Im Wahn gefangen. Hans-Otto Thomashoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Otto Thomashoff
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839266823
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kein Mensch doch kann’s verstehen.« Intuitiv griff Sperling den Ball auf, erkannte im selben Moment die Stimme Vartans wieder als diejenige des Sängers, der so bedauernswert falsch die Opernaufnahme begleitet hatte. Ein Begeisterter und doch Gescheiterter stand hier vor ihm.

      Der Arzt wurde von Sperlings Kennerschaft überrumpelt und empfand auf einmal einen gewissen Respekt für sein Opfer. Ein geheimes Band war geknüpft. »Ich glaube, Sie beginnen mir zu gefallen.«

      Sperling war unschlüssig, ob er sich über diesen Anflug von Zuneigung freuen sollte. Aber wenn er überhaupt eine Chance in diesem Spiel bekommen sollte, dann lag sie jetzt vor ihm, und er musste sie ergreifen. »Sie haben mich in der Hand. Das steht außer Frage. Sie können mich quälen, gegen Sie bin ich machtlos. Nur bleibt Ihnen das Risiko, dass ich trotzdem schweigen werde. Und sollte mir durch Ihre Torturen etwas zustoßen, laufen Sie Gefahr, zu spät an das Codewort zu kommen, denn auch Ihre Zeit ist begrenzt, wie Sie sehr wohl wissen. Wie ich Ihnen schon sagte, muss ich doch davon ausgehen, dass Sie mir etwas antun werden, sobald ich Ihre Forderung erfülle. Sie sehen, ich brauche von Ihnen eine Sicherheit, dass mir nichts geschehen wird. Warum sollte ich Ihnen dann das Wort nicht einfach geben und sogar ein wenig an dem partizipieren, was für Sie oder für wen auch immer dabei herausspringen mag? Was habe ich schließlich mit dieser Geschichte zu tun?«

      Der Oberarzt blickte ihn misstrauisch prüfend an, doch Sperlings Argumente trafen offensichtlich seine Denkweise. Sperling spürte, dass er seinen Köder geschluckt hatte.

      »Besorgen Sie mir eine Garantie, und machen Sie mir ein Angebot, das verlockend genug ist, dass ich ihm nicht widerstehen werde.«

      Sperling empfahl sich dem Psychiater als Gleichgesinnten an, und der war empfänglich dafür, biss endgültig an.

      »Da muss ich mit gewissen Leuten Rücksprache halten.«

      Erleichtert nahm Sperling zur Kenntnis, dass seine Strategie, Zeit zu gewinnen, vorerst aufgegangen war. Er hatte sich den Respekt des Arztes verschafft, der allenfalls zu bedauern schien, dass ihm sein Spielzeug sadistischer Lust abhandenkam.

      Vartan stand auf und stellte seinen Stuhl zurück an den vorgegebenen Platz neben dem Waschtisch. »Vorerst bleiben Sie in der Fixierung, damit Sie nicht in Versuchung geraten, sich aus unserer Abmachung herauszustehlen. Dafür erlasse ich Ihnen bis auf Weiteres die Medikamente, werde aber, damit alles seine Ordnung hat, in Ihrer Krankenakte vermerken, dass ich Ihnen eine Spritze mit einem Depot gegeben habe, deren Wirkung einige Tage lang anhält. Verhalten Sie sich möglichst unauffällig, dann belassen wir es im Augenblick dabei, und ich werde wieder auf Sie zukommen, sobald ich mehr weiß. So viel Zeit bleibt uns ja, und wer weiß …« Mit dieser vieldeutigen Bemerkung verließ der Psychiater den Raum.

      8

      Erleichtert und erschöpft von der Anspannung, in der er sich während des Schlagabtauschs mit seinem ungleichen Kontrahenten befunden hatte, sackte Sperling die wenigen Zentimeter zurück, die sein Bewegungsspielraum zuließ. Vartan hatte das Licht angelassen, und so konnte Sperling erstmals seinen eigenen Zustand und seine Umgebung genauer inspizieren. Um seine Hand- und Fußgelenke herum waren lederne Riemen geschnürt, die am Gestell des Bettes befestigt waren. Sie ohne das dazu notwendige Werkzeug zu lösen, war unmöglich. Er trug ein weißes Anstaltshemd und lag unter einer Decke, unter der seine nackten Füße hervorlugten. Außerdem hing um seinen Hals an einem Bindfaden ein Schlüssel, dessen Zweck ihm nicht einleuchtete, der aber offensichtlich nicht zum Lösen seiner Fesseln taugte.

      Die Einrichtung des übermäßig hoch wirkenden Raumes war spartanisch. Direkt über ihm hing an der mit weißen Styroporplatten verkleideten Decke eine grell leuchtende Neonröhre. Die Wände waren cremeweiß getüncht. Ihm gegenüber standen ein karger Waschtisch ohne Spiegel, daneben ein schmaler Wandschrank aus Holz und der Stuhl, auf dem Vartan vorhin gesessen hatte. Schließlich gab es noch einen kleinen gelben Metalltisch direkt neben seinem Bett.

