Ein riesiger orangefarbener Müllwagen schob sich in ihr Blickfeld. Zwei Müllwerker zerrten den Rollcontainer vor die Ladeluke des Ungetüms und betätigten die Hebevorrichtung. Evelyn achtete nicht darauf, wie der Behälter angehoben und entleert wurde. Ihr Blick hing an dem, was hinter dem Container zum Vorschein gekommen war. Es war die Frontpartie eines englischen Sportwagen-Klassikers.
Hinter sich hörte sie ein Klicken. Als sie herumfuhr, blickte sie in ihr eigenes Gesicht. Und in die stupsnasige Mündung eines Revolvers.
Der Schuss traf sie wie ein harter Schlag. Sie hat genau meine Frisur, dachte sie noch, und sie trägt die gleiche Kleidung wie ich.
Wie sie auf den Boden aufschlug, spürte sie schon nicht mehr.
»Sehr schön«, sagte Michael Blohm. »Jetzt leg ihr die Waffe locker in die rechte Hand. Sie hat das Ding ja dankenswerterweise ausgiebig angegrabscht. Dann zieh dir die Latexhandschuhe aus und bring dem alten Herrn seinen Tee. Der Schuss dürfte ihn geweckt haben.«
»Was heißt hier Schuss! Das war doch nur eine Fehlzündung auf der Straße.« Eva ahmte Evelyns barschen Tonfall gekonnt nach, lachte und verließ den kleinen Salon.
Wenige Minuten später war sie zurück. »Er hat nichts gemerkt«, sagte sie stolz. »Hat mich glatt für Evelyn gehalten! Und die Sache mit der Fehlzündung hat er auch geschluckt, ebenso wie den Tee.« Sie strich sich über ihre ungewohnte Frisur. »Außer uns ist niemand im Haus; die Pflegerin kommt erst in einer Stunde.«
»Sehr schön«, erwiderte Dr. Michael Blohm. »Wenn der alte Herr den Tee getrunken hat, wird er bald den ganz tiefen, langen Schlaf schlafen. Und? Tut es dir leid?«
Eva schnaubte verächtlich. »Warum sollte es? Wenn es nach ihm gegangen wäre, wüsste ich doch bis heute nicht, wer mein Vater ist! Ihm scheint das all die vielen Jahre nichts ausgemacht zu haben. Solch einen Vater brauche ich nicht.« Sie zeigte auf den Fußboden vor dem Fenster: »So ein Biest von Halbschwester auch nicht, und wenn sie mir noch so ähnlich sieht.«
»Hartnäckig war sie ja.« Michael Blohm lachte. »Dein Auto, dann das Paddelboot, der Rasenmäher … erst bei der Sache mit der Gasflasche sind wir ihr auf die Schliche gekommen.«
Eva schlang ihre Arme um Michaels Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Jetzt musst du nur noch dafür sorgen, dass die Totenscheine auch richtig ausgestellt werden! Ihr Todeszeitpunkt muss unbedingt vor seinem liegen. Nicht, dass ihr noch das halbe Erbe zugesprochen wird und dadurch womöglich an den Staat fällt. Die andere Hälfte ist zwar auch ein Batzen Geld, aber erst mit der ganzen Summe kann man sich ein richtig schönes Leben machen. Warum also teilen?«
Er lachte. »Das sehe ich auch so! Mach dir keine Sorgen, darum kümmere ich mich persönlich. Der diensthabende Notarzt ist ein Tennis-Kumpel von mir und keine große Leuchte. Da ich diese Woche den Hausarzt deines Vaters vertrete, kann ich dem Notarzt unauffällig zur Hand gehen.« Er schaute auf seine Armbanduhr: »Inzwischen dürfte es so weit sein. Ruhe sanft, reicher alter Mann!«
»Jetzt sollten wir aber zusehen, dass wir wegkommen«, drängelte Eva. »Wer weiß, vielleicht kommt die Pflegerin heute früher! Du darfst unbedingt erst nach ihr hier erscheinen.«
Seite an Seite gingen sie die Treppe hinunter. »Übrigens hast du vorhin einiges vergessen«, sagte Eva, als sie auf ihre Autos zusteuerten. »Bei deiner Aufzählung. Da war doch noch der ausgehängte Blumenkasten, der mich fast erwischt hätte. Und dann die gelösten Radmuttern an meinem Fahrrad! Damit hätte sie mich beinahe erwischt, wenn ich an dem Tag nicht zufällig meinen Helm getragen hätte. Teufel, war das knapp! Ich frage mich immer noch, wie die Frau eigentlich in unsere Garage gekommen ist.«
»Oh ja, sie war ein findiges Biest«, sagte Dr. Michael Blohm versonnen. »Jetzt kann sie uns das leider nicht mehr sagen.«
Eva schaute zur Uhr. »Was machen wir denn in der nächsten halben Stunde? Hier stehen bleiben können wir ja schlecht. Fahren wir noch eben nach Hause?«
»Ja«, sagte Michael Blohm, »fahren wir noch eben nach Hause. Ich mach dir auch einen Tee. Der wird dich beruhigen.«
Nachtragend
Uke Müller war nachtragend. Wenn es sich einer mit ihm verdarb, dann vergaß er es ihm nie. Da war er wie ein Elefant.
