Im Wahn gefangen. Hans-Otto Thomashoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Otto Thomashoff
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839266823
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damit sie für jeden zugänglich werden. Wenn ihm das gelingt, können sie ihm nichts mehr anhaben, weil sein Wissen sich dann blitzartig verbreiten wird und nicht mehr aus der Welt geschafft werden kann. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.«

      Ihre Geschichte, sofern sie denn stimmte, gewann an Konturen. Sie hatte immer noch nichts mit Sperling zu tun, doch etwas an der Art der Fremden übte eine unwiderstehliche Macht auf ihn aus, war das passende Gegenstück zu seiner komplexbehafteten Gehemmtheit. Sie hielt inne, blickte ihn fragend an, ob er sie verstanden habe, und er nickte. Ja, er fühlte, er würde sie verstehen.

      »Wir müssen vorsichtig sein. Ich denke, wir sollten besser nicht zusammen gesehen werden. Können wir irgendwohin verschwinden, wo wir ungestört sind?«

      Nichts wünschte er sich im Moment mehr, und gerade das irritierte ihn. Und doch, wenn ihre Augen auch nur eine Spur von dem hielten, was er in sie hineinzulesen versucht war … Er zögerte, blickte verstohlen zur Seite. Je stärker es ihn zu ihr hinzog, desto mehr gemahnte ihn eine innere Stimme zur Flucht. »Also ich weiß nicht, und eigentlich wollte ich etwas essen.«

      Sie lächelte ihn an, entwaffnend.

      »Ich kümmere mich darum. Bleiben Sie noch einen Moment hier, und gehen Sie dann zu dem Ausgang, der gleich hinter der Küche liegt. Ich werde Sie im Stiegenhaus wieder treffen.«

      Noch bevor er etwas entgegnen konnte, war sie verschwunden.

      Sollte er sie mit in sein Büro nehmen, schließlich handelte es sich ja um einen Fall? Möglicherweise jedenfalls. Er musste sich im Internet vergewissern. Gäbe es die Website, von der sie gesprochen hatte, wirklich, konnte etwas dran sein an ihrer Schilderung. Aber das ließe sich auch von Zuhause aus überprüfen, dazu musste er nicht aufs Dezernat. Sicher, er war Kriminalbeamter, aber bislang gab es keine offizielle Ermittlungssache, sondern eher so etwas wie eine persönliche Beratung außerhalb jeder beruflichen Zuständigkeit. Eine Biene setzte sich direkt vor seiner Nase auf eine der weißen Orchideenblüten, und Marilyn versuchte nach ihr zu schnappen – erfolglos. Ihm war heiß. War er im Begriff, sich zu verlieben? Es war ein Gefühl, das ihn kribbelnd packte, ihn mit sich riss wie ein rauschender Strom, dem er sich nicht entgegenzustemmen vermochte und auch nicht wollte. Hatte er dieses ewige Alleinsein nicht satt? Sie war ein Engel, vom Himmel gefallen, er kannte sie erst seit Minuten, wusste nicht einmal ihren Namen, und doch war sie wie ein offenes Buch für ihn. Oder redete er sich das alles nur ein, erlag er einer Illusion? War es nur der Reiz ihrer Jugend, weil er damit haderte, dass sein Alter mit ersten grauen Haaren sein Recht einforderte? Ratsuchend blickte er Marilyn an, die er immer noch eng an sich gepresst hielt, doch sie wusste ihm nicht zu helfen.

      Er beschloss, es einfach geschehen zu lassen, was auch immer es sein mochte, und begab sich, ihrer Anweisung folgend, ins Stiegenhaus, wartete dort an eine der Marmorsäulen gelehnt. Mit Chiara verband ihn viel. Hatte er nicht doch die ganzen Jahre über mit der versteckten Hoffnung gelebt, er könne sie eines Tages zum Bleiben bewegen, und war er damit nicht gescheitert, endgültig? Starr blickte er vor sich hin. Seine Liebessehnsucht war eindeutig im Moment stärker als sein analytisches Denken.

      Marilyn wurde unruhig, da legten sich ihm von hinten Hände auf die Augen. Sperling erschrak nicht, schmunzelte stattdessen. Das konnte nur die vertraute Fremde sein. Und sie war es auch.

      »Ich habe etwas Feines für uns«, hauchte sie ihm zu. »Austern.«

      Mochte er, zuckte es ihm durch den Kopf, sich am helllichten Tag mit Austern satt essen? Spielte sie damit subtil an auf die kommenden Stunden oder auf den Altersunterschied zwischen ihnen? Er lächelte zustimmend.

      »Sag, wo müssen wir hin? Wir sollten nicht zusammen gesehen werden, und da ist es besser, wenn ich vorausgehe und du mir dann einen Augenblick später nachkommst.«

      Sein Lächeln hielt sich, und er nickte wortlos.

