Die klare Sonne bringts doch an den Tag. Klaus Scheidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Scheidt
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783981864267
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ja, wir waren schon nicht schlecht.« Stormann mühte sich, mit Hilfe des anderen Arms die Verpackung unter der linken Achsel zusammenzustauchen.

      »Abgesehen von der Leiche in der Kiste mit den ...«

      »Hör bloß auf, sonst werfe ich deine Angel in die Alster.«

      »Schon gut, was steht denn nun auf dem Wisch?«

      Stormann wedelte mit dem Zettel. «... und das hier scheint ein Corpus Delicti zu sein oder sogar ein Geständnis. Bei einem Kommentar zu so einem Titel ahne ich schon den letzten Satz, ohne die Story zu kennen: »... und die Moral von der Geschicht’, erwischt wird jeder Bösewicht!«

      »Was steht denn nun drauf?«

      Nun fasste Stormann auch mit der rechten Hand das Papier und hielt das Blatt nah vor seine Augen. »Das scheint tatsächlich ein Stück aus einem Schulaufsatz zu sein ... wohl geschrieben von dem aufs Erbe wartenden Buchverkäufer. Als Krakelloge, ähm, Graphologe würde ich diese wackelige Schrift und den Ausdrucksstil einem elf- oder zwölfjährigen Jungen zuordnen.

      Also, der hat geschrieben: Gestern habe ich als Vorleseübung meiner Familie das Märchen ‚Die klare Sonne bringt’s an den Tag‘ von den Gebrüdern Grimm vorgelesen. Das Märchen, das ich lesen üben soll, hat mein Opa ausgesucht, er hat einen Fingernagel in das Buch reingesteckt und aufgeklappt und gelacht und gesagt ‚Nun lies mal schön vor‘. Ich habe das Märchen vorgelesen und alle haben gut zugehört, nur mein Opa regte sich auf und sagte ‚Das kommt nicht alles raus, nee, nee. Sowas gibt’s, Gott sei Dank, nur im Märchen, sowas.‘ ,Opa, was kommt nicht raus?‘, habe ich gefragt und meine Eltern haben sich nur angeschaut. Und mein Opa hat sich noch mehr aufgeregt und ist weggegangen und Papa hat gesagt ‚Dein Opa hat was, was ihn bedrückt, ich weiß nicht was, aber er stöhnt nur und sagt nichts und ich soll ihn nie mehr fragen danach und nicht mehr daran denken‘ und es geht mir aber immer noch im Kopf rum und ich schreibe das auch hier und frage nicht weiter. ‚Malte, komm mal her!‘, rief mein Großvater einige Tage später und ich ...«

      Stormann ließ mit der Linken das Blatt los und wedelte damit hin und her. »... und der Rest des Aufsatzes fehlt leider.«

      Brüwer sah vom Buch auf. »Wohl mit einer schlechten Note bewertet und darum abgerissen und verbrannt worden.« Stirnrunzelnd schlug er eine Seite um. »Tja, dieser Opa scheint ordentlich Dreck am Stecken zu haben. Vielleicht ‘ne alte Jugendsünde. Was meinst du? Wieder reinlegen und das Buch zuklappen?«

      »Ich glaube ja auch nicht, dass etwas Besonderes daran ist.« Stormann ließ den rechten Arm sinken und schaute lange auf den Zettel hinab. »Mir geht es eher darum, ob es für unseren Studenten ein Erinnerungsstück sein könnte. Darum würde ich es ihm gerne wiedergeben.«

      Ohne das Buch loszulassen, blickte Brüwer auf seine Armbanduhr. »Noch würdest du ihn auf dem Fischmarkt antreffen, ansonsten kannst du ihn suchen wie eine Nadel in einem Heuhaufen namens Hamburg.«

      »Es gibt einen Anhaltspunkt: Reederei Jügesen und Sohn. Die darf er eines Tages erben.«

      »So? Dann bist du ja schon auf dem richtigen Weg.« Schräg über den Wasserspiegel der Außen-Alster hinweg zeigte Brüwer auf einige Uhlenhorster Stadtvillen. »Dieser Schifffahrtsgesellschaft gehört weiter hinten am Kanal ein rötliches höheres Haus; von hier aus siehst du noch das Glasdach. Das ist der Stammsitz der Firma, und die Familie des Inhabers wohnt oben im Loft. Das weiß ich, dort war ich nämlich mal wegen mehrerer Zeugenbefragungen. Da hast du sogar heute noch eine Chance, obwohl Sonntag ist.«

      Stormann schob die Seite des Schulhefts zwischen die nächsten beiden Blätter der märchenhaft geschriebenen Parabel über höhere Gerechtigkeit, nahm Brüwer das Buch ab, klappte es zu und schob den Wälzer wieder in die Umhüllung. Entschlossen wandte er sich um. »Dann gehe ich erst mal weiter statt zurück. Kommst du mit oder willst du hier Wurzeln schlagen?«

