Die klare Sonne bringts doch an den Tag. Klaus Scheidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Scheidt
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783981864267
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»Dieser schwere Wälzer? Mein ältester Enkel ist zehn Jahre jung und kann solch ein Buch kaum heben.«

      »Aber das braucht er gar nicht, er kann es auf den Fußboden legen und darin blättern – so wie ich damals. Das reicht und der Inhalt ist bestimmt das Richtige für sein Alter.«

      Ein wenig übertrieben seufzend packte Stormann das Buch an der Vorderkante und legte dafür mit der Linken ein anderes edles Druckwerk auf den Stapel loser Bögen; anschließend las er den Rückentitel halblaut vor: »Die schönsten Märchen der Gebrüder Grimm.«

      »Na, was habe ich Ihnen gesagt?«

      »Das soll ich verschenken? Sehen Sie doch selbst: Die Ränder des Einbands sind abgestoßen, einige Seiten sind angerissen, überall Eselsohren und sonstige Missbrauchsspuren.«

      »Das war ich. Damals. Aber ich habe keine Blätter rausgerissen.« Hastig hob der junge Jügesen seine rechte Hand und beeidete mit drei gestreckten Fingern. »Ehrlichschwör! Und ich habe auch nicht darin herumgeschmiert.«

      »Tja. Ein altes Buch ist nun mal gebraucht.« Stormann wog es mit der Rechten. »Und dieses hier ist trotz der rüden Attacken eines respektlosen Bücherwurms immer noch ein stattliches Exemplar.«

      »Einhundert De-Mark.« Die Backen von Malte Jügesen blieben rot, dieses Mal wegen des Handelseifers, denn er musste ja noch seine Mission erfüllen.

      »Na, na, so gut hat es Ihre exorbitante Lesebegeisterung nun auch wieder nicht überstanden.«

      »Neunundneunzig.«

      »Zehn.« Zweimal spreizte Stormann alle Finger der Linken.

      »Achtundneunzig.«

      »Einen Moment mal, lieber Herr Jügesen, wenn Sie so weitermachen, schaffen Sie Ihre Deadline nicht. Wir machen es kurz und treffen uns in der Mitte – fünfzig.«

      »Fünfundfünfzig! Sie haben bei zehn angefangen.«

      »Na gut, meinetwegen, aber nur weil Sie es nötig haben – fünfundfünfzig.« Begütigend hob Stormann die linke Hand, während er mit der anderen das Buch ablegte und seine Brieftasche aus der inneren linken Brusttasche seines Jacketts holte. »Bitte gut einpacken, ich gehe noch nicht nach Hause.«

      Hastig umwickelte Jügesen das Buch mit mehreren Zeitungsbögen des Abendblatts; von seinem extrabreiten Paketbandabroller zog er hellbraunes Klebeband ab, rundherum und kreuz und quer. »Wetterfest!« Er beugte sich vor und legte das Werk auf den beschwerten Stapel loser Blätter.

      »Na na, ein seriöser Paketdienst würde das ganz bestimmt nicht annehmen«, brummelte Stormann, während er die noch sichtbare Titelzeile der Wirtschaftsnachrichten las: ‚Der Euro kommt – ganz sicher‘. »Aber bis zur Außenalster hält es wohl, da treffe ich meinen Kollegen.«

      »Ex-Kollegen.«

      »Auch daran muss ich mich erst noch gewöhnen.«

      Karl Stormann reichte Malte Jügesen drei Zwanzig-Deutsche-Mark-Scheine, winkte mit der Linken gönnerhaft ab, während er die nun freie rechte Hand zum Abschied bereit hielt. Er drückte so kräftig, dass er den wesentlich Jüngeren sogar ein wenig in die Knie zwang, denn dieser war längst nicht so athletisch wie er selbst. »Ich drücke Ihnen beide Daumen, dass Sie erfolgreich sind.« Er klemmte sich den Packen unter die linke Achsel, zwinkerte aufmunternd und wandte sich ab Richtung Innenstadt, um an die Alster zu gelangen.

      Abrupt wandte er sich noch einmal um und unauffällig imitierte er mit rechtem Daumen und Zeigefinger Hahn und Lauf eines Revolvers. »Wirklich keine Dummheiten mehr! Ja?«

      »Neiiin! Ehrlichschwör!«

      Beruhigt ging er weiter.

      »Ich werd‘ ganz bestimmt noch mal so richtig bekloppt wegen euch!«, schallte es zum wiederholten Mal in seine Ohren, unterlegt von rhythmischem Knallen, verursacht von Vollkontakten zweier Hartwürste mit zwei Holzbrettern eines Verkaufstandes.

      *

      Freie und Hansestadt Hamburg,

      Bezirk Eimsbüttel, Stadtteil Rotherbaum, Alstervorland,

      Westufer der Alster, nähe Fährdamm/Alsterschiffanleger

      Sonntag, 26.08.2001, 8:00 Uhr

      Clemens Brüwer, über zwei Zentner schwer, saß auf einem mit signalrotem Stoff bezogenen Klappstuhl aus Aluminium, die großen Hände umfassten das Knie seines linken Beins, welches er übers andere geschlagen hatte. Sein Blick schweifte über die sich kräuselnde Wasserfläche der Außenalster sowie die luftigen Fassaden der gegenüber stehenden Stadtvillen.

      Gelegentlich beobachtete er die leicht durchhängende Angelschnur und ersehnte das Untergehen des Schwimmers, hinabgezogen vom größten Fisch, der je in diesem Gewässer gelebt hatte. Jedoch bewegte sich das über zwanzig Meter entfernte knallrote Hütchen stets nur im Rhythmus winziger Wellenlinien, verursacht von der Fähre, die nach Uhlenhorst abgefahren war.

      »Ich dachte, wir gehen eine flotte Runde um die Außenalster, stattdessen schlägst du hier Wurzeln.«

      Diese Stimme kannte Brüwer wie keine andere; er wandte ruckartig seinen Kopf und sah den Rufer näher kommen. Sogleich fiel ihm das wirre Päckchen auf, welches unter der linken Achsel von Karl Stormann klemmte.

      »Moin, Kalli! Wo bleibst du denn schon wieder?« Mit hochgezogenen Brauen sah Brüwer dem Ankömmling entgegen. Mit rechtem Zeige- und Mittelfinger schob er die Schiebermütze ein wenig nach hinten, sodass der Ansatz seiner Stirnglatze sichtbar wurde. »Du wolltest viel früher hier sein.«

      »Guten Morgen, Klemmi. Ich war sogar noch früher auf wie sonst. Deswegen habe ich einen Abstecher zum Fischmarkt gemacht; jedoch habe ich dort mehr Zeit verbracht, als ich dachte.« Verstohlen linste Stormann nach dem Packen. »Aber es scheint sich gelohnt zu haben.«

      »Meinst du?« Erneut hob Brüwer die Brauen. »Das muss es! Denn mich hier einfach sitzen zu lassen ...«

      »Wieso nicht, was sonst noch macht denn ein Angler?«

      »Er denkt über das Leben, die Welt und den Rest des Universums nach. Zum Beispiel erinnere ich mich gerade an einen unserer Mordfälle, jenen damals im Angelcenter in Schnelsen. Weißt du noch, was für ein Gesicht du gezogen hast, als wir die nackte Leiche in der mannsgroßen Metallkiste fanden, randvoll mit satten Tauwürmern?«

      »Hör sofort auf!«

      »Du guckst schon wieder genau wie damals.« Brüwer lachte dermaßen, dass rund um seine Gürtellinie herum der Wohlstandsspeck wabbelte. »Und was hast du dich geschüttelt und auch noch fast reingekotzt. Aber die Leiche hatte ja auch ausgesehen wie ...«

      »Klemmi, bitte! Hör sofort auf mit diesem Horror, sonst verschwinde ich auf der Stelle.«

      »Ja, ja, schon gut. Nur fällt mir beim Angeln partout nichts Besseres ein.«

      »Dann wird es höchste Zeit, dass du auf andere Ideen kommst: Nämlich mit deiner herzallerliebsten Ehefrau endlich wieder mal etwas zu unternehmen.«

      »Hör sofort auf!«

      »Ja, jetzt schüttelst du dich.« Stormann blickte angriffslustig. »Ich stelle mir gerade vor, wie du mit ihr einen wundervollen Ausflug machst nach ...«

      »Kalli, bitte! Hör sofort auf mit diesem Horror, sonst werfe ich dich in die Alster. Meine Frau geht doch noch jahrelang arbeiten und hat gar keine Zeit mehr für mich, weil sie mich als Rentner erst recht nicht für voll nimmt. Das weißt du ganz genau.«

      »Und du weißt ganz genau, wovor ich mich ekle. Also sind wir jetzt quitt.«

      »Ausnahmsweise mal«, murmelte Brüwer und winkte mit routinierter Geste ab, dann bückte er sich und nahm die Angel aus der Halterung.

      »Nein, sondern stets wie gehabt.« Stormann wedelte wie üblich mit dem Zeigefinger. »Du hoffst wohl immer noch, du könntest mich jemals verbal übertrumpfen.«

      »Einmal schaffe ich es. Wetten wir?«