      »Nun?«

      »Ach so, ja. Schottengasse.«

      Der Koch musste sie gut kennen, Austern, dachte Sperling.

      »Ja, und wo in der Schottengasse?«

      »Nummer drei, Melkerhof. Im hinteren Hof. Das Haustor steht offen. Sie … man kann drinnen im Hof warten.«

      »Gut.«

      Schon sprang sie davon, wandte sich an der Tür nach draußen noch einmal kurz ihm zu, um zu signalisieren, dass die Luft rein war, und war schon entschwunden.

      Das »Du« war ihr ganz selbstverständlich über die Lippen gekommen. Sollte er lange warten? Nein, entschied er sich und war schon hinter ihr her. Sollte ihr etwas zustoßen, wäre er so zumindest rechtzeitig zur Stelle. Beim Verlassen des Börsegebäudes wurde er wieder von der Sonne geblendet, doch es hätte auch schneien können und ihm wäre warm gewesen. Er sah gerade noch, wie sie, oben an der Metallstiege angekommen, auf die Straße trat. Hastig erklomm er selbst die Stiege und folgte ihr dann mehr oder weniger unauffällig auf ihrem Weg durch die Innenstadt, ein Stück weit hinter ihm sein Hund, der sich nur widerwillig damit abfand, jetzt nicht getragen zu werden, sondern selbst laufen zu müssen.

      Sperling behielt die vorauseilende Schöne die ganze Zeit über fest im Auge, verfolgte jede Bewegung der bezaubernden Fremden und malte sich aus, wie sie sich lieben würden, denn dass sie sich lieben würden, davon war er überzeugt.

      Streifige Wolken kündigten einen Wetterwechsel an, doch das tangierte ihn nicht. Ein wenig außer Atem erreichte er den Melkerhof, wo sie bereits auf ihn wartete.

      3

      »Übrigens, ich heiße Alice.«

      Sie gingen die Stiege hinauf. An seiner Wohnungstür angekommen, schloss er auf.

      »Ich bin …, ich heiße …, ja, Benedict.« Er bat sie hinein und nahm ihr den Mantel ab, hängte ihn an die Garderobe, dann den seinen gleich daneben. »Einfach geradeaus, da ist mein … Arbeitszimmer, mein Computer.«

      Die Wegbeschreibung zu seinem Arbeitszimmer galt weniger ihr als ihm selbst als Bekräftigung für seine hehren Absichten. Er wollte wissen, woran er bei ihr war, bekräftigte er sich. »Damit kannst du ins Internet und mir dann alles zeigen. In der Zwischenzeit werde ich mich um das Essen kümmern. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«

      »Ja, bitte ein Wasser.«

      »Oder etwas anderes?«

      »Nein, ist schon fein. Ich trinke immer nur Wasser.«

      Das Wiener Wasser war zwar berühmt für seine besondere Qualität, aber zu Fines de Claires? Sperling war nach Gehaltvollerem zumute. Alice nahm vor dem Computerbildschirm auf seinem Arbeitssessel Platz. Er musste sich über sie beugen, um das Gerät einzuschalten, wobei seine Wange flüchtig ihr Haar streifte, dessen Duft ihn betörte. Er fühlte sich erinnert an Maiglöckchen im Frühling. Sperling öffnete den Browser und zog sich dann mit der Tasche, in der die Austern auf ihn warteten, in die Küche zurück. Er breitete die Schalentiere vor sich auf der Anrichte aus – zwei Dutzend waren es – und stand nun vor dem Problem, sie zu öffnen. Ein Austernmesser besaß er nicht. Er überlegte, kramte suchend durch Küchenschubladen und -schränke.

      »Klappt bei dir alles?«

      »Ja, ich bin auf der Website. Willst du sie sehen?«

      »Gleich, ja.«

      »Dann sende ich eben noch eine Nachricht an meinen Vater.«

      »Ja, ja, mach das.«

      Ein schweres Brotmesser, ein Schraubenzieher, ein Hammer und ein Korkenzieher waren alles, was er als mögliche Hilfsmittel auftreiben konnte. Wie die edlen Meeresgeschöpfe so verschlossen und lebend vor ihm lagen, fiel es ihm schwer, sich zu entscheiden, welche zuerst dran glauben sollte. Wahllos griff er schließlich eine der Austern heraus, hielt sie hochkant und bemühte sich, das Messer von oben in sie hineinzurammen. Sein Angriff schlug fehl, er glitt ab, aber noch hatte er alle Finger, tröstete er sich und schüttelte den Kopf darüber, was er alles zu tun bereit war. Machte allein die vage Aussicht auf Sex ihn als Mann unweigerlich zum Trottel?

      Während