Und da war noch etwas. Als Catherine innehielt, sah sie zu ihrer Linken die Brücke über dem Wasser, den Hafen und eine kleine Fähre, die gen Norden tuckerte. Brücke, Wasser, Hafen, Fähre: Sie alle loderten, alle waren erleuchtet. An diesem Flecken Erde sammelte sich das Licht wie von der Sonne doppelt konzentriert. Vielleicht das Wasser und seine besonderen lichtbrechenden Eigenschaften, jene glänzenden Blütenblätter, die Geografie geschützter Räume oder auch die blinzelnden Hochhäuser am gegenüberliegenden Ufer, vielleicht trugen sie alle zu einer gesteigerten Leuchtkraft bei.
Catherine kramte in ihrer Tasche nach ihrer Sonnenbrille, dachte an Lucs blasse Schulter, von hinten betrachtet. Sie spürte die flüchtige Berührung, geisterhaft, eines unrasierten Kusses. Elvis Costellos »I Want You« ging ihr traurig durch den Kopf.
Wie kamen die Australier nur mit diesem ganzen Licht zurecht?
Als Catherine eine schattige Stelle suchte und ihre Sonnenbrille aufsetzte, sehnte sie sich kurz nach einem bedeckten Himmel und in Nebel getauchten Dingen. Das traurige Gesicht ihrer Mutter flackerte durch ihre Erinnerung, eingerahmt von einem billigen Nylontuch zwinkerte sie ins sprühende Meer. Das musste Sandymount gewesen sein, und das Meer war wie flüssige Asche. Es musste kurz danach gewesen sein. Eine Woche, nicht mehr. Mitten im Winter. Dem Trauerwinter. Chrysanthemen, keine Rosen.
Wie ein Standbild aus einem Schwarzweißfilm der fünfziger Jahre – das Gesicht der Frau leicht vom Zuschauer abgewandt, es schwenkt zum Ozean, der Ton ist irisch, elend, der Soundtrack getragen, ein Bach-Cello. Diese Szene hätte Fiktion sein können, aber sie war bereits unabänderlich.
Und jetzt blickte sie über den weiten, sie umfassenden Hafen, die überwältigende Schicht aus Sonnenfeuer und Oberflächenglanz, die sich bis in die Ferne erstreckte, und sie fragte sich, was sie hier machte, hier in Sydney, in Australien. Unruhe hatte sie bewogen, rund um den ganzen Erdball umzuziehen. Das Stellenangebot war auf ein Jahr befristet, aber das genügte; sie hatte die Notwendigkeit verspürt, London zu entkommen. Sie hätte dort nicht bleiben können, bei Luc, sie wäre herzlos geworden im Sumpf ihres Kummers. Sie hoffte, er würde ihr vergeben, ihr folgen und verstehen, weshalb sie geflohen war. Die Ruhe ihrer beider Leben war durch ihre starrsinnige Trauer zerstört. Sie hatte ihre Gespräche entstellt, ihre Zufriedenheit verdorben, die Räume zwischen ihnen bis zum Rand erfüllt. Elf Monate war es jetzt her, und noch immer konnte sie sich nicht davon befreien.
Catherine bemerkte die winzigen menschlichen Gestalten, die sich in einer Reihe auf der Brücke fortbewegten. In ihrer Schlichtheit und ihrem vage unsinnigen Bestreben wirkten sie wie gezeichnet.
Wie klein wir aussehen können. Nirgendwohin unterwegs, nur hoch und wieder runter.
Flaggen wehten oben auf dem Scheitel des Bogens, wie auf einem bezwungenen Berg. Es gab keine einzige Wolke. Der Himmel war eine hohe Kuppel.
I beheld the bridge.
Ich wurde der Brücke gewahr.
Gewahrwerden. Woher kam das? Seit dem Todesfall brachen verirrte Vokabeln zu ihr durch, als wäre die zeitgenössische Sprache verbraucht und ungenügend. Erkoren. Noch so ein Wort. Erkoren. Es ließ an Manuskripte mit Goldrändern denken, an wunderbare Hinfälligkeit und an so brüchiges Papier, dass es hinter Glas aufbewahrt werden muss.
Catherine wandte sich ab, beinahe den Tränen nah, aufgrund des Wirrwarrs aus Assoziationen, das sie weder entschlüsseln noch einsehen konnte. Wie durcheinander dieser Ort sie gemacht hatte, dieser Circular Quay, der sich im Kreis der verlorenen Zeit und der ungebetenen Wiederholungen drehte.
Catherine entdeckte die schottischen Liebenden. Sie hüpften fast. Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und sie ihren um seine Taille. Wie ausgesprochen gut sich ihre Körper aneinanderfügten, wie wunderbar, ihrer gewahr zu werden.
2
Der Sommer war beinahe tropisch, kühl im Morgengrauen, feuchtschwül bei Sonnenaufgang, regnerisch am späten Nachmittag und in der Nacht. Ellie hatte mit so viel Feuchtigkeit nicht gerechnet, so vielen Hautgerüchen und so viel Sinnlichkeit.
