In einem anderen Leben hätte er es vielleicht geliebt. Aber James zerfiel, das wusste er. In ihm entstanden Brüche und Schrunden, als wäre etwas in seinem Körper gerissen. Vergangene Zeiten schwappten hinein, Scham und Reue und zu viel unerträgliche Realität. Er setzte seinen Gang durch die Stadt fort, hörte ihren Namen in seinem Kopf: Ellie, Ellie, Ellie, Ellie. Der Name, den er im Schlaf seufzte. Als wäre er ein buddhistischer Sprechgesang, die Ausrichtung eines Kompasses oder die glückbringende Formel einer vergessenen Welt. Als wäre der Klang ihres Namens eine Art innere Musik.
Pei Xing wachte an jenem Morgen auf und dachte an Doktor Shiwago von Boris Pasternak. Jurij Andrejewitsch Shiwago, der Dichter und Arzt. Abgesehen von ihrem Vater, war er der erste, wenngleich nicht reale Mann, den sie je geliebt hatte.
Noch bevor sie die Augen aufschlug, spürte sie ihn schon im Bett neben sich. Es war, als wäre er aus der russischen Kälte durchs Fenster geflogen, um sich an ihrem Körper zu wärmen, um seinen dunklen Schopf zwischen ihre kleinen Brüste zu schmiegen. Er erschien ihr so wie in der berühmten Filmfassung – gespielt von Omar Sharif –, diese riesigen braunen Augen, die Aura sexueller Raserei. Die ersten Sekunden waren verschneit, voller wirrer Bilder und wunderbar erregend; sie hätte sein Gesicht in Händen halten können, so gewiss war seine Verkörperung.
Als Pei Xing begriff, dass sie wach war, merkte sie auch, dass ihre Wangen von Tränen benetzt waren. Doktor Shiwago war der Lieblingsroman ihres Vaters gewesen und seine berühmteste und angesehenste Übersetzung. Obwohl er als gefährlich und konterrevolutionär galt, den Roten Garden und Mao Zedong mit seiner Propaganda des Wahren Revolutionsgedankens ein Dorn im Auge war, hatte er den Roman mit quälerischer Hartnäckigkeit bis zu seinem allerletzten Atemzug verehrt. Gerne zitierte er einen Abschnitt gleich vom Anfang über »die Musik: die Unwiderstehlichkeit der waffenlosen Wahrheit, die Anziehungskraft ihres Beispiels«: und sogar jetzt erinnerte sie sich noch an den ganzen Absatz, obwohl es Zeiten gegeben hatte, in denen sie ihn vergessen wollte.
»In uns allen schlummert eine innere Musik«, hatte er gesagt und dabei wie ein Lehrer geklungen. »In jedem Menschen auf dem Planeten. In jedem Einzelnen von uns.«
Eine innere Musik: Was war das, hatte sie sich oft gefragt.
Ihr Vater neigte zu Ankündigungen. Immer mal wieder gab er einen aphoristischen Satz von sich oder fühlte sich verpflichtet, etwas in der Literatur oder der Politik wie kursiv gesetzt zu kommentieren. Was andere vielleicht belächelten, fand Pei Xing liebenswert.
Ihr Vater besaß eine russische Erstausgabe von Feltrinelli aus dem Jahr 1957. Und dann eine englische von Harvill, aus der er übersetzte. Sie hatte ihn Nacht für Nacht an seinem Schreibtisch bei der Arbeit gesehen, im Schein einer Messinglampe hatte er gesessen, neben sich englisch-chinesische und russisch-chinesische Wörterbücher, dazu eine Great-China-Zigarette zwischen zwei Fingern. Sie stellte sich den Handel mit den Bedeutungen wie eine Art Spiel vor, bei dem Symbole wie Mahjong-Steine getauscht und verschoben wurden. Zeichen wurden aus einer Welt in eine andere bewegt, stießen aneinander, ergaben neue Abfolgen. Ein Mann im bolschewistischen Russland wurde praktisch zum Chinesen; eine Welt entfaltete sich auf dem Papier. Dieses Spiel fand auf dem grenzenlosen Kontinent statt, der der Kopf ihres Vaters war. Sie konnte sehen, wie er sich konzentrierte: »CHeΓ« auf Russisch, »neve« auf Italienisch, »snow« auf Englisch, bis er zu dem Wort »xue« und dem dazu gehörigen Schriftzeichen kam: das Radikal für Regen, die Striche stehen für »gefroren«, der kleine Block aus Zeichen am Übergang vom Alphabet zum Ideogramm. Wenn er seine Brille abnahm und sich den Nasenrücken rieb, durchfuhr Pei Xing reine Liebe.
Sie hielt ihren Vater für den intelligentesten Mann der Welt. Mit ihrem Bruder konkurrierte sie um seine Aufmerksamkeit, aber irgendwie wusste sie, dass sie durch ihre Gelehrsamkeit klar im Vorteil war.
