Zukunftsträume. Corinna Lindenmayr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Corinna Lindenmayr
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783967526547
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mit unzähligen Kabeln und Schläuchen, die aus seinem jungen, zierlichen Körper ragten und sie hatte nichts davon verhindern können. Manchmal war das Leben echt ungerecht.

      »Frau Bender?« die Tür der Intensivstation wurde geöffnet und Dr. Kallert trat ein. Einmal nur, ein einziges beschissenes Mal wollte sie ihren richtigen Namen hören.

      Widerwillig drehte sie sich um. Sie wollte ihm nicht schon wieder unter die Augen treten. Es war nicht fair, dass wusste sie, aber er war nun einmal derjenige, der ihr eröffnete hatte, dass ihr Bruder vielleicht nie wieder aufwachen würde. Nun, so hatte er es zwar nicht ausgedrückt, aber wie oft waren Komapatienten denn schon aufgewacht? Niemand konnte sagen, ob ihr Bruder die Augen wieder aufschlagen würde oder ob er, gesetzt den Fall er käme wieder zu sich, ganz der Alte sein würde.

      Flüchtig dachte sie an Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung und so einen Kram. Himmel, ihr Bruder war kaum 11 Jahre alt. An so etwas sollte man in diesem Alter noch nicht denken müssen.

      »… Formulare ausfüllen.« holten sie die Worte des Arztes aus ihren Gedanken zurück.

      »Was?«

      »Sie müssten uns noch einige Formulare ausfüllen.« wiederholte Dr. Kallert steif. Sein Blick wirkte genauso sachlich wie eben. Aber irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass er, obwohl er immer noch mit ihr sprach, nicht sie, sondern Julia ansah. Vielleicht bildete sie sich das aber auch nur ein.

      Auch erinnerte sie sich daran, bereits in der Zeit in der sich Max im OP befunden hatte, sämtlichen Papierkram erledigt zu haben.

      Tja, offensichtlich nicht alles.

      »Ich komme.« Dann wandte sie sich an ihre Freundinnen. »Geht nach Hause. Es ist schon spät. Ich komme hier alleine klar.« Drei zweifelnde Augenpaare sahen sie an. »Ehrlich. Es ist okay. Wir können im Augenblick ohnehin nichts tun. Ich melde mich morgen bei euch.« erwiderte Hannah. »Versprochen.« Dann verließ sie mit Dr. Kallert den Raum. So sehr sie ihre Freundinnen auch liebte, brauchte sie jetzt einfach etwas Zeit. Zeit um erst einmal selbst mit all dem zurecht zu kommen, was geschehen war.

      »Das wird sie nicht tun.« Coco verschränkte die Arme vor ihrer Brust und sah die beiden anderen an. »Das hat sie noch nie getan.«

      »Das stimmt. Sie wird wieder versuchen alles alleine durchzustehen.« gab Tanja ihrer Freundin Recht. »Wie damals als Max diese schlimme Mandelentzündung hatte oder als sie selber diese hartnäckige Grippe bekam. Sie hat sich drei Tage lang kaum bewegen können. Trotzdem hat sie Max zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Jeden Tag.«

      »Von heute auf morgen allein zu sein muss sehr schlimm gewesen sein.« bemerkte Coco. »Sie tut mir so leid.«

      »Aber sie hat es geschafft.« Julia drehte sich entschlossen um. »Und sie wird es wieder schaffen. Max wird gesund werden.« Er musste einfach. Etwas anderes war nicht vorstellbar.

      »Ich werde hierbleiben und auf Hannah warten.« sagte sie entschieden. »Ich rufe euch an.«

       4. Kapitel

      »Es geht nicht um die Papiere.«

      Dr. Kallert lief neben Hannah in Richtung seines Büros. Sein Gang war schnell. Was in Anbetracht seiner Größe wohl normal war. »Aber das wollte ich vor ihren Freundinnen nicht sagen.«

      Überrascht drehte Hannah sich zu ihm um. »Um was geht es dann?«

      Sie musste sich anstrengen um auf gleicher Höhe mit dem Mann neben ihr zu bleiben. »Ein Polizist möchte mit Ihnen reden. Er wartet in meinem Büro auf Sie.« Beinahe wäre sie gestolpert. »Ein Polizist?«

      »Ja.« Dr. Kallert blieb kurz stehen und sah sie an. »Ich weiß, dass Sie sich Sorgen machen.« erwiderte er dann in diesem typischen Patiententonfall, der sie vermutlich beruhigen sollte. Bei Hannah jedoch genau das Gegenteil bewirkte.

