Mähling trat ans Fenster. Es nieselte leicht. In der Kälte würde die Feuchtigkeit bald auf der Straße gefrieren. Ein früher Winter in diesem Jahr.
1985 – der Herbst mit Horweg lag nur zwei Jahre zurück, und doch schien ihm unendlich viel Zeit vergangen.
Anfangs, nachdem die Firma gerettet war, hatte er den Drang verspürt, seiner Frau eine Freude zu machen. Sie wäre gern weggezogen. Nach Frankfurt vielleicht, da fühlte sie sich wohl, Fulda war ihr zu klein, zu bischöflich, schlicht zu langweilig.
Aber ein Ortswechsel kam nicht in Frage. Die Nähe zur Grenze bedeutete einen Standortvorteil für ihn und Horweg. Er, Mähling, kümmerte sich um die Fälschungen. Maximal vier pro Jahr. So ein Gemälde oder eine Zeichnung war ja keine Massenware. Die Zwischengrößen drüben sollten sich gebauchpinselt fühlen. Es wäre kontraproduktiv, wenn zu viele von ihnen in kurzer Zeit mit Kunst abgespeist würden.
Mähling hatte die zusätzlichen Finanzen behutsam in die Papierfabrik umgeleitet und auch den Nonnen etwas davon abgegeben. Wenn er es recht bedachte, blieb ihm persönlich gar nicht so viel. Immerhin musste er noch van Cuun bezahlen. Er hoffte, in nicht allzu ferner Zukunft den Strom an neuen Bildern versickern lassen zu können. Eine Laune des Künstlers vorschützen – das ginge.
Die DDR 1987 war nicht mehr die von 1985. Die alten Tattergreise an der Regierung wurden immer seniler. Nur eine Frage der Zeit, wann Minister Rauchfuß ins Stolpern geriet. Die hatten drüben einen Minister für Materialwirtschaft nötig. Das musste man sich mal vorstellen! Mähling konnte darüber nur lächeln. Und nicht genug Papier im Land. Was für ein armseliger Staat!
Bei seinem letzten Besuch vor einigen Wochen hatte Horweg ihm zu verstehen gegeben, dass er es nicht für sinnvoll hielte, wenn Mähling ohne Not aus ihrem gemeinsamen Geschäft ausstiege. Mähling war klug genug zu erkennen, dass Horweg in der Klemme steckte. Horweg war jemand, der Probleme unkonventionell löste. Dabei mochte es Kollateralschäden geben.
Sei’s drum, Mähling würde weitermachen. Für eine Weile. Er würde die Intervalle unmerklich verlängern. Nicht mehr vier Bilder im Jahr, höchstens drei. Eines vor Weihnachten und eins im Frühling.
Dann würde man sehen.
*
9.
Die Schlüssel steckten von außen. Katinka stieß die Tür zu 201 auf. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Ein Waschbecken. Der alte Parkettboden knarrte bei jedem Schritt.
Sie warf ihre Sachen auf das Bett. Öffnete das Fenster, gegen altmodische Stores kämpfend. Von hier blickte sie direkt auf die Zufahrtsstraße, über die sie und Anja vor zwei Stunden gekommen waren. Rechts lag der Wald, ungewohnt nah. Bis auf die vielen Autos auf der Wiese wirkte die Gegend tatsächlich völlig verlassen. Sie schoss ein Foto und schickte es an Hardo. »Bin in der tiefsten Pampa gelandet«, schrieb sie dazu. Vielleicht vermochte ein wenig Flapsigkeit ihm wenigstens ein Lächeln zu entlocken.
WC und Duschen lagen anscheinend auf dem Gang. Nicht der neueste Standard, aber für eine Übernachtung durchaus auszuhalten. Katinka schleppte Anjas Reisetasche zu Nr. 202. Von hier blickte man in den Innenhof. Sie lehnte sich aus dem Fenster und hielt nach Anja Ausschau. Die stand etwas abseits, hielt Martin am Arm und redete wie ein Wasserfall auf ihn ein. Ab und zu ließ sich Martin zu einem Schulterzucken oder einer hilflosen Geste hinreißen. Tobias Gebsen in seiner Motorradkluft trat auf den Hof, blickte sich suchend um. Offensichtlich suchte er nach Anja, denn als er sie gesehen hatte, ging er demonstrativ ein paar Schritte in die andere Richtung, behielt Anja aber im Blick. Wie viele Liebeleien mochten sich in einem solchen Internat voller Jungen und Mädchen und zusätzlich recht jungem Personal abgespielt haben? Umso mehr in den 80ern, als Hits wie Madonnas »Like a Virgin« viral gingen. Nichts Besonderes aus heutiger Sicht, vordem eine Provokation.
