Im Wahn gefangen. Hans-Otto Thomashoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Otto Thomashoff
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839266823
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      »Bist du okay?«

      »Ja, ja, ich bin gleich so weit.«

      Verzweifelt blickte er sich um. Sollte er sie lieber zum Essen einladen, unten in das Restaurant, den Melker Stiftskeller? Doch sie würde das sicher nicht wollen, hatte Angst, verfolgt zu werden. Das mochte ein Hirngespinst sein. Aber auch seine Absichten ließen sich nicht mit einem Restaurantbesuch vereinbaren. So griff er noch einmal zu Schraubenzieher und Hammer, schlug beherzt zu und rammte sich den Schraubenzieher in die Innenseite seiner Hand, die daraufhin heftig zu bluten begann.

      »Verflucht«, zischte er durch die Zähne, wickelte sich ein Geschirrtuch um die Wunde und rannte in sein Badezimmer. Alice hatte offenbar von seinem Missgeschick nichts mitbekommen und rief ihn zu sich.

      »Gleich, gleich«, wiegelte er ab.

      Unter fließend kaltem Wasser ließ der Schmerz ein wenig nach. Die Salbe, die er anschließend auf den tiefen Riss in seiner Haut auftrug, brannte, obgleich auf der Packung stand, sie fördere die Heilung. Mit einem frischen Handtuch um seine Verletzung gebunden, wollte er sogleich zurück in die Küche, doch er hielt inne, um sich noch kurz seinen Mund mit einem frischen Mundwasser auszuspülen. Als er an ihr vorbeiging, fing Alice ihn ab, streckte ihren Arm nach ihm aus, ohne ihren Blick vom Bildschirm abzuwenden.

      »Schau einmal kurz. Das ist die Website meines Vaters. Dass er sie ›Rheingold‹ genannt hat, ist eine Anspielung auf die Bedeutung seiner Entdeckung, und außerdem liebt er Wagner. Hier kannst du sehen, wovon ich dir erzählt habe. Komm, setz dich.«

      Sie machte den Platz auf dem Stuhl frei, er setzte sich und sie glitt ganz selbstverständlich auf seinen Schoß.

      »Schau, hier in dem Überblick steht alles genau erklärt.«

      Sperling – glücklich, einstweilen den Hartschalentieren entkommen und in körperlicher Nähe zu Alice zu sein – überflog die Zeilen, in denen vor dem Hintergrund eines stilisierten Eiweißmoleküls erläutert wurde, dass Professor H. J. Lapinsky der entscheidende Durchbruch im Kampf gegen Schizophrenie gelungen sei. Anders als bislang angenommen, sei nicht ein einzelnes Gen für die Erkrankung verantwortlich, sondern die Erkrankung entstehe aus dem Wechselspiel zwischen Umwelteinflüssen und ganz unterschiedlichen Genen. Jeder der verschiedenen Entstehungswege münde allerdings in eine einzige spezifisch veränderte hyperaktive Variante eines Transportproteins im Bereich der Nervenendigungen bestimmter Hirnzentren, vor allem im sogenannten limbischen System. Nicht mittels gentechnischer Maßnahmen, sondern durch eine irreversible Blockade des für die Proteinumwandlung verantwortlichen Enzyms sei damit eine dauerhafte und wirksame Heilung von Schizophrenie möglich, einfach, kostengünstig und zudem gänzlich nebenwirkungsfrei, da das betreffende Enzym im ganzen Körper nur diesen einen chemischen Prozess steuere. Zu den wissenschaftlichen Einzelheiten wurde auf eine andere Website verwiesen, die zurzeit noch in Arbeit sei, deren Inhalt aber in Kürze in der Zeitschrift »Science« veröffentlicht werde. Es folgte ein dringender Aufruf zur Verbreitung dieser revolutionären Entdeckung, da Teile der Pharmaindustrie mit aller Macht versuchten, sie zu sabotieren, um den milliardenschweren Psychopharmakamarkt zu schützen. Denen sei offenbar jedes Mittel recht. Eine enge Mitarbeiterin des Professors sei bereits spurlos verschwunden, und er selbst habe sich daher an einen geheimen Ort zurückgezogen, um dort den angekündigten Artikel zu schreiben und sich bis zu dessen Erscheinen versteckt zu halten.

      Alles stand genau so dort, wie Alice es gesagt hatte. Sperling wandte sich ihr zu.

      »Glaubst du mir jetzt?«

      Ihre Lippen glänzten, standen halb geöffnet. Ein Knopf ihrer Bluse hatte sich gelöst, gab den Blick frei auf ihren Busen, und Sperling näherte sich ihrem Mund, berührte ihn zärtlich. Sie schloss die Augen, gab sich seinem Kuss hin. Nach einer Weile hielten sie inne.