An jenem Morgen öffnete sie das Fenster, schob es gegen den Widerstand des verwitterten Holzes und der Zeit nach oben, war dankbar, so nahe der Innenstadt eine Altbauwohnung gefunden zu haben. Sie hatte das Halbdunkle, Unterteilte eines Art-déco-Gebäudes – dunkelrote Backsteine und schattige Nischen, etwas Gemütliches, Europäisches, ein Hauch von Ausland, erinnerte entfernt an etwas anderes. Aber sie passte sehr gut zu ihr; sie entsprach der Enthaltsamkeit und stillen Inwendung ihres gelehrten Lebens. Sie befand sich in keinem der klobigen, gläsernen und robusten Hochhäuser, wie sie die Schnellstraßen säumten, die sich zur Stadtmitte und zum Hafen hinschlängelten. Stattdessen gab es hier Moreton-Bay-Feigen, Palisanderholz- und Eukalyptusbäume mit schuppiger Borke; außerdem erklang Vogelgezwitscher über den Dächern – Würgerkrähen und Honigfresser –, ein Maß an Leben abseits des tosenden Verkehrs und der städtisch generierten Ablenkungen. Von hier aus, vom Badezimmer, vom kleinen Fenster über dem Waschbecken, konnte Ellie auf die Dächer der Vorstadt blicken, auf die Satellitenschüsseln und Antennen. Sie konnte die renovierten Anbauten sehen, die Solarmodule und den Rost an den ärmlicheren Häusern. Eine Aussicht auf Hypotheken, Familien, Graffiti in Seitenstraßen, den Wunsch nach einem Zweitwagen und einem größeren Leben, sowie die Bedeutung all dessen. Der Turm einer verlassenen Kirche war gerade noch zu sehen. Er zeigte gen Himmel wie die Antenne eines vergessenen drahtlosen Codes.
Ellie würde heute begreifen, dass sie James niemals entkommen konnte. Er hatte sich in ihr Leben geprägt, so wie sie sich als vierzehnjährige Liebende aneinandergepresst hatten. In ihre Erinnerungen. Für jetzt und immerdar.
Ellie würde sich in aller Klarheit an die liebe Miss Morrison erinnern, ihre Lehrerin in der siebten Klasse, als hätte sie ein verblichenes Foto aus einem staubigen Album gerissen. Obwohl sie vier Jahre lang nicht mehr an sie gedacht hatte, würde sie sie den ganzen Tag über mit sich tragen, dicht bei sich wie ein Neugeborenes.
Die Zeitungen würden Ellie beunruhigen – der Krieg im Irak, die entsetzlichen Gräuel, die Gewalt, die sämtliche Erwartungen von Kriegstreibern und Pazifisten übersteigt. Aufgrund all dessen, ihrer Vorfreude auf James, ihrer Kindheitserinnerungen, der verstörenden Kontinuität von Kriegsgeschichten, war Ellie an diesem Samstagmorgen für Schönes empfänglich. Morgens wachte sie stets ohne Erwartung einer Katastrophe auf. An diesem feuchtklaren Morgen war sie im blauen Licht erwacht, und noch bevor die Sonne im Spalt zwischen den Vorhängen zur brennenden Zündschnur wurde, hatte sie bereits fünf interessante Dinge gefunden, über die es sich nachzudenken lohnte.
Nach dem nächtlichen Regen wirkte alles hell und gereinigt. Geblieben waren isolierte Pfützen, die gestochen scharf und glänzend den Himmel enthielten, und ein frischer, perlenbesetzter Glanz auf Bäumen und Kletterpflanzen. Nebenan sandte ein Wachsblumenbaum, ein altes verdrehtes Monstrum, Düfte als einheimischen Segen in ihre Räume.
Ellie hatte früh schon das Haus verlassen, um Zeitungen zu kaufen, war über Pfützen gesprungen und unter tropfendem Blattwerk dahingeeilt. Mit jedem Schritt zertrat sie herabgefallene Blüten. Wachsblumensterne lagen überall und vereinzelt auch Jasmin; die bräunlichen Blütenblätter einer Kreppmyrte waren über die Straße geschwemmt worden und verstopften nun die Gullys. Die Welt befand sich in liebevoller organischer Auflösung. Ellie sammelte ein paar Wachsblumenblüten, die sie in einer Schale zu Hause auf den Tisch stellen wollte, hielt sie beim Gehen sanft vor die Brust, die Zeitungen zur widerspenstigen Rolle geformt unter dem Arm. Ein so schlichtes Auflesen. Ein so schöner klarer Himmel. Sie war frei von Gedanken und glücklich. Sie spürte die ausgelassene, vage Euphorie eines neuen Tages in einer neuen Stadt.
Im Badezimmer malte sie sich Kajal um die Augen und Pink auf die Lippen. Später würde sie James treffen, nach all den Jahren, und sie war jetzt schon verlegen in Erwartung seines strengen Urteils. Ihre betonten Lippen wirkten nuttig und zu auffällig,