Im Wahn gefangen. Hans-Otto Thomashoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Otto Thomashoff
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839266823
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doch gar nicht.«

      »Dann erzählen Sie uns doch bitte Ihre Version.«

      »Es muss sich um eine Verwechslung handeln.« Er unterbrach sich selbst, denn kaum, dass er den Satz begonnen hatte, begriff er. Alles, was er sagte und was nicht diesem merkwürdigen Polizeibericht entsprach, wurde zu einem Beweis für seine Verrücktheit.

      Der Richter bestätigte diese Vermutung sogleich. »Ja, ja, wir verstehen Sie schon.«

      »Aber mein Ausweis.«

      »Den haben wir hier in den Unterlagen sichergestellt.« Jetzt sprach der dritte Mann, der sich bisher noch nicht vorgestellt hatte. Sein weißer Kittel wies ihn als Arzt aus. Er war von mittlerer Größe, hatte streng nach hinten gekämmtes graues Haar und trug über dem rechten Auge eine schwarze Augenbinde. Mit seinem stahlblauen linken fixierte er Sperling stechend. Bei aller Kälte, die dieser Arzt ausstrahlte, war seine Stimme klangvoll und von eigenartiger Schönheit. Er entnahm der Krankenakte in seinen Händen einen Ausweis und reichte ihn dem Richter.

      »Wolfsohn, Victor Salomon Wolfsohn, bitte sehr, da ist er.«

      Auch wenn sie ihn bis an den Rand der Bewusstlosigkeit mit Medikamenten vollgepumpt hatten, war Sperling jetzt im Bilde über das, was hier vor sich ging. Nur den Grund dafür kannte er noch nicht. Das Ganze war kein Zufall, sondern ein abgekartetes Spiel. Er war in die Psychiatrie eingeliefert worden, wurde dort festgehalten, und sie würden ihn nicht gehen lassen. Die einzige denkbare Erklärung, die ihm in den Sinn kam, war ein Zusammenhang mit Alice. Ob auch sie verschleppt worden war? Aber was mochten sie von ihm wollen, und wer waren sie?

      Der Richter räusperte sich, schaute auf seine Uhr und meinte dann an die anderen gewandt: »Ich glaube, wir haben uns einen ausreichenden Eindruck verschaffen können. Herr Doktor, Sie haben uns ja freundlicherweise bereits im Vorhinein eine eingehende Erläuterung des Sachverhalts abgegeben, und die hat sich uns eindrucksvoll bestätigt. Wenn Sie uns nun bitte noch Ihre Einschätzung zu Protokoll geben würden.«

      Gründlich auf seinen Einsatz vorbereitet, antwortete der Einäugige im Stakkato. »Der Betroffene leidet an einer akuten schizophrenen Psychose mit ausgeprägt wahnhafter Verkennung der Realität, sowohl die eigene Identität als auch die Orientierung betreffend. Krankheitsbedingt ist er hochgradig eigen- ebenso wie fremdgefährdend, weswegen eine weitere Unterbringung des Betroffenen einschließlich freiheitsentziehender Maßnahmen für einen Zeitraum von zumindest einer Woche aus fachärztlicher Sicht dringend indiziert ist. Wie ich Ihnen ja bereits im Detail ausgeführt habe, erscheint ein Netzbett in seinem Fall unzureichend, weswegen wir uns notgedrungen für eine Fixierung in Gurten unter engmaschiger Überwachung entscheiden mussten.«

      »Herr Anwalt?«

      Dieser nickte und schwieg.

      »Also eine Woche, gemäß Paragraf 3 Unterbringungsgesetz, beschlossen und verkündet, Wien, den … und so weiter … Meine Herren, ich danke Ihnen.« Der Richter stellte sein Diktiergerät aus, stand auf und ging hinaus, gefolgt von dem Patientenanwalt, mit dem er eine entspannte Unterhaltung begann.

      »Warten Sie!« Sperling nahm seine ganze Kraft zusammen. Wenn er wegen Alice hier war, befand er sich in den Händen einer skrupellosen Pharmamafia. Dann war das jetzt möglicherweise seine letzte Chance. »Das ist ein Irrtum. Sie müssen mir helfen! Ich bin entführt worden!«

      Ungerührt schenkten ihm Richter und Patientenanwalt keinerlei Beachtung mehr, und der Oberarzt nickte der Frau kurz zu, die Sperling geweckt und der ganzen Verhandlung beigewohnt, aber kein Wort gesagt hatte. Sie hielt bereits eine aufgezogene Spritze in ihrer Hand und war gleich bei ihm.

      »Nein!«

      »Es wird Ihnen guttun.«

      Ein flüchtiges Stechen, das Ziehen der eindringenden Flüssigkeit, und um Sperling herum versank die Welt wie ein sich plötzlich verflüchtigender Albtraum.

      6

      Aber es war kein Traum.

