»Deine Oberschenkel sind vollkommen in Ordnung.« versicherte ihr Julia. Beide ihrer Freundinnen hatten eine traumhafte Figur. Keine hatte es nötig, Sport zu treiben oder Diät zu machen. Wenn dann schon eher sie. Nur konnte sie sich leider ein Fitnessstudio nicht leisten.
»Na ja, mal sehen. Vielleicht begleite ich dich.« sagte Coco zu Tanja und lief um den Tisch herum. Diese folgte ihr. »Wir sollten alle hingehen. Das wäre bestimmt lustig.« Julia zuckte leicht zusammen. »Ich stehe nicht so auf Fitnessstudios.« beeilte sie sich zu sagen.
»Du musst ja nicht wegen dem Sport hin. Zumindest nicht ausschließlich.« Coco zwinkerte ihr zu.
»Ja, ja. Schon klar.« Julia steckte das Geld, das Coco ihr gegeben hatte in den Geldbeutel. »Geht ihr mal schön ins Fitnessstudio. Ich werde versuchen mir meinen Kerl auf der Straße zu angeln. So schwer wird das schon nicht sein.«
Coco und Tanja sahen nicht sehr überzeugt aus.
»Zahlen bitte!« rief dann einer der Gäste und Julia drehte sich, erfreut über die Ablenkung, eilig zu ihm um. »Ich komme sofort.« versicherte sie ihm, warf Tanja und Coco noch einen entschuldigenden Blick zu, dann floh sie in Richtung des Mannes, der sie gerufen hatte.
Mit ein wenig Glück konnte sie an diesem Tag wieder ein schönes Sümmchen Trinkgeld verdienen, welches sie natürlich sofort in ihre Spardose stecken würde um endlich das Geld für die Kosmetikschule zusammen zu haben, die sie schon seit ihrem Schulabschluss besuchen wollte.
»Macht 14,80 EUR.« Sie reichte dem älteren Mann die Quittung, der ihr daraufhin fünfzehn Euro entgegenstreckte. »Stimmt so.« Julia nahm das Geld, bedankte sich und stopfte die kläglichen 20 Cent in ihre Schürzentasche. So würde sie ihr Leben lang hier schuften müssen.
Als Hannah ins Freie trat, spürte sie die unglaubliche Hitze dieses Tages.
Die Sonne schien mit voller Kraft und keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen. Die Temperaturanzeige an der Haltestelle hatte 38 Grad angezeigt. Hannahs Kleid klebte an ihrer Haut während sich die Metallschnalle ihrer Handtasche brennend heiß auf ihren Oberschenkel drückte. Sie war jetzt schon über zwanzig Minuten zu spät und da sie heute morgen ihr Handy in dem vollen Spülwasser versenkt hatte, konnte sie noch nicht einmal Max anrufen um ihm Bescheid zu geben.
Es war doch zum verrückt werden. Sie schob sich eine widerspenstige Locke hinters Ohr und versuchte sich einzureden, dass es egal war. Das Max schon warten würde. Aber das war es nicht. Und das würde es vermutlich auch nie sein. Wie sollte sie auch jemals diese fürchterliche Angst ablegen? Es würde keine Rolle spielen, dass ihr Bruder älter wurde oder irgendwann sein eigenes Leben haben wollte. Sie würde sich immer Sorgen machen.
Als Hannah in die Straßenbahn einstieg erinnerte sie sich an damals. An jenen Tag vor drei Jahren, der ihr Leben erneut über den Haufen geworfen hatte. Es war ein genauso heißer und schwüler Septembertag gewesen wie heute. An diesem Tag hatte sie zum allerersten Mal die ganze verdammte Situation verflucht. Sie war wütend gewesen. Auf sich, auf ihre Eltern und auf ihr ganzes verkorkstes Leben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie immer versucht damit klarzukommen, hatte alles so akzeptiert wie es gekommen war. Es konnte nicht immer alles perfekt sein. Sie hatte gelernt das zu verstehen und nicht zu hinterfragen warum gerade ihr und ihrer Familie dieses schwere Schicksal wiederfahren war. Sie wusste, dass das nicht helfen würde, nichts an der Situation änderte, also warum sollte sie sich damit unnötig quälen? Manche Fragen blieben eben ein Leben lang unbeantwortet.
Aber dieser Schlag war einer zu viel gewesen. Mit einem Mal waren die wichtigsten Stützen in ihrem Leben verschwunden und sie hatte bis heute nichts von ihnen gehört.
Sie erreichten die nächste Haltestelle und ein warmer Windstoß kam durch die geöffnete Tür, während ein paar Fahrgäste ausstiegen und neue dazukamen.
Wo zum Teufel waren nur ihre Eltern?
