Im Wahn gefangen. Hans-Otto Thomashoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Otto Thomashoff
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839266823
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er um Hilfe rufen? Doch er konnte nicht. Er bemühte sich verzweifelt, zu denken, sich an irgendetwas zu erinnern. Hatte man ihn entführt, aber warum und wohin? Da verkrampfte sich sein Unterkiefer, und er biss sich auf die Zunge. Der süßlich metallische Geschmack von Blut sammelte sich in seinem Mund. Jeder seiner Versuche, den Krämpfen entgegenzuwirken, war zwecklos. So bohrte er sich schließlich seine Fingernägel in das Fleisch seiner Handflächen, bis er irgendwann erschöpft einnickte.

      Ohne Zeitgefühl wachte er wieder auf. Immer noch war es vollkommen finster. Seine Wahrnehmung war wie gelähmt, anders als sonst, zerlegt in Bruchstücke, die er nur mühsam fassen konnte, die Dunkelheit, seine Bewegungslosigkeit, die Schmerzen, die einem Muskelkater gewichen waren, ein penetrant beißender Gestank in der Luft, ein Gemisch aus Angstschweiß, Desinfektionsmittel und altem Urin. Er kannte den Geruch, ohne zu wissen woher, suchte im Dunkeln nach Orientierungshilfen. Befand er sich in einem Keller, in einem Versteck ohne Fenster, war es immer noch Nacht? Unvermittelt zog es seine linke Schulter unter höllischen Schmerzen hoch bis an sein linkes Ohr. Wieder ein Muskelkrampf. Sperling versuchte sich dagegenzustemmen, aber seine Fesseln ließen das kaum zu. Ihm blieb nichts, als passiv dazuliegen und abzuwarten. Es verging eine Ewigkeit, die nur von den plötzlichen Attacken seiner Muskulatur unterbrochen wurde. Sie trieben ihn an den Rand des Wahnsinns, aber er wollte nicht wieder wegdämmern, sondern endlich wissen, was geschehen war. Sein Körper war ihm so präsent wie sonst nie. Jede Faser, die normalerweise selbstverständlich und unbemerkt zu ihm gehörte, forderte seine Aufmerksamkeit ein in einer qualvollen Folter, deren Ursache Sperling nicht kannte, aber deren Folgen er hilflos ausgeliefert war. Wie in einen Nebel gehüllt, kamen Erinnerungsfetzen zurück, das Telefonat in seinem Büro, das Treffen mit der Unbekannten, bei ihm zu Hause der Sex, dann Chiara. Hatte es nicht an der Tür geläutet?

      Doch was war das jetzt? Erklang nicht auf einmal Musik? Ja, jemand sang, nebenan oder über ihm. Sperling lauschte angestrengt, die Melodie war ihm vertraut: »Gefangen bist du, fest mir gefesselt, wie du die Welt, was lebt und webt, in deiner Gewalt schon wähntest …« Das war von Wagner, die Stimme Wotans aus dem Rheingold.

      An was für einem Ort mochte er nur gelandet sein? Sperling rätselte, fand keine Erklärung, verharrte starr in einer undefinierbaren Leere und wartete, ohne zu wissen worauf.

      Die Musik war längst verstummt, als mit einem Mal durch ein Lammellengitter hindurch gedämpftes Licht in den Raum fiel. Die Tür wurde geöffnet, jemand trat herein, auf ihn zu, und er vernahm die angenehm warme Stimme einer Frau.

      »Sind Sie wach? Wie geht es Ihnen?«

      Noch bevor Sperling antworten konnte, paralysierte ein neuerlich einschießender Krampf seine Kiefermuskeln, und er brachte kein Wort heraus. Dann spürte er einen Nadelstich, seine Lider wurden schwer, er entspannte sich und war gleich wieder eingeschlafen.

      Als er nach langer Zeit völlig benommen wieder zu sich kam, nahm er als Erstes durch seine geschlossenen Augenlider hindurch Helligkeit wahr. Der Versuch, seine Arme zu heben, misslang, er war immer noch gefesselt. Er erinnerte sich an die furchtbaren Muskelkrämpfe, doch die schienen vorüber. Ihm war kalt. Es herrschte Ruhe, aber er war nicht allein, das spürte er. Zaghaft blickte er auf, sah vor sich das grinsende Gesicht eines Glatzkopfs, der ihn mit weit aufgerissenen Augen angaffte. Sperling erschrak so heftig, dass er laut aufschrie. Sofort kam Leben in seine Umgebung. Es entstand ein Tumult, Schritte eilten herbei, wieder gab es einen kurzen Stich, und er sackte weg.

      5

      »Wachen Sie auf! Können Sie mich verstehen?«

      Nur langsam, wie aus weiter Ferne drangen die Worte zu ihm vor, aber ihr Klang war wohltuend. Er fühlte sich wie in Watte gehüllt, gleichgültig und dabei bewegungsunfähig wie ein gefällter Baumstamm. Gerne hätte er sich gereckt.