Uke war auch sonst einem Elefanten nicht unähnlich. Nur nicht so geschickt. Das Geschäft, das er in der Leeraner Altstadt eröffnet hatte, wäre vielleicht ganz gut gelaufen, wenn Uke nicht so ein Paddel gewesen wäre. Er bestellte nur Ware, die seinem Geschmack entsprach – meistens nur seinem. Auf Kundenwünsche ging er grundsätzlich nicht ein. Wagte jemand ein kritisches Wort, dann fuhr er ihm frech über den Mund. Als ein Lieferant von Kundenbindung sprach, lachte er nur.
Es dauerte keine fünf Monate, dann drehte man Uke den Geldhahn zu. Kreditlinie zweimal erhöht, Zahlen konstant rot – die Bank zog die Reißleine. Da nutzte auch kein Bitten und kein Betteln, kein Klagen und kein Motzen. Uke musste dichtmachen.
Das vergaß Uke der Bank nicht. Uke schwor Rache. Denn er war nachtragend.
Die Bank baute ein neues Geschäftshaus, ein großes, teures Ding, mitten in der Fußgängerzone. Es war so gut wie fertig, bald würden die ersten Angestellten ihre Büros beziehen. Töten wollte Uke ja keinen, aber der Bank sollte es richtig wehtun. Also war der Zeitpunkt günstig.
Uke baute eine Bombe. Das konnte er, denn er saß oft nächtelang am Internet. Der lachende Typ mit dem Islamisten-Bart machte genau vor, wie das ging. War gar nicht so schwer.
Als Uke den Tatort ausbaldowerte, stellte er fest, dass schon sauber gemacht wurde. Höchste Zeit! Heute Abend würde er zuschlagen.
Er kam, als die Putzkolonne gerade Feierabend machte. In seinem blauen Kittel fiel er nicht weiter auf. Er platzierte die Bombe, getarnt als Postpäckchen, in einer Ecke der brandneuen Schalterhalle. Auf all die Scherben und den Schutt freute er sich schon.
Als die letzten Reinigungskräfte das Haus verließen, aktivierte er den Zeitzünder. Fünf Minuten mussten reichen. Eilig schlüpfte er mit durch die Seitentür. Der Mann mit dem Schlüssel guckte irritiert, sagte aber nichts.
Als Uke ein paar Hauseingänge weiter Deckung nehmen wollte, tippte ihm jemand auf die Schulter. Es war eine der Putzfrauen. »Hier, das haben Sie vergessen«, sagte sie und drückte ihm das Päckchen in die Hand, das sie ihm nachgetragen hatte. »Keine Ursache! So, ich muss schnell weiter, die anderen warten schon. Tschüß!« Und weg war sie.
Uke starrte fassungslos auf die Bombe in seinen Händen. Wie kann man nur so nachtragend sein, war das Letzte, was er dachte.
Helgoländer Wurzeln
Sie hatte gehofft, dass er sie am Kai erwartete. Und sie war gespannt gewesen, was für ein Gesicht er machen würde. Eine deutliche Reaktion hatte sie sich gewünscht, eine Gefühlseruption, die die sonst so glatte Oberfläche seiner männlich-herben Coolness durchbrach und zertrümmerte. Wann, wenn nicht jetzt, hatte sie gedacht.
Das hier aber übertraf alle Erwartungen.
Immo Hamkens war ein Friesenkerl wie aus dem Bilderbuch, einsfünfundneunzig groß, schmalhüftig, breitschultrig, flachsblond, die blauen Augen von borstigen Brauen halb verborgen, die Nase kräftig, der Mund breit, der Unterkiefer stark. Alles in allem ein stattlicher Mann von siebenundzwanzig Jahren, dessen Umarmungen ihr den Atem geraubt und dessen Küsse sie süchtig gemacht hatten.
Aber wie er da so stand, mit baumelnden Armen, hängenden Schultern und offenem Mund, sah er nicht mehr so aus wie der Mann, auf dessen Klopfen hin sie gar nicht schnell genug ihre Zimmertür hatte öffnen können. Der schönste Mann des gesamten Lehrgangs, und sie hatte ihn in ihrem Bett! Ein höchst befriedigendes Gefühl.
Der Rest war … na ja, auch nicht schlecht. Aber wirkungsvoll. Was die Folgen anging.
Betont langsam schritt sie die kurze Gangway hinab. Sehr betont wiegte sie sich in den Hüften. Und ganz besonders