James war fast drei Jahre alt, als Matheus verschwand. Er hatte nur eine Erinnerung daran, wie er von seinem Vater hochgewirbelt und auf die Schultern gesetzt wurde und wie viel Angst ihm die Höhe gemacht hatte, wie ihn reine Panik packte und er sich um sein Leben fürchtend an schwarze Locken klammerte. Da war kein Gesicht, keine klare Erinnerung, nur dieses Hochgewirbeltwerden, hoch in den Himmel und das Gefühl von großen Händen, die seinen Körper umfassten. Matheus war ein Name und eine Legende, der Mann, dem er angeblich ähnelte. Der ihn auf diese Weise hochgehoben hatte, damit er die Welt besser sah. Erst kürzlich hatte er von Matheus’ Bruder Leo erfahren, der irgendwo in Melbourne mit seiner Familie ein eigenes Leben lebte. Aber für all das war es zu spät. Es war zu spät für die Version einer dieser glücklichen italienischen Familien, identische Gesichter nebeneinander an einem langen, sonnenfleckigen Tisch aufgereiht, auf dem sich Wein und Pasta drängten, an dem Gläser gehoben wurden wie in einer Fernsehwerbung für Olivenöl. Ein Mann mit einem Schnurrbart, eine dicke Mama, die Familie demonstrativ ausgelassen. Über ihnen das blättrige Licht von Weinranken, wie ein Netz aus geöffneten Händen.
Aus Künstler der Moderne hatte James gelernt, wie unheilvoll das Leben eines Künstlers verlief – und wie interessant, verglichen mit seinem eigenen. Er hatte das Buch unter dem Bett aufbewahrt, als enthielte es beschämendes Wissen, aber dabei gewusst, dass es im Prinzip das Künstlerleben war, von dem er insgeheim tagträumte, das Versprechen, ohne ein einziges Wort Bedeutung zu erzeugen. Das Versprechen Europas und schattiger Orte, eines traurigen aber erträglichen Lebens, dessen Zeugnis vielleicht irgendwo in einer Galerie hängt, losgelöst und wertvoll, unpersönlich und erhaben, stilsicher, rein. Er blätterte durch die Seiten des Buchs, bis sie abgegriffen waren. Er kannte die Porträts aller Künstler, ihre Selbstbildnisse und berühmtesten Gemälde. Selbst als er feststellte, dass er keine Begabung zum Zeichnen oder Malen hatte, sehnte er sich noch nach einem Künstlerleben. Als Teenager entwickelte James den Ehrgeiz, als Statist in einem Film anzuheuern. Er wusste inzwischen, dass dies sinnbildlich für sein Gefühl von Mittelmaß war, dass er niemals im Zentrum von etwas existieren würde.
All der Raserei lag das Gefühl zugrunde, wie ein menschlicher Helikopter hoch in die Luft gewirbelt zu werden, um dort oben zu thronen, in absurder Höhe, die Hände tief in den Haaren des Vaters vergraben. Diese Ortsveränderung, dieses Heben, an das er sich so genau erinnerte, war Ausgangspunkt all dessen, was James war, und auch seiner gefährlichen Unausgeglichenheit. Erinnerung lag nicht im präfrontalen Cortex, dem Hippocampus, dem Zerebellum oder der Amygdala – wie er diese Begrifflichkeiten liebte, die er sich aus der Zeit als Medizinstudent bewahrt hatte –, sondern im Raum, in den ein Kind gehoben werden kann. Alles, was ihm von seinem Vater blieb, war in dieser Bewegung enthalten.
Auch Ellie war fest verankert in den Bewegungen von James’ Körper und ihrer eigenen unsichtbar umfassenden Präsenz. Es hatte seither natürlich andere gegeben, die üblichen One-Night-Stands, beiläufig und ohne Bedeutung, aber auch einige ernste, mögliche Lebenspartner. Aber nur Ellie hatte sich wie sein Vater in jener tieferen Erinnerung gehalten, wie Radium in der Unterschicht seiner Zellen abgelagert.
Sie waren vierzehn Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal liebten. Es erstaunte und rührte ihn, wenn er jetzt daran dachte. Da war keine Verwegenheit und kein Können, sondern lustvolle Neugier; junge Menschen, einfach jung. Sie hatten sich hemmungslos auf den Körper des anderen geworfen, weil beide so wenig wussten, was sie tun sollten. Es war der Zusammenstoß vager Absichten und wahrhaftig naiv. Sie hatten gelacht und gespielt. Sie waren kreatürlich übereinandergefallen, wie junge Kätzchen. Sie hatten das Vergehen genossen, von dem sie stillschweigend wussten, dass sie es begingen. Und jetzt, da er nach all den Jahren auf Ellie zuging, zögerte James angesichts der Zeichen ihrer Beharrlichkeit. Selbst in Momenten der Zerstreuung stieß er auf Erinnerungen an ihren Körper und ihre Worte.
