Ist da draußen jemand?
Sie nimmt ein leises Knacken wahr, ein Geräusch, das wie Schritte klingt. Ein rhythmisches, dumpfes Stampfen. Es wird von Mal zu Mal lauter.
Tina mobilisiert ihre letzten Kräfte und öffnet den Mund. »Hilfe! Ich bin hier! Ich bin eingesperrt! Hil-fe. Hi-f-e.« Mehrfach versagt ihre Stimme, doch krächzend schreit sie weiter. Wer immer da draußen ist, er muss sie einfach hören.
Tina lauscht. Ein Schaben, etwas kratzt über Holz. Es klingt ganz nah. Als wäre jemand an der Tür zu ihrem Gefängnis.
Tinas Herz macht einen Sprung. »Hal-lo!«, keucht sie. »Ich bin hier dri-nnen!«
Ein weiteres Schaben ertönt, gefolgt von einem lauten Klacken wie von einem Riegel, der zurückgezogen wird.
»Ja! Bitte holt mich raus. Jochen? Bist du das?«
Die Tür öffnet sich, und grelles Licht fällt zu ihr in das Loch, das sie nun zum ersten Mal sehen kann. Es ist ein sehr kleiner Raum mit niedriger, gewölbter Decke aus dicken Steinen. Der Kriechkeller unter ihrem Haus? Warum kommt Jochen dann erst jetzt, um sie zu retten? Oder ist er es gar nicht?
Das Licht geht von einer Gestalt aus, die eine Stirnlampe trägt. Reglos hockt sie im Eingang.
Tina will ihrem Befreier etwas zurufen, doch eine neue Erinnerung blitzt in ihr auf. Bilder drängen sich in den Vordergrund, Momentaufnahmen von dem, was mit ihr passiert ist. Und in dieser Sekunde weiß sie, dass das dort nicht ihr Retter ist.
Sie schließt den Mund und starrt der Person angstvoll entgegen.
Diese bewegt sich, kriecht geduckt zu ihr ins Loch und kauert sich wie ein drohender Schatten neben sie. Eine Hand streckt sich nach ihr aus, und Tina zuckt furchtsam zusammen. Sie fühlt warme Finger über ihre Wange streichen.
Erneut keimt Hoffnung in ihr auf. »Bitte, lass mich raus. Ich werde auch nichts sagen.«
»Schhh«, kommt es als einzige Antwort. Die Hand fährt zärtlich über ihre Stirn und streicht eine Strähne zur Seite. Eine Flasche wird geöffnet und der Inhalt zuerst über ihr Gesicht und dann in ihren Mund gegossen. Gierig schluckt Tina das Wasser. Sie versucht das Gesicht des Kerls zu erkennen. Aber die Stirnlampe blendet sie, sie sieht nichts als grelles Licht und dahinter tiefe Schwärze.
»Bitte«, flüstert sie. »Niemand wird von alldem erfahren. Ich verspreche es. Lass mich gehen.«
Der Kerl hält unvermittelt inne. Zuerst denkt Tina, sie hätte ihn überzeugt. Doch plötzlich verpasst er ihr eine Ohrfeige.
Erschrocken keucht Tina auf, Tränen rinnen ihr aus den Augen. Nicht wegen der Heftigkeit des Schlags, sondern vielmehr wegen der schrecklichen Gewissheit, dass sie hier nie wieder rauskommen wird.
Weil dieser Mensch sie nicht gehen lassen wird.
Der Kerl stößt ein abfälliges Zischen aus. Er packt sie grob am Kinn und betrachtet sie eine Weile lang. Ohne Vorwarnung stopft er ihr etwas in den Mund. Ein Stück Stoff. Tina will sich dagegen wehren, versucht, das Knäuel mit der Zunge nach vorn zu schieben. Doch sie muss würgen, weil es tief in ihren Rachen drückt. Voller Schrecken hört sie, wie Klebeband von einer Rolle gerissen wird. Nein, nicht wieder das Klebeband! Sie spürt, wie es mehrfach fest um ihren Kopf gewickelt wird, damit sie den Knebel nicht wieder hinausbefördern kann.
Als der Kerl fertig ist, lässt er die Arme sinken und betrachtet stumm sein Werk.
Tina saugt panisch Luft durch die Nase ein, ihr wird schwindelig. Sie spürt, wie der Knebel sich langsam mit Speichel vollsaugt, und muss erneut würgen. Das Stück Stoff sitzt unverrückbar in ihrem Mund. Immer mehr Tränen verschleiern ihre Sicht, und nur schemenhaft bekommt sie mit, wie ihr Peiniger sich erhebt und das Loch verlässt. Die Tür schließt sich mit einem unbarmherzigen Knirschen und verbannt sie zurück in die Dunkelheit.