      »Falls du die Fähre nimmst ...«

      »Das dauert mir viel zu lange, bis die wieder hier ist, außerdem war ein Spaziergang um die ganze Außenalster abgemacht. Aber bleib getrost hier, denn ich komme auf meiner Runde sowieso bei ‚Fisch Böttcher‘ vorbei und werfe einen Bestellzettel in den Briefkasten ein. Als Spende von mir an dich sollen sie am Dienstagmorgen einen wunderschönen riesengroßen und erst montags frisch in diesem Gewässer gefangenen Fisch zu dir nach Hause bringen.«

      Mit solcher Wucht riss Brüwer die Angelrute aus dem Rasen, dass ein Stück Soden am Griff hängen blieb. »Mach dich jetzt auf die Socken, sonst gibt‘s gleich einen frisch gefangenen Stormann-Stör!«

      »Störe gibt es hier nicht. Das habe ich dir schon gesagt. Welse erst recht nicht.«

      Mit beiden Händen packte Brüwer die Rute wie einen Spieß und versuchte, seinen Ex-Kollegen mit dem stumpfen Ende ins Alsterwasser zu stupsen. »Dann sorge ich jetzt dafür, das es endlich hier einen gibt.«

      Jedoch wich Stormann geschickt aus und schmunzelnd deutete er einen Salut an, indem er mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger an die Krempe seines Panamahuts tippte. Während des Fortgehens wandte er sich noch einmal um. »Übrigens ist Angeln ohne Schein hier verboten. Pack ein und komm mit, wenn du dein ganzes Angelzeug nicht gleich wieder loswerden willst.«

      »Bah, das wird schon gut gehen.« Mit Hingabe widmete sich Brüwer wieder seinem Hobby. »Zisch endlich ab.« Abrupt wandte er sich noch einmal um. »Übrigens wird dein Enkel diese alte Frakturschrift gar nicht lesen können. Du wirst schon sehen.«

      *

      Schleswig-Holstein, Kreis Herzogtum Lauenburg,

      Herrenhaus von Jügesen im Billetal

      am Nordrand des Sachsenwaldes

      Freitag, 3. Mai 1918 – nachmittags

      Banner- und Reichsfreiherr Otto von Jügesen nähert sich zu Fuß der Einfahrt zum Gutshof seiner Familie. Er keucht unter der Last seines Seesacks und der großen Umhängetasche, außerdem trägt er einen wetterfesten Ledermantel über seiner Offiziersuniform. Am gusseisernen, haushohen Torgitter angelangt, stellt er sein Gepäck ab und verschnauft; zum wiederholten Mal verflucht er in Gedanken seinen Wagen, dessen Motor nur drei Kilometer vor dem Ziel elendig verreckt ist. In der freien Natur, mitten auf dem einsamen Weg nach Hause, ist an eine Reparatur nicht zu denken; die ‚Karre‘ samt hilflosem Chauffeur lässt er einfach stehen. ‚Popel-Kiste‘ tauft er seinen nagelneuen ‚Opel 9/25 PS Doppelphaeton‘ sogleich und tritt vorm Fortgehen mit Wucht gegen das linke Vorderrad.

      Der 26 Jahre alte Oberleutnant zur See zieht einen handspannenlangen, eisernen Schlüssel mit breitem Bart aus der rechten Manteltasche und steckt ihn ins metallisch glänzende Schloss. Er öffnet, zieht sein Gepäck hinein und schließt hinter sich wieder ab. Ein letztes Mal schultert und hebt er seinen Ballast. Aber das Schreiten auf der knapp einen Kilometer langen Allee zum Herrenhaus fällt ihm bei jedem Ausholen leichter, denn er ist sicher, seine Ehefrau wartet auf ihn; Gertrud von Jügesen ist erst seit vier Monaten mit ihm verheiratet.

      Eine Überraschung will er ihr nun bereiten, schleicht sich hinein in die gute Stube und sieht sie nebenan nahe dem Fenster sitzen. Sie beugt sich über eine Stickerei und schaut nicht hinaus, denn sie geht davon aus, das Knattern des Motors zu hören, bevor der Wagen über die viertelbogenförmige Rampe hinauf bis vor die weitgeschwungene Steintreppe des Haupteingangs gelenkt wird. Eine Strähne ihres blonden Haars hat sich aus dem Dutt gelöst und reicht hinab bis auf den Rahmen der Stickerei. Sie schwingt ihren Kopf zur Seite, damit die Strähne nicht bei der Arbeit stört. Ottos Herz schlägt schneller und er würde sich am liebsten zu ihren Füßen niederstürzen.

      Jedoch besinnt er sich, geht rücklings bis zum Haupteingang zurück, schließt von außen und klopft ans hölzerne Gebälk, erst sacht, dann fester; klingeln will er nicht, denn der Ton der Schelle ist ihm zu schrill. Jedoch ist ein Dienstbote zuerst an der Tür, verbeugt sich tief und abgetaucht bleibend nimmt er die vor der Tür abgestellten Mitbringsel an sich. Eilends zieht er sich zurück, als Gertrud von Jügesen, geborene von Reinern, ihrem Ehemann entgegenkommt und ihn so innig, wie der Anstand es zulässt, in die Arme schließt.

      Die