Das Mysterium ihres Pakts lag in dem verlassenen Gebäude, in dem sie sich trafen, dem modrigen Backsteinraum, der einst, vor Jahren, eine Eisengießerei gewesen sein musste. Ihr Versteck, wie sie es nannten, als wären sie Sexualverbrecher. Da waren ein umgekippter Farbeimer, auf den sie eine Kerze gesetzt hatten, ein paar vereinzelte Möbel und ein zerfetzter Stuhl, die Pferdehaarfüllung quoll heraus. Der Stuhl kehrte in Träumen wieder, übergroß und bedrohlich. Es war ein anachronistischer plumper Gegenstand, den Theaterstudenten zur Darstellung ostdeutscher Trostlosigkeit benutzt hätten. Da war eine Trennwand mit einer beinahe intakten Glasscheibe, durch die der Chef einst die Männer in der Werkstatt beobachtet haben musste, aber das Glas war schmutzig und milchig weiß vom Staub. Ellie und James hatten der Versuchung widerstanden, ihre Namen hineinzuschreiben; beide wussten um die Notwendigkeit der Geheimhaltung. Sie legten eine Decke auf den Boden und versteckten sich gemeinsam, waren zu glücklich, um sich mit Staub oder in Herzen gefassten Initialen abzugeben, zu weit fortgeschritten in ihrem jugendlichen Hunger, um einfach nur Freund und Freundin zu sein.
James dachte an René Magrittes Gemälde Die Liebenden, das Porträt zweier verhüllter Köpfe, beide unter einem grauen Tuch verborgen. Etwas anderes als die Auslöschung aller Details hätte der Künstler sicher nicht ertragen. Adeline, eine Hutmacherin, nähte bis spät in die Nacht, und zweifellos erinnerte sich ihr Sohn an ihre Finger im Licht der Lampe auf einer gebogenen Filzkrempe oder wie sie eine Hutkrone auf eine gesichtslose Holzform pressten. Ohne Zweifel erinnerte er sich an den perfekten Bogen der Nadel, die in den Wollstoff stach, und die Rundung von Adelines Rücken, wenn sie sich vorbeugte, um mehr Licht zu bekommen.
In Magrittes Gemälden gab es sehr viele Hüte. Außerdem riesige Äpfel in Wohnzimmern, Pfeifen, die keine waren, aus Kaminen fahrende Züge, Reflexionen, wo eigentlich keine hätten sein dürfen, Tag und Nacht nebeneinander. Seine Bilder zeigten Verschiebungen und seine Figuren waren der Auslöschung nahe. Genauigkeit hätte sie getötet. Realismus hätte ihn getötet. Die Schnalle. Der Ring der Mutter. Der kreisrunde Fleck aus Flussschlamm, der Daumenabdruck des Todes, der sich in dem kleinen Grübchen direkt unter Adelines Unterlippe gebildet hatte. Weil James dies verstand, konnte er erwägen, Ellie wiederzusehen. Aufgrund all dessen war sie eine unfassbare Abfolge von Gesten und Bewegungen, er sehnte sich nach Bestimmtheit, nach den winzigen Details, die er an ihr gekannt hatte, das geliebte Gesicht unbedeckt. In diesem Fall, das wusste er, würden ihn die Details retten. Die Ideen waren zu groß. Der Raum, der durch ein Ertrinken entsteht, das trübe grüne Wasser, das sich über einem Gesicht schließt, war ungeheuerlich, niederträchtig und mit nichts vergleichbar.
Auf der George Street in der Innenstadt jaulte die Alarmanlage eines Autos. In der Ferne hörte man das Dröhnen eines Flugzeugs, langsam im Sinkflug begriffen, und plötzlich registrierte James den tosenden Verkehrslärm. Im petrochemischen Dunst blickte er nach oben auf die hässliche Mischung aus geometrischem Stahl, den Glasfronten der glitzernden Hochhäuser, den derben Bannern des Kommerzes. Das gesamte Zentrum Sydneys schien sich ihm entgegenzuneigen, so wie Gebäude im Zeichentrick einstürzen – wusch! – um einen grinsenden Idioten herum. James überlegte, ob er in die Gänge eines Kaufhauses oder eine Seitenstraße schlüpfen sollte. Stattdessen machte er instinktiv entschlossen kehrt und ging in der entgegengesetzten Richtung weiter.
Zum Zug, beschloss er. Er würde mit dem Zug zum Circular Quay fahren.
In seiner schreckhaften Unruhe ließ sich der kurze Weg bergauf zur Central Station leichter bewältigen. Magritte glitt von ihm ab. Die Sambre. Die ertrunkene Mutter. Die Schatten dessen, was er gewesen war. James konzentrierte sich auf Ellie, als er seinen Gang wieder aufnahm, nach Westen schritt.
Er sah chinesische