      Wie sollte man in so einer Umgebung gesund werden, wenn man wirklich psychisch krank war, fragte Sperling sich. Sein Durst meldete sich wieder, ihm war, als habe er seit einer Ewigkeit nichts getrunken, und Hunger hatte er auch. Er fühlte sich elend und ausgemergelt, aber wenigstens sein Denken gewann die gewohnte Klarheit zurück.

      Es klopfte kurz an der Tür, und ein blondes Geschöpf in einem zu engen weißen Kittel, das so gar nicht in dieses triste Umfeld passen wollte, betrat den Raum. »Guten Abend. Ich bin Schwester Hilde und bringe Ihnen das Abendessen.«

      Sie hatte jedoch nichts bei sich außer ihren beiden ausladenden Brüsten. Sperling war irritiert.

      »Was darf es denn heute für Sie sein? Es gibt Krautfleisch oder gefüllte Paprika.«

      Die Normalität ihrer Frage traf Sperling unvorbereitet. Er starrte sie wortlos an, wurde dann seiner Hilflosigkeit gewahr. »Aber wie soll ich denn essen?«

      »Ganz einfach, ich werde Sie füttern.«

      Sie sagte das so, als sei es das selbstverständlichste der Welt. Nach kurzer Überlegung entschied er sich für das Krautfleisch. »Und bitte etwas zu trinken.«

      »Hätten Sie lieber Hagebuttentee oder Pfefferminztee?«

      Hagebuttentee erschien ihm in Verbindung mit dem Krautfleisch als das geringere Übel. Nach der Bemerkung, sie werde sofort zurück sein, verschwand die wundersame Erscheinung, und Sperling befürchtete fast, ihr kurzer Besuch könnte nur ein Wunschgebilde seiner Fantasie gewesen sein. Doch sie kehrte zurück mit einem Tablett in Händen, stellte es auf das Metalltischchen neben seinem Bett und hob die Plastikhaube vom Teller, auf dem dampfend und von eigentümlicher Farbe das abendliche Mahl lag. Ob es auf dieser Station nur Einzelzimmer gab, wie sonst war eine solche Speisenauswahl zu verantworten, kam es Sperling in den Sinn, als ihm der Krautgeruch in die Nase stieg.

      »Bitte erst etwas zu trinken, ich verdurste.«

      »Aber gern.«

      Sie goss den Tee aus einer Thermoskanne in einen Plastikbecher, den sie ihm an den Mund hielt, und er trank ihn in einem Zug aus. Das heiße Getränk brannte in seiner Kehle, und die Wärme durchzog seinen ganzen Körper, doch sein Durst war von dem einen Becher nicht gelöscht.

      »Bitte auch etwas Wasser.«

      Auch das reichte sie ihm, und die kühle Erfrischung tat gut.

      »Na, dann wollen wir mal, Inspektor.«

      Sperling war überrascht. Wusste sie, wer er war, war sie beteiligt an dem üblen Spiel? »Sie nannten mich Inspektor?«

      »Ach so, ja. Hier bei uns auf der Station bekommt jeder einen Spitznamen, der zu ihm passt. Sie sind der Herr Inspektor, und dann haben wir noch ein Orakel, einen Schauspieler, einen kleinen Nazi und viele andere mehr. Sie werden sich schon einleben bei uns, das ist bisher noch jedem gelungen. Und wenn Sie sich irgendwann in unserer Mitte richtig zu Hause fühlen, dann wollen Sie gar nicht mehr weg. Sie werden sehen.«

      Während sie so plauderte, begann sie Sperling löffelweise mit dem Krautfleisch zu füttern, der sich dabei ertappte, wie er die Skurrilität seiner Lage bereits als beinahe normal erlebte.

      »Und Therapie machen können Sie bei uns auch. Beschäftigungstherapie, Töpferkurs, oder wie wäre es mit der Trommelgruppe?«

      »Ich hätte da eher an ein paar hundert Stunden Analyse gedacht.« Sperling hatte diesen Gedanken wirklich gehegt – die Liste seiner Neurosen war lang –, ihn jedoch wie alle echten Neurotiker ad infinitum vorerst verworfen.

      »Ist ja ein Zufall. Ich habe früher in der Dialyse gearbeitet. Und eine feste Aufgabe mit Verantwortung bekommen Sie für den Stationsalltag zugeteilt, vielleicht das Amt des Fischefütterns?«

      »Fische füttern?« Er hielt kurz inne, um zu kauen. »Ich kann doch gar nicht aufstehen. Da gehen die Fische sicher ein.«

      »Ach, so etwas kommt vor. Aber das ist doch nicht so tragisch. Dann gibt es halt wieder ein paar neue.«

      Sperlings erster Hunger war gestillt, doch er beschloss, die sich ihm bietende Gelegenheit zu nutzen, um mehr über Vartan in