      Als Sperling wieder zu sich kam, herrschte Dunkelheit, und er war allein, lag nicht mehr auf dem belebten Gang. Sein Bett stand jetzt an einem Fenster, und er vernahm das sachte knisternde Geräusch von Schneeflocken, die wie freudig vom Himmel herunter in ihren Tod zu springen schienen. Er hatte keine Ahnung, welche Uhrzeit es sein mochte, die Nächte waren lang zu dieser Jahreszeit, begannen schon am frühen Nachmittag. Seine Glieder waren lahm und schmerzten. Er versuchte, einen Arm zu heben, aber er war immer noch bewegungsunfähig verschnürt wie ein Paket, konnte sich nicht drehen und wenden und fand so auch kein Entkommen aus den blitzartig einschießenden Muskelkrämpfen, die ihn von Neuem ohne Vorwarnung überfielen. Er gab sich Mühe, sich zu konzentrieren, sich zumindest die Illusion eines Auswegs aufrechtzuerhalten, doch es gelang ihm nicht. Sein Hirn schien zu einer zähen Masse verbacken zu sein, seiner Kontrolle entzogen wie sein Körper. Er war von einer Gleichgültigkeit befallen, die er so an sich nicht kannte. Hatte er sich aufgegeben, oder war auch dies eine Folge der Medikamente, die sie ihm einflößten? Nicht einmal Wut empfinden konnte er. Über allem lag ein zehrender Mehltau. Nur Warten blieb ihm, die Zeit wie in einem Dämmerzustand zu durchstehen, im Niemandsland, irgendwo zwischen Existenz und Auslöschung. Seine Hand strich in dem kleinen Kreis, den seine Fessel zuließ, über das Laken, und er spürte, dass sein Bett frisch bezogen worden sein musste. Und eine Hose hatten sie ihm übergezogen. Er hatte nichts davon mitbekommen. Äußerlich war er beinahe wieder er selbst, lediglich seiner Freiheit und seiner Kraft zu denken beraubt.

      Dort von oben, er hielt den Atem an, kam wieder Musik. Sie wurde lauter, war nun deutlich zu erkennen, wieder Wagner. In dem Raum über ihm spielte jemand die Walküre. »Niederspritzen und Dauerbeschallung mit Wagner«, dachte Sperling. »Leb wohl, du kühnes, herrliches Kind! Du meines Herzens heiligster Stolz! Leb wohl! Leb wohl! Leb wohl!« Das Finale der Walküre, Wotans schmerzlicher Abschied von Brünhilde, seiner Tochter, mit dem der Gott, gefangen im Konflikt zwischen scheiternder Pflichterfüllung und wahrem Gefühl, sein eigenes Ende besiegelte. Sperling lauschte dem Gesang, er war ihm ein Gruß der Zivilisation. Was für eine Aufnahme mochte das sein, rätselte er. Es war sonderbar, aber ja, er täuschte sich nicht, der Wotan wurde doppelt gesungen, wobei der begleitende Bariton ein klangvolles und eigenartig schönes Timbre hatte, aber offenbar kein perfektes Gehör. Voller Inbrunst sang er beharrlich an den Noten vorbei. So wohlklingend seine Stimme auch war, er scheiterte kläglich. Zum Zauber des Feuers drohte der zweifache Wotan mit der Spitze seines Speeres, und der Spuk war vorbei. Wieder war alles lautlos und schwarz.

      Mit dem Verstummen der Musik schien ein letztes Band zur Welt draußen gerissen zu sein. Eine tiefe Melancholie überfiel Sperling. Die Einsamkeit wurde ihm unerträglich. Würde er eines Tages so sterben, im letzten Atemzug die Isolation vollenden, die ihm im Laufe seines Lebens immer schonungsloser zur Gewissheit geworden war? Vielleicht war der Zeitpunkt näher, als ihm lieb war. Er hatte nackte Angst. Langsam legte sich seine Müdigkeit, die Wirkung der Spritzen schien nachzulassen. Umso deutlicher nahm er jetzt seine ausgelieferte Lage wahr, für die er immer noch keine Erklärung hatte. Jeder Moment erschien ihm endlos, hatte weder Vergangenheit noch Zukunft. Er wartete, ohne zu wissen worauf. Hatte er wieder etwas gehört? Nein, es herrschte vollkommene Stille. Die Luft war stickig, stand vor staubig trockener Heizungshitze. Ihn fröstelte längst nicht mehr, er hatte Durst. Gerne wäre er eingeschlafen, hätte er Kräfte gesammelt, aber auch das gelang ihm nicht. Er konnte sich nicht in ein Schicksal fügen, das er gar nicht kannte.

      7

      Gleißend hell blendete ihn das Licht ohne Vorwarnung. Panik schnürte ihm den Hals zu. Nichts geschah, bis seine blinzelnden Augen erkennen konnten, dass jemand bei ihm war. Wortlos stand der andere da, musterte Sperling. Es war der einäugige Arzt. Wehrlos war Sperling dem überlegenen Schweigen des Psychiaters unterworfen, bis dieser endlich das Wort ergriff. »Sie sind also wach, das ist gut so.«

      Als der Psychiater daraufhin aus der linken Tasche seines Kittels eine Spritzennadel hervorzog, ahnte Sperling, was nun auf ihn zukommen würde. Er wollte kurz rebellieren, gab aber gleich wieder auf, da er einsah, dass es keinen Sinn ergab. Vielleicht war es sogar besser, wieder zu schlafen, als die Dumpfheit der ausweglosen Situation zu ertragen.