      »Hören Sie mich?«

      Jemand rüttelte ihn leicht. Er schnaufte, blinzelte dann matt. »Wo, wo bin ich?«

      Sein Mund war trocken, seine Zunge eigenartig dick und pelzig. Über ihn gebeugt war eine Frau. Sie hatte etwas Mütterliches an sich, das war sein erster Eindruck. Doch sie war nicht allein, drei Männer waren bei ihr. Sperlings Kopf surrte, sein Atem ging schwer, er suchte nach einem Orientierungspunkt, blickte sich zögerlich um. Er war immer noch an Armen und Beinen festgebunden, lag in einem Bett, auf einem Gang. Es herrschte reger Betrieb, dabei war alles ungewöhnlich leise, wie schallgedämpft. Er verstand nicht. Hatte man ihn entführt, und wieso war er jetzt unter Menschen und trotzdem nicht frei?

      »Sie können uns also nicht sagen, wo wir hier sind?« Die Frage kam von einem der drei Männer, der, auf Sperlings ratloses Kopfschütteln hin, bestätigend in die Runde nickte. »Sie sehen, er ist nicht orientiert.«

      Die beiden anderen traten näher an Sperling heran.

      »Ich bin Richter Donnerschlag, und dies ist der Patientenanwalt Herr Fröhlich. Können Sie uns bitte aus Ihrer Sicht schildern, was sich zugetragen hat?«

      Ein Richter, Sperling seufzte erleichtert, er war also in Sicherheit. Doch das Sprechen strengte ihn an. Seine Muskeln schmerzten, und aus irgendeinem Grund lief andauernd Speichel aus seinem Mund. Warum nur war er gefesselt? Mühsam rang er nach Worten. »Ich, ich bin Inspektor.« Er musste innehalten.

      »So, Inspektor sind Sie?« Derjenige, der sich als Richter vorgestellt hatte, schien amüsiert, glaubte ihm offensichtlich nicht. Mit gedämpfter Stimme, aber laut genug, dass Sperling es hörte, tuschelte er mit dem Patientenanwalt. »Was die Leute sich so ausdenken? Einen Inspektor haben wir noch nicht hier gehabt.«

      Beide nickten zustimmend.

      »Man … man hat mich entführt.« Sperlings Schädel dröhnte bei jeder Bewegung, die Artikulation jeder Silbe zog sich endlos hin, aber er musste berichten, was geschehen war.

      »Sicher waren Sie einer großen Sache auf der Spur?«

      Donnerschlag nahm ihn nicht ernst, der Unterton seiner Worte war spöttisch. Was wurde hier gespielt? Sperling begriff es nicht. Sein Denken und sein Sprechen waren gehemmt. Er musste unter Drogen stehen.

      »Nun, weshalb sind Sie hierhergekommen?« Sperling schwieg, und der Richter blätterte in einer Akte, überflog darin eine Seite. »Aus dem Polizeibericht geht hervor, dass Sie gestern Nachmittag eingewiesen worden sind, weil Sie auf der Wipplinger Straße halbnackt, mit einem Brotmesser bewaffnet, hinter einer jungen Frau hergelaufen sind und gedroht haben, sie zu erstechen. Als eine Streife Sie aufgehalten hat, haben Sie den Versuch unternommen, sich die Pulsadern aufzuschneiden, sich dabei eine Verletzung an der linken Hand zugefügt. Sie haben einen akut verwirrten Eindruck gemacht, haben zum Kampf für die Säuberung unseres Landes von ausländischen Elementen aufgerufen und wurden daraufhin direkt hierhergebracht. Übrigens haben Sie sich auch den Einsatzbeamten gegenüber als Inspektor ausgegeben.«

      Der Richter schmunzelte bei dem Gedanken daran, wie ein Halbnackter sich am helllichten Tag auf der Straße mit einem Messer in der Hand den Polizeibeamten gegenüber als Kollege vorgestellt hatte. »Und dabei sind Sie – hier steht es schwarz auf weiß – von Beruf Kartenverkäufer bei den Bundestheaterkassen.«

      Da endlich stieg eine dumpfe Ahnung in Sperling auf.

      »Und … und wo bin ich?«

      »Im Pavillon 10 des Gesundheitszentrums Nibelheim.«

      »Auf der Baumgartner Höhe, in guten Händen.« Dieser Kommentar kam von Fröhlich, dem Patientenanwalt, und war alles, was dieser beizusteuern hatte.

      So schwer Sperling das Konzentrieren weiterhin fiel, war ihm nun klar, dass man ihn an den Steinhof gebracht hatte, wie der Komplex im Volksmund weiter hieß, in den als Stadt am Rande der Stadt gebauten, riesigen psychiatrischen Klinikkomplex, dessen Namen man immer wieder änderte, um von den traurigen Wahrheiten abzulenken, die hinter seinen Mauern Wirklichkeit geworden waren. Sperlings Mutter war hier gewesen, früher, während ihrer Psychosen. Er hatte sie besucht. Daher hatte er den Geruch der Station wiedererkannt. Erst jetzt bemerkte er, dass er unter der Bettdecke nackt war und in Ermangelung einer Toilette ins Bett gemacht hatte. Sein Zustand war erbarmungswürdig. War er psychisch krank, so wie seine Mutter, die