13
Am nächsten Morgen verlässt Maja zusammen mit Joakim den Einsatzraum, in dem Göran zuvor eine kurze Ansprache zu der bevorstehenden Suchaktion gehalten hat. Zum Glück hat er die Sache gestern bei Adnan Demirci, ihrem Dienststellenleiter, durchbekommen. Auch wenn nach wie vor unklar ist, ob Frau Nowak tatsächlich noch lebt und sich irgendwo dort draußen befindet, teilt Demirci die Meinung, dass es von gewisser Dringlichkeit ist, die nähere Umgebung des Hauses abzusuchen. Es würde mühsam werden, das weiß jeder in der Truppe, denn rund um Hultsjö erstreckt sich fast nur Wald, durchsetzt mit einigen Seen und Sumpfgebieten. Sollte die Frau in einem der Seen liegen, ist es ohnehin hoffnungslos, sie in nächster Zeit zu finden. Aber Maja will nicht schon wieder daran denken, wie gering ihre Chancen stehen. Ihre Laune ist eh schlecht genug.
Ihr fällt Tom Skagen ein. Er hat gestern am Telefon nicht gut geklungen. Reichlich depressiv. Völlig anders als früher … Sie reißt sich aus den Gedanken. Eigentlich geht sie das nichts an. Sie sieht hinüber zu Jokke, der zum x-ten Mal seine Pistole checkt. Sein Gesicht ist vor Aufregung knallrot. Es ist seine erste groß angelegte Suchaktion. Beinahe 40 zusätzliche Kollegen und Kolleginnen nehmen daran teil – bereitgestellte Einsatzkräfte aus den benachbarten Kommunen Karlshamn und Ronneby. Jokke fummelt erneut an seiner Dienstwaffe herum.
»He, bleib cool. Die wirst du bestimmt nicht brauchen«, versucht Maja ihn zu beruhigen.
»Woher willst du das wissen?«, fragt er mit nervösem Blinzeln.
»Na, weil wir nach einer vermissten Person suchen, nicht nach einem schwer bewaffneten Bankräuber.« Sie lacht amüsiert. »Ich dachte, du bist auf dem Land aufgewachsen.«
»Eben«, sagt Jokke und streicht seine Uniform glatt.
Maja will nachfragen, was er damit meint, da tritt eine Kollegin zu ihnen.
»Vorne am Empfang ist jemand, der dich sprechen will, Maja.«
»Ich hab keine Zeit. Wir rücken gleich aus.«
»Er sagt, es ist dringend. Es geht um den Fall mit den Deutschen.«
Maja horcht auf. Sie gibt Jokke zu verstehen, dass er Göran benachrichtigen soll, falls dieser nach ihr fragt, und folgt der Kollegin zum Empfangstresen. Dort steht ein Mann mit blondem Bart und traurigem Blick. Zuerst erkennt sie ihn nicht, doch dann weiten sich ihre Augen.
»Tom!« Sie läuft um den Tresen herum. »Das ist ja eine Überraschung! Ich dachte, du könntest nicht kommen.«
Ein Lächeln hellt Toms Gesichtszüge auf. »Hallo, Maja, schön dich zu sehen.« Er hebt die Hände, lässt sie unschlüssig wieder sinken. Stattdessen ergreift Maja die Initiative und tut, was er sich soeben nicht getraut hat. Sie nimmt ihn in den Arm und drückt ihn fest an sich.
Als sie sich von ihm löst und in seine grauen Augen blickt, erwachen plötzlich alte Gefühle in ihr. Es ist, als würde etwas mit Leben gefüllt, was sehr lange kalt und leer gewesen ist. Aber nicht aus Böswilligkeit oder weil man sich nicht daran erinnern wollte, sondern einfach, weil es der Lauf der Dinge gewesen ist.
»Mann, ist das lange her!«, sagt sie lachend.
Tom kratzt sich verlegen am blonden Schopf. »In der Tat.«
»Du hast echt ein gutes Timing, wir fahren gleich raus nach Hultsjö. Die Truppe wartet schon.« Sie fasst ihn an der Schulter. »Komm, ich stelle dich Göran vor. Der wird sich über deine Unterstützung freuen.«
Tom gibt nur ein Brummen von sich und lässt sich von ihr durch die Einsatzzentrale zum hinteren Ausgang des Gebäudes bringen. Dort steht Göran neben einem der Busse und macht eine ungeduldige Geste. Als er Tom entdeckt, zieht sich seine Stirn oberhalb der Sonnenbrille in Falten.
»Aha, Skagen von Skanpol«, sagt er, nachdem Tom sich vorgestellt hat, und schüttelt dessen Hand. »Na, dann wollen wir mal, Kollege.«
Dass Tom ihnen im Vorfeld viele Informationen und die aktuellen Fotos von Frau Nowak besorgt hat, mit deren Hilfe sie nun in Hultsjö herumfragen können, ist Göran keine Silbe des Dankes wert. Typisch für Mr. Testosteron, denkt