      »Hören Sie,« redete der Arzt weiter, ohne sich auch nur einmal die Mühe zu machen, auf Hannahs entsetzen Blick zu achten. »Es wird sicher alles gut werden. Ihr Bruder ist bei uns in guten Händen.«

      Nur machte sich Hannah im Augenblick ausnahmsweise gar nicht um ihren Bruder Gedanken. »Ja, ich weiß.« Es konnte viele Gründe haben, dass die Polizei mit ihr reden wollte. Vielleicht benötigten sie nur eine Aussage oder mussten die Personalien aufnehmen für die weiteren Ermittlungen. Schließlich war vor wenigen Stunden eine ganze Schule explodiert. Natürlich würde die Polizei auf sie zukommen. Ihr Bruder war ein Opfer dieses Vorfalls. Es war alles in Ordnung. Reine Routine. Sie interpretierte da mal wieder viel zu viel hinein.

      Sie hatte fast ihr ganzes Leben mit Polizisten verbracht. Da war es doch verständlich, dass sie sofort an das Schlimmste dachte, oder?

      An jeden Ort an den sie gebracht wurden, waren sie von Leuten umgeben die für sie und ihre Familie verantwortlich waren. Menschen, für die sie ein Job wie jeder andere waren. Die Erinnerung daran deprimierte sie. So viele verschiedene Personen waren es gewesen, die sie kennen gelernt und wieder verlassen hatten. Personen, die mit ihnen Geburtstage und Weihnachten gefeiert hatten, als wären sie eine richtige Familie. Die meisten davon, waren sehr lange bei ihnen geblieben. Manche aber auch nur sehr kurz. Aber niemand auf Dauer. So wie eigentlich alles in ihrem Leben nicht auf Dauer war.

      Nur einer war all die Jahre derselbe gewesen. Polizeihauptkommissar Wiesner. Er war seit sie denken konnte der leitende Beamte ihres Zeugenschutzprogrammes, hatte ständig mit ihnen in Kontakt gestanden und ihr Leben organisiert.

      Das letzte Mal als sie mit ihm gesprochen hatte, war vor ziemlich genau drei Jahren gewesen. Kurz nach dem ihre Eltern verschwunden waren und er ihr erklärt hatte, dass sie von nun an auf sich allein gestellt wären. Seit diesem Tag hatte sie ihn nie wieder persönlich getroffen. Er hatte sie lediglich ein paar Mal angerufen. Vermutlich um sich zu vergewissern, dass mit ihr und Max noch alles in Ordnung war. Oder so.

      »Wie heißt dieser Polizist?« Sie hoffte inständig, dass sie sich irrte. Das ihr Gefühl sie trog. Es musste einfach so sein.

      »Wiesner, glaub ich.«

      Er war älter geworden.

      Das Haar war inzwischen fast ganz ergraut und er hatte hier und da ein paar Falten mehr im Gesicht bekommen. Er wirkte erschöpft und fast so, als würde ihm eine schwere Last auf den Schultern liegen. Aber vermutlich brachte das sein Job so mit sich. Leiter eines Zeugenschutzprogramms zu sein war sicherlich kein Zuckerschlecken. Sie kannte das nur zu gut. Es gab immer jemanden, der eine Gefahr darstellen würde. Fehler, die bittere Konsequenzen hatten. Man organisierte die kontrollierte Flucht in allen nur erdenklichen Situationen.

      Dabei waren es nicht die Menschen, mit denen man nicht zu Recht kam oder diejenigen, vor denen man diese beschützen musste. Es war das Leben selbst, dass einem so zusetzte.

      »Hallo Hannah.« Der Mann der hinter dem Schreibtisch saß nickte ihr leicht zu.

      »Herr Wiesner.« Hannah setzte sich auf den Stuhl gegenüber dem Mann, den sie bereits ihr ganzes Leben lang kannte. Sie konnte nicht sagen, dass sie sich über das Zusammentreffen freute, aber er war auch jemand, der sie in fast allen Lebenslagen begleitet hatte.

      Möglicherweise war die Tatsache, dass er nun hier war, auch durch Max Unfall begründet. Vielleicht wollte er einfach nur wissen, wie es ihm ging. Aber wahrscheinlich wusste er das schon.

      »Du fragst dich sicher warum ich hier bin nach all der Zeit.«

      »Und? Warum sind Sie es?«

      »Nun, ich denke nicht dass du das hören willst,« fing Herr Wiesner an und legte beide Hände auf den Schreibtisch. Dann sah er sie an.

      »Oh, ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass ich das nicht will.« erwiderte Hannah. »Aber das ändert nichts daran, dass sie es mir trotzdem sagen werden, richtig?« So wie damals. Die Erinnerung traf sie wie ein Schlag, hart und fest katapultierte er sie zurück in die Vergangenheit und sie konnte nichts tun um ihn aufzuhalten. Vor drei Jahren war sie Herrn Wiesner genauso gegenübergesessen wie jetzt, mit dem einzigen Unterschied,