Drei Jahre waren nun schon vergangen. Drei Jahre in denen sie versucht hatte, ein Dach über dem Kopf zu behalten, einen Job zu finden und ihrem kleinen Bruder vorzulügen, dass Mama und Papa bald zurückkämen. Das Schlimmste aber war, dass sie Max irgendwann die Wahrheit sagen musste. Eine Wahrheit, die sie selbst nicht verstand.
Die Türen schlossen sich und die Straßenbahn setzte sich wieder in Bewegung.
Hannah war spät dran. Die Kirchenuhr schlug bereits halb vier und noch immer keine Spur von seiner Schwester.
Ihm war heiß und er hatte keine Lust mehr in dieser Hitze zu warten. Aber er wusste, dass er sich nicht alleine auf den Weg nach Hause machen durfte. Das hatten ihm zuerst seine Eltern und dann auch Hannah konsequent beigebracht. Max seufzte. Seine Schwester meinte es gut, aber sie machte sich definitiv zu viele Sorgen und sie führte sich oft ziemlich komisch auf, was Treffen mit seinen Freunden anging. Sie war seine einzige Bezugsperson seit seine Eltern plötzlich nicht mehr da gewesen waren und er liebte sie, aber mal ehrlich, manchmal konnte sie echt nervig sein. Er wusste, dass sie ihn nur beschützen wollte, doch es gab einfach Momente, da wollte er das nicht mehr. Hannah hatte ihm erklärt, dass seine Eltern auf einer langen Reise wären um armen und kranken Kindern zu helfen und sie ihn sehr vermissen würden. Jeden Monat kam eine Karte in der sie versicherten, bald zurückzukommen und ihn und Hannah sehr lieb hatten.
Er wusste, dass das nicht stimmte und dass Hannah die Karten schrieb, aber das konnte er ihr nicht sagen. Er wollte ihr den Glauben nicht nehmen, dass sie ihm dadurch Hoffnung schenkte. Hoffnung darauf, dass sie irgendwann zurückkamen. Noch so ein Punkt, den er längst hätte klären sollen.
Er war sieben Jahre alt gewesen als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Und wahrscheinlich würde es auch dabei bleiben. Er hatte aufgehört an Wunder zu glauben. Er war alt genug für die Wahrheit, Hannah würde das akzeptieren müssen.
Natürlich vermisste er seine Eltern. Das würde er immer tun. Aber auch wenn er jeden Tag trauern würde, konnte das nichts daran ändern, dass sie nicht mehr da waren. Er wollte seine Kindheit nicht damit verbringen, nur daran zu denken und darüber zu grübeln, warum seine Eltern verschwunden waren oder was mit ihnen passiert war. Er wollte mit seinen Freunden spielen, an Eishockeywettkämpfen teilnehmen und Spaß haben.
Sein Leben war gut so wie es war. Aber langsam war es an der Zeit
selbstständig zu werden. Er konnte nicht zulassen, dass Hannah immer alles für ihn stehen und liegen ließ nur um ihn irgendwo hinzubringen oder ihn abzuholen.
Es war Zeit erwachsen zu werden.
Er hinterließ ihr eine Nachricht auf der Mailbox und machte sich auf den Weg zur Haltestelle.
Es war gar nicht so schwer gewesen, unbemerkt in die Grundschule von Max Christensen einzudringen. Aber darin war er schon immer gut gewesen. Er war darauf ausgebildet worden, sich im Hintergrund zu halten und immer dort zu sein, wo niemand ihn vermutete. Und auch jetzt gelang es ihm mehr als mühelos das zu tun was er wollte. Er war kein Mann der sich leicht aufhalten lies, schon gar nicht, wenn er noch dazu ein persönliches Interesse hatte. Er war ein ausgebildeter Navy-Seal und Scharfschütze. Außerdem hatte er sich während seiner Dienstzeit als Bombenentschärfer ausbilden lassen. Er wusste, was er tun musste um einen Sprengsatz auszuschalten, aber auch was zu tun war um einen zu bauen. So viele Jahre waren vergangen, seit jenem Tag, der sein Leben zur Hölle gemacht hatte. Jahre in denen er immer nur ein Ziel gehabt hatte: Rache.
Und diese Rache würde er jetzt nehmen. Nach fast fünf Jahren hatte er es geschafft endlich das zu finden, wonach er seit dieser Zeit gesucht hatte. Er würde das Vollenden auf das er solange gewartet hatte. Vielleicht musste er hier und da etwas an dem ursprünglichen Plan verändern, aber das war ihm egal. Er war stets loyal gewesen, hatte die Aufgaben erledigt die ihm aufgetragen wurden und er würde auch diese erledigen, aber zu seinen Bedingungen.
Kurz bevor Hannahs Straßenbahn die Haltestelle der Schule endlich erreichte machte es einen fürchterlichen Knall und eine enorme Feuerbrunst explodierte am Himmel. Der Boden begann zu vibrieren. Erst leicht,