Unten umkreiste Gebsen Anja und Martin wie ein hungriger Hai. Katinka musste schmunzeln.
Carola Süderbeck kam auf ihren Mann zu, an jeder Hand ein Mädchen. Linda und Delia, dachte Katinka, klingt wie in einem Liebesroman. Martin entdeckte seine Familie und hob grüßend die Hand. Die Mädchen stürmten auf ihren Vater zu. Anja schien erst einmal abgeschrieben. Sie trat lächelnd beiseite, doch ihre Mimik konnte nicht verbergen, dass das Gespräch gestört worden war und Anja dies nicht gefiel. Martin offenbar auch nicht. Oje, dachte Katinka. Alte Liebe rostet nicht. Wenn das stimmt …
Tobias Gebsen vermutete, dass seine Chance gekommen war. Er nahm zwei Gläser vom Tisch und ging schnurstracks auf Anja zu, die neben den Süderbecks stand und nicht wusste, wohin mit sich.
Vom Haus näherte sich Schwester Gertrudis. Sie trug ein Tablett mit Knabbereien vor sich her, sehr vorsichtig. Gerade als Gebsen an einem Grüppchen Frauen vorbeinavigierte, kreuzte sie seinen Weg. Um ein Haar hätte er das Tablett aus den Armen der Nonne gefegt.
Katinka schloss das Fenster, verließ das Zimmer und sperrte von außen ab. Beide Schlüssel in den Jeanstaschen, lief sie die Treppe hinunter ins Freie. Sie wollte die Begrüßung zwischen Anja und Tobias Gebsen mitbekommen. Der ehemalige Zivi jedoch war noch ins Gespräch mit Schwester Gertrudis vertieft.
»Nein, ich habe keine Stunde bereut, die ich hier oben verbracht habe«, hörte sie ihn sagen.
Die Stimme der Nonne war zu leise, als dass Katinka sie verstehen konnte.
Tobias fühlte sich anscheinend bemüßigt, die Schwester zu beruhigen. »Nein, das wäre viel zu kurz gedacht …«
Gertrudis unterbrach ihn. Er musste sich zu ihr hinunterbeugen, um sie zu verstehen. Katinka tänzelte um ein paar Grüppchen herum, kam näher heran.
»Dass du ausgerechnet in diesem traurigen Jahr bei uns sein musstest. Ich meine, wir wussten alle, was das Mädchen dir bedeutete«, unterbrach Gertrudis.
Schon wieder die Liebe, seufzte Katinka innerlich. Kein Wunder, diese Einöde verlangte geradezu nach Abwechslung. Und die Nonne schien wahrhaftig kein so schlechtes Gedächtnis zu haben, wenn sie die entscheidenden Daten im Kopf hatte.
»Schwester, das ist lange her. Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Sie entschuldigen?« Geschickt wich Tobias Gertrudis aus, die ihm erneut den Weg verstellen wollte, sah sich kurz um und eilte dann mit Riesenschritten auf Anja zu.
»Es gibt gleich einen Imbiss«, rief Gertrudis ihm nach.
Anja lachte erstaunt auf, als Gebsen vor ihr stand und sie umarmte. Ebenso linkisch wie Martin Süderbeck zuvor.
Katinka bediente sich an den Knabbereien und ging auf Horchposten hinter drei Frauen, die sich angeregt unterhielten. Ein paar Angestellte trugen Tabletts mit Speisen in den Innenhof und richteten die Platten auf den Biertischen an.
»Dass du hergekommen bist!«, rief Tobias. »Wahnsinn!«
»Du bist ja auch hier!«
»Bei mir ist das was anderes. Ich wohne nicht weit. Und nach allem, was war …«
»Ja! Nach allem, was war.« Anjas Stimme klang scharf und ablehnend.
»Unterstellungen halten sich anscheinend ein halbes Leben lang«, ging Tobias auf Abwehr.
»Ich unterstelle nichts. Ich weiß nur, dass Kirsten todtraurig war wegen dir.«
»Verdammt, wir waren 19, Anja! Hast du geglaubt, dass wir heiraten würden? Mit dir und Martin war es wenig später auch aus.«
»Nach dieser Sache – das war so ein Schock! Ich wollte einfach mit niemandem aus dem Internat mehr etwas zu tun haben.«
»Martin war garantiert nicht verwickelt. Der war zur fraglichen Zeit in der Schule. Nur du bist irgendwo rumgestromert.«
»Ich war mit dem Rad unterwegs, von Mellrichstadt hierher!«
»Nichts für ungut, ich sollte nicht den Zyniker geben.« Tobias Gebsen hob die Arme. »Vergiss es, Anja. Ich habe mich gefreut, dass wir