Ein Samstag in Sydney. Gail Jones. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gail Jones
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960541493
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so viel wusste sie.

      Ausfindig gemacht hatte James Ellie durch eine gemeinsame Freundin, die eine kleine Lifestyle-Kolumne in einer Tageszeitung schrieb. Ellie hatte ihn nicht mehr gesehen, ungefähr seit sie fünfzehn waren, und war neugierig, weshalb James sich nun aus heiterem Himmel mit ihr treffen wollte.

      Er war ein gut aussehender Junge gewesen, groß – einer jener Highschool-Schüler, denen der spätere Erfolg sicher war –, aber sie hatte auch den James gekannt, der eine Straßenecke weiter wohnte, das einzige Kind einer vom Vater verlassenen Mutter. Er war der Junge, der allein Fahrrad fuhr und scheinbar keine Freunde hatte. Sie erinnerte sich, wie er in der körnigen Lavendeldämmerung die Straße auf und ab radelte, auf dem Hinterrad fuhr, Staub aufwirbelte und, als es dunkel wurde, wieder verschwand. Die Gestalt eines Jungen. Eine einsame Gestalt. Selbst da sah sie eine stumme Gequältheit in seiner monotonen Routine, im bedeutungslosen Schlittern über den Kies.

      Manchmal hörte sie seine Mutter James rufen; sie rief ihn zum Essen, bestand auf seiner Gesellschaft, sie sprach Italienisch, um ihren Sohn an ihre Seite zurückzuholen. Manchmal nahm das Rufen kein Ende. Ellie wusste, wo sich James versteckte, wenn er nicht entdeckt werden wollte, hätte es aber niemals verraten; das gehörte zu ihrem Pakt. In dem schmalen Spalt zwischen Schulende und Abendbrot, in dem sich die Kinder erholen oder einen Ort abseits der Enge eines Schreibtischs und allgemeiner Vorschriften fanden, kehrte James in ihr Versteck zurück, wo er ungestört und selbstbeherrscht sein konnte, wenn er nicht gerade Fahrrad fuhr.

      Erwachsene unterschätzen das Maß an Einsamkeit, das nötig ist, um dem Schulleben etwas entgegenzusetzen. Ganze Generationen von Schulkindern sehnen sich danach, in Ruhe gelassen zu werden. Überall. Millionen. Einfach nur in Ruhe gelassen zu werden. Um in launischem Lärm oder in Stille die Zuflucht zu finden, die ihnen abhanden kam.

      Zwischen Spott und Meisterschaft fand James seinen eigenen Weg, und als er am Ende der zehnten Klasse ein Stipendium an einer Jungenschule in der Stadt bekam, wunderte sich niemand, dass er wegging. Seine Mutter war stolz und zu Tode betrübt. Ellie sah sie ein beschränktes Leben leben, gegen Ende des Tages lauerte sie stets im Morgenmantel unweit des Briefkastens. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich anzuziehen oder den Tag von der Nacht zu trennen. Ihr Gesicht wirkte völlig erschöpft und ihr Gebaren unstet; ihr verfilztes Haar stand um ihr trauriges, fast puppenartiges Gesicht ab. Sie hatte sich eine Geste des Bindens und Lösens ihres Gürtels angewöhnt, sodass ihre Hände ständig eilig agierten und nicht stillhalten konnten. Sie redete auf Italienisch mit sich selbst, unterstrich ihren Ausländerstatus, erklärte allen, sie sei in ihr Geburtsland zurückgekehrt und nun dort eingeschlossen, allein, durch Worte andernorts gebunden. Die Leute tratschten, verachteten oder bemitleideten sie auf meist stumpfe und wenig hilfreiche Weise, nahmen ihre Hände, sodass sie allein wegen der menschlichen Berührung in Tränen ausbrach, stellten ihr Essen auf die Veranda, das zu essen sie sich allerdings weigerte. Der Verein der Landfrauen versuchte, sie in Einkaufsausflüge und soziale Aktivitäten einzubeziehen. Wie Ellie gehört hatte, wurde am Schluss dem Amt lediglich mitgeteilt: Die Frau sei eine Gefahr für sich selbst.

      Eines Tages war James’ Mutter nicht mehr da. Ellie wartete und beobachtete, aber Mrs DeMello kehrte nicht zurück. Ellie starrte den Briefkasten an, so wie sie seine Besitzerin angestarrt hatte, und spürte, dass es einen heimlichen Beschluss gegeben haben musste.

      »Klapse«, sagten die Nachbarn. »Die haben sie in die Klapse gesteckt.«

      Und Ellie stellte sich einen stummen, verzweifelten Ort vor, voller Menschen, die auf dieselbe Art beraubt waren wie Mrs DeMello, deren Gesichter sich nervös hinter vergitterten Fenstern aneinanderreihten, die Augen krank aufgrund des Verrats.

      Ellie wünschte, sie hätte geantwortet, als Mrs DeMello ihren Sohn in der Abenddämmerung gerufen hatte. Inzwischen wusste sie, was es bedeutet, wenn ein Rufen unbeantwortet bleibt und die eigene Stimme nicht so schallt, wie sie soll. Und Teil des Unglücks dieser Frau war zu wissen, dass auch James sie verlassen hatte, erschrocken über die eigenen Enthüllungen und ihre gemeinsame Intimität.

      Obwohl Ellie James vermisste, konnte sie niemandem davon erzählen. Es gab keine Zusammenfassung der Schnittstellen zweier junger Leben, oder dessen, was sie taten, oder wo sie sich versteckten. Nachdem er sich in die vornehme Schule verabschiedet hatte, schrieb James nie, nahm keinen Kontakt auf. Er war einfach weg. Auch beantwortete er keine Briefe oder kam zu Besuch nach Hause. Erst als er ein Universitätsstipendium erhielt, begriffen sie das Ausmaß seines Erfolgs und der öffentlichen Wirksamkeit seines glanzvollen Lebens. Ellies Eltern lasen ihr den Artikel aus der Lokalzeitung am Telefon vor, aber da lebte Ellie bereits selbst in der Stadt, besuchte die Universität und führte ein anderes Leben. Sie widerstand so weit wie möglich dem Bemühen, ihn sich anderswo vorzustellen.

      In ihrer Wohnung blickte Ellie vom Tisch auf. Ein hoher Baum schuf draußen vor dem Fenster die Illusion eines an der Wand hin und her schwingenden Lichts. Das war ihr zuvor nicht aufgefallen, dass die Schatten in einem bestimmten Winkel jeweils für kurze Zeit am Tag ein Lichterspiel projizierten. An den meisten Tagen hatte sie gearbeitet, in der Bibliothek gelernt oder als Kellnerin in Gallo’s Café auf der King Street gejobbt, und diese flüchtige Urlaubsvision ließ sie innehalten.

      Draußen herrschte nahtloser Sonnenschein, versprach einen heißen Tag; hier drinnen, überschwemmt von Erinnerungen, existierten ihre Räume in einem anderen Licht, als hätte die Macht der Erinnerung selbst die Physik ihrer Umgebung verändert. Die Vorstellung faszinierte sie. Diese Gegen-Zeit von James’ Rückkehr, die Licht in ihr eigenes dunkles Theater brachte.

      Ellie betrachtete das wässrige Leuchten der veränderlichen Formen. Da fiel ihr ein – belanglos, egal –, wie scheußlich James war, in der Erinnerung oft gar nicht der Star der Schule, das kluge Kind, das »Genie«, wie sie ihn einst genannt hatten, sondern ein Versehrter. Und noch etwas kehrte zurück: James fassungslos, den Kopf gesenkt, die Augen niedergeschlagen. James, der sich beim Lesen die Ohren bedeckt, als wollte er seinen Kopf festhalten. James, der ihrem Blick ausweicht. James, der sich abschottet.

      James schlief schlecht in dem Hostel-Zimmer. Das Bett war durchgelegen nach den Tausenden anderer Körper, die seinem vorangegangen waren, nach ihren Mühen, ihrem nächtlichen Herumwerfen, ihren eigenen Schleppnetzen voller unruhiger Träume in einem Raum voller verbrauchter Luft vermischt mit einem Anflug heimlich gerauchter Zigaretten. Das kleine Fenster stand offen, aber es war dennoch abgestanden und muffig.

      Als er spät in der Dunkelheit endlich eingeschlafen war, hatte etwas seine selbstgewählte Einfriedung durchbrochen, das sich dann als Regen herausstellte, der mit sanfter Beharrlichkeit und einem leisen Klopfen wie von trommelnden Kinderfingern seinen Schlummer aufstemmte. Im Dämmerlicht stand er halb blind auf und tastete nach dem Fenster, aber er konnte es nicht bewegen und merkte, dass er sein Gesicht hineinhielt, wie in einem Taumel gefangen, weder schlafend noch wach blickte er in die schwarze regnerische Schlucht der George Street hinab. Es musste ungefähr drei Uhr sein, vermutete er. Die Straße weiter oben, gerade so außer Sichtweite, war das sandsteinerne Rathaus, die Fassade bierfarben im Licht der Scheinwerfer, und dahinter das Einkaufszentrum, das aussah wie eine Messehalle aus dem neunzehnten Jahrhundert mit einer plumpen Statue der Königin Viktoria am Eingang. Auf seiner Straßenseite, weniger vornehm, befand sich eine Reihe kleiner Geschäfte, die die Anfänge von Chinatown markierten – Nudelimbisse, vietnamesische Bäckereien, Pfandleiher, Kneipen, Hostels für Rucksacktouristen.

      Ein Bus rumpelte mit den vereinzelten Fahrgästen einer Freitagnacht die Straße entlang, aber die Fußgänger waren nun spärlich geworden, vor dem Regen geflohen. Einige wenige verzweifelte Nutten rauchten unter Regenschirmen und ein einsamer Junkie suchte Stoff. Eine der Frauen trug Absätze, die so hoch waren, dass es aussah, als würde sie gleich stolpern, ständig musste sie ihr Gleichgewicht suchen, dann wieder beinahe stürzen. Der Anblick war bewusst darauf ausgerichtet, das Bedürfnis zu wecken, sie aufzufangen, dachte James, sich wie Jesus hinzustellen, die Arme auszubreiten, während sie sich sexuell hingab. Diese Art von inszeniertem Risiko und dazu die Anonymität ihres Körpers. Man selbst ein Erlöser. Ein Auto tauchte aus dem Nichts auf und fuhr im Näherkommen langsamer. James sah, wie die Frau unter