      »Ich hatte dich eigentlich älter eingeschätzt nach unserem Telefonat, hatte dich für so einen grauen, pragmatisierten Beamten gehalten, der sich den ganzen Tag über grantig hinter seinem Schreibtisch verbarrikadiert und froh ist, wenn er in Ruhe gelassen wird.«

      Sperling schmunzelte geschmeichelt, und sie küssten sich wieder, leidenschaftlicher. Ihre Unbekümmertheit ließ sie auf eine Weise frei sein, wie es ihm nie möglich gewesen war. Sie glitten hinab auf den Teppich, und er begann sie auszuziehen, strich dabei sanft über ihre Haut, was sie mit einem wohlig entspannten Stöhnen beantwortete, das ihn vollends dazu brachte, an nichts anderes mehr zu denken als an sie, wie sie hier halb neben, halb unter ihm lag, eine Erfüllung verborgener Träume hineingeworfen in seinen tristen Alltag.

      »Das ist eigentlich gar nicht meine Art.« Mit diesen Worten öffnete sie den Reißverschluss seiner Hose, und wenig später liebten sie sich, elektrisiert vom Reiz des Neuen. Das Klingeln des Telefons, das auf dem Arbeitstisch neben ihnen stand, war bedeutungslos. Sie befanden sich außerhalb banaler Realitäten.

      »Benedetto, ciao, mio caro, ich bin es, Chiara.«

      Sperling stockte. Sie, jetzt, durchzuckte es ihn, die ihm so vertraute Stimme ausgerechnet in diesem Augenblick? Alice spürte sofort, dass etwas nicht stimmte.

      »Ich muss dich sprechen. Ich bin zu Hause bei mir, hier in Triest. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.« Sie machte eine Pause. »Also, nun … also … ich, ich bin … schwanger, und …«

      In dem Moment war die Aufnahmezeit des Anrufbeantworters zu Ende. Hatte er richtig gehört? Alice blickte ihn fragend an, eine Ahnung vorwurfsvollen Entsetzens schlich sich in ihre Gesichtszüge. Der Liebeszauber zerstob. Ohne dass er ein Wort gesagt hatte, schien sie zu verstehen, stand auf, warf sich in Windeseile ihre Kleidung über.

      »Ich …« Er war sprachlos. Wochenlang hatte Chiara nicht angerufen, Anfang Oktober hatten sie sich zuletzt gesehen, und jetzt das. Hatte er richtig gehört? Er musste sich vergewissern. Hilflos schaute er Alice nach, wie sie das Zimmer verließ. Die Haustür fiel ins Schloss, und er war allein. Noch immer nackt erhob er sich, nahm sein Handy und wählte hastig die Nummer in Italien. Ich werde Vater, schoss es ihm durch den Kopf. Er sollte sich freuen, doch war er im Augenblick unfähig dazu.

      Chiara war sofort am Apparat. »Pronto.«

      »Chiara, ich bin es. Ich kam gerade … durch die Tür, als ich deine Nachricht hörte.«

      »Gut, dass du zurückrufst. Ich hatte es dir ja eigentlich nicht am Telefon sagen wollen, aber es ist zu wichtig. Also …« Sie hielt inne, und er fand, dass sie merkwürdig verlegen wirkte. »Ich, ich bekomme ein Kind.«

      »Ja, das habe ich noch von deiner Nachricht mitbekommen.« Er wollte ihr sagen, wie sehr ihn das freute, doch es kam nicht über seine Lippen.

      »Aber, es … es ist wahrscheinlich nicht von dir.«

      »Bitte was?« Darauf war er nicht gefasst gewesen. Er wurde bleich, stammelte etwas Unverständliches.

      »Ja, ich … es tut mir leid, dass du es so erfährst.«

      »Du, du kannst doch nicht einfach …« Da schrillte die Türglocke. Marilyn sprang kläffend in die Diele.

      »Entschuldige bitte kurz, es hat geläutet.«

      Sperling war erleichtert über die Unterbrechung, fast so, als könne er anschließend das Gespräch von Neuem beginnen, mit verändertem Inhalt.

      »Ich komme gleich«, rief er in Richtung Tür und zog sich eilig sein Hemd über. Dann warf er sich ein Handtuch um die Lenden. Ob Alice zurückgekommen war? Er könnte ihr alles erklären. »Bin schon so weit.« Er öffnete und vernahm ein blitzartiges Krachen. Dann verlor er das Bewusstsein.

      4

      Seine erste Wahrnehmung, die sich wie in Zeitlupe einstellte, bestand in einem rhythmisch hämmernden Pochen mitten in seinem Kopf, der darunter zu zerbersten schien. Sperling lag vollkommen reglos, versuchte nach einer Weile, vorsichtig die Augen zu öffnen, was ihm nur mühsam gelingen wollte. Alles um ihn herum war schwarz. Er strengte sich an, etwas zu sehen. Da erst bemerkte er, dass er am ganzen Körper gefesselt war. Wie von einem Stromschlag ausgelöst, setzten Muskelkrämpfe ein, durchzuckten seinen Rücken, zogen hinauf