»Es gibt so viele Wörter für Schnee«, hatte ihr Vater erklärt und dabei den Kopf in den Nacken geworfen und gekichert, als hätte er einen Witz gemacht.
Im Feuer, das die Roten Garden 1967 auf ihrer Straße entfachten, brannte Doktor Shiwago lichterloh auf einem Haufen vermeintlich ideologisch verräterischer Bücher. Pei Xing sah das Spektakel mit ihren Eltern, die gezwungen wurden zu knien und zu schweigen. Ihr Vater hatte Verletzungen im Gesicht, ihre Mutter wirkte abwesend.
Die Opferung der Bücher dauerte länger als erwartet. Manchmal blätterte ein Band Seite um Seite auf, jede wurde einzeln schwarz, kräuselte sich, brannte, verschwand und immer noch waren da Seiten, die sich darunter erhoben. Eine Weile lang schien die Papierpyramide dem Feuer zu widerstehen, sodass einer der Garden in dem kokelnden Haufen herumstocherte und nach Petroleum verlangte. Als es schließlich wild leuchtend loderte, waren alle erleichtert, dass das Geschehen endlich seinen Lauf nahm. Und weil sie ihren Eltern nicht in die Gesichter blicken konnte und weil sie sich fürchtete und weil die Geschichte diesen unglaublichen Willen zur Auslöschung hervorgebracht hatte, starrte Pei Xing hingebungsvoll gebannt ins Feuer. Es war beeindruckend hell.
Die Vergangenheit verließ sie nie. Ihre Eltern waren immer da, immer kniend, das letzte Mal, dass sie sie lebend sah. Der Bücherhaufen brannte immerfort.
Aber der verführerische Jurij Andrejewitsch Shiwago erschien ihr fast wirklicher als ihre Eltern, da er unverwüstlich im Kino und in Worten weiterlebte und seine Lebensgeschichte ein bestimmtes, sehr genau beschriebenes Ende fand. Daran hatte ihr Vater geglaubt, dass die Fiktion das Leben übersteigt. Jetzt schmerzte es sie, wenn sie daran dachte, wie fern er geworden war, wie vage und von anderem verdrängt. Ihre Mutter war präsenter: ihre Zuteilungen von Nahrung und Trost, die Märchen aus Guangdong, ihr Klavierspiel, wenn sie ein Stück von Brahms oder Bach übte. Diese Erinnerungen empfingen sie regelmäßiger und häufiger in Augenblicken des Glücks.
In der Nacht hatte es geregnet, aber jetzt schien die Sonne. Der Tag heizte rasch auf. Pei Xing erhob sich, spritzte sich Wasser ins Gesicht und brühte sich anschließend ihren Longjing-Tee in der Küche auf. In einer Schale im Kühlschrank war noch etwas kalter klebriger Reis; sie goss Kondensmilch darüber, gab einige Scheiben Mango darauf und frühstückte wie immer im Stehen, blickte, als suchte sie etwas in weiter Ferne.
Hinter dem Fenster über der Spüle erstreckten sich Bankstown und die äußeren westlichen Vorstädte. Riesige Laster rumpelten mit mörderischem Tempo über die Schnellstraßen: da waren Häuser von zweifelhaftem Entwurf, in deren Vorgärten Nutzfahrzeuge parkten, davor klobige Briefkästen aus Backstein; da waren Fabriken, Stahlwerke und ein riesiger Baumarkt von der Größe eines Jumbo-Jet-Hangars, der einen ganzen Straßenzug einnahm. Eine Matratzenfabrik und eine Glasfabrik befanden sich absurd Seite an Seite. Aussie Mattresses. Down Under Glass.
Im Einkaufszentrum neben dem Bahnhof waren Dutzende kleiner Geschäfte untergebracht mit Schildern über den Eingängen auf Vietnamesisch und Arabisch; Pei Xing fand sie besonders zauberhaft. Sie liebte es, den Menschen auf der Straße direkt in die Gesichter zu sehen: den Männern mit den kräftigen Unterarmen und den unverblümten Blicken, den Frauen mit Hidschabs oder Kopftüchern, die in freundlichen Gruppen unterwegs waren. Ihre Kinder wirkten mollig und fröhlich und ließen Pei Xing aus irgendeinem Grund an Muskatnuss denken. Dann waren da Vietnamesen beim Fischhändler an der Ecke, eine Art Treffpunkt, und die Menschen im Pho-Laden, die sich alle zu kennen schienen. Dieses Australien war asiatisch und arabisch. Die Menschen bewegten sich in ihrer eigenen Aura, fürchteten sich nicht, Raum zu beanspruchen; und unter ihnen fanden sich wiederum andere Völker, Migranten wie sie, alle