im Stationszimmer zu warten.
Plötzlich tauchte der Anästhesiearzt Kramer auf. Sarah erblickte ihn auf dem Gang. Er sprach mit Fabienne, und Sarah trat hinzu. Kramers Blick – seine sonst sehr wachen Augen – stimmten Sarah hinsichtlich ihres Anliegens allerdings nicht gerade optimistisch. Er wirkte verändert. Der Arzt wusste nicht recht, wohin er schauen sollte.
„Nun, bei Frau Jaquet tanzt im Moment nur der Schmerz, und zwar ein regelrechtes Furioso. Wir müssen diese Vorstellung beenden oder zumindest eine andere Gangart einschalten“, begann er umständlich.
„Ja, wie machen wir das? Das Mezalgin hat nichts genützt.“
Der Anästhesiearzt wirkte verlegen, er wusste offenbar nicht genau, was er hier tun sollte. Um Zeit zu gewinnen, räusperte er sich.
Plötzlich kam auch Heidi dazu, blieb stehen und hörte ebenfalls zu. Der Anästhesist erklärte wortreich den Verlauf nach solchen Knieoperationen, als verfügte er über sehr viel Erfahrung auf diesem Gebiet. Anfänglich zweifelte Sarah etwas an seiner Glaubwürdigkeit, doch sie fand es ausgesprochen nett, dass er ihr und ihrer Kollegin alles so ausführlich erklärte.
„Gut, und was machen wir jetzt?“, wollte Sarah wissen.
„Eine halbe Ampulle Dolofug, aber wirklich nur eine halbe Ampulle. Unsere Ballerina ist ein Leichtgewicht, da genügt diese Dosis völlig, sonst droht ihr Bewusstsein einen Spagat zu machen. Schließlich ist das ein Morphinderivat“, erklärte Kramer entschlossen und verabschiedete sich.
Diese Verordnung klang nun wieder überzeugender, und Sarah war erleichtert, denn nun wusste sie, was zu tun war.
„Netter Arzt, das findest du doch sicher auch, nicht wahr?“, fragte Heidi und lächelte künstlich.
„Ja, aber ich habe jetzt zu tun“, entgegnete Sarah und begab sich entschlossen ins Stationszimmer, damit niemand sehen konnte, dass sie leicht errötete. Dort begegnete sie Schwester Regula, die von ihrem Rapport zurückgekehrt war. Sie schien den Verlauf zu ahnen.
„Na, ist ihre Patientin schmerzfrei geworden mit den fünf Milligramm Mezalgin?“, fragte sie scheinheilig und betonte die fünf Milligramm über Gebühr.
„Nein, sie hatten recht. Die Schmerzen sind unverändert. Wir müssen jetzt eine halbe Ampulle Dolofug verabreichen.“
„Sehen Sie, hab ich Ihnen ja gleich gesagt.“
„Warten Sie einen Moment“, fügte die Abteilungsschwester geheimnisvoll hinzu und zog Sarah am Arm in den hintersten Teil des Stationszimmers. Unterwegs rief sie Fabienne. Regula schaute sich um, schließlich beugte sich etwas vor und kam Sarah noch näher. Eine solche Nähe war Sarah von ihrer sonst so distanzierten Vorgesetzten nicht gewohnt.
Geheimnisvoll und noch leiser als sonst sprach sie: „Eine halbe Ampulle ist hier viel zu wenig, das nützt rein nichts, glauben Sie mir das. Sonst erleben wir nochmals das Gleiche wie zuvor mit den fünf Milligramm Mezalgin. Das haben Sie doch eben gesehen. Schwester Sarah, Sie werden jetzt zusammen mit Schwester Fabienne die ganze Ampulle Dolofug verabreichen.“
„Aber der Arzt hat ausdrücklich eine halbe Ampulle verordnet“, widersprach Sarah. Nie hätte sie daran gedacht, dass jemand von ihr verlangte, eine ärztliche Verordnung nicht einzuhalten.
„Ach, was wissen diese grünen Assistenzärzte schon! Die meinen es ja gut, aber ihnen fehlt nun mal die Erfahrung. Die haben immer nur Theorie gebüffelt. In der Praxis sieht eben alles ganz anders aus, und ich bin nun wirklich schon lange in der Chirurgie. Glauben Sie mir das. Wir machen doch keine halben Sachen. Oder wollen Sie, dass Céline Jaquet weiter leidet?“
Dieses Argument saß. Sarah nickte, aber wohl war ihr nicht. Den schriftlich fixierten Verordnungen ihres Arztes, den sie mittlerweile etwas bewunderte, wollte sie nicht zuwiderhandeln. Beides zusammen war jedoch unmöglich.
Schwester Regula hatte das Zimmer inzwischen siegessicher verlassen.
Sarah schaute ihre Kollegin an und niemand sagte vorerst etwas. Offenbar war auch Fabienne sprachlos.
„So etwas habe ich noch nie erlebt“, entrüstete sich Sarah. „Da wird eine halbe Ampulle verordnet, und nun sollen wir eine ganze spritzen. Das geht doch nicht. Fabienne, ich möchte diese Spritze nicht machen.“
„Ja, du kennst ja unsere Regula, sie hat da manchmal so ihre eigenen Gesetze. Sie erstaunt uns doch immer wieder aufs Neue. Aber weißt du, Erfahrung hat sie ja nun wirklich eine ganze Menge. Die kann das schon richtig beurteilen. Zudem, alle Patienten erhalten bei stärkeren Schmerzen nach der Operation eine ganze Ampulle. Ich habe bisher noch nie gesehen, dass nur eine halbe verschrieben wurde. Wir können unserer Abteilungsschwester vertrauen. Sie ist ja schließlich unsere direkte Vorgesetzte, nicht der Arzt“, besänftigte Fabienne.
Sarah hatte den Eindruck, dass auch Fabienne nicht restlos überzeugt war, doch es schien sie nicht zu bedrücken. Sarah konnte dem Argument vom Verstand her zwar folgen, doch ihr Herz widersprach heftig. Innerlich war sie nach diesem Gespräch noch mehr zerrissen.
„Wenn du willst, mache ich die Injektion“, bot Fabienne an, und Sarah war ihrer Freundin dankbar für den Vorschlag.
Nach der Spritze mit der vollen Dosis Dolofug besserte sich Célines Zustand rasch. Schon bald war sie nahezu schmerzfrei und schlief ein.
Schwester Regula war zufrieden.
„Ach wie schön, dass Frau Céline Jaquet nun ein bisschen schlafen kann. Sie hat es ja so verdient, das gute Kind“, fügte sie im Ton einer Märchentante hinzu.
Doch in Sarahs Ohren klang es unecht.
Die traute, märchenhafte Stimmung auf der Abteilung währte allerdings nicht lange. Regula hatte den Anästhesiearzt auf dem Gang entdeckt.
„Was macht denn der schon wieder hier? Ein Anästhesist, der mehrmals täglich auf Postmedikations-Visite vorbei kommt, das habe ich auch noch nie erlebt.“
Das Lachen des Alptraumchirurgen
Der Tag war besonders streng. Nichts lief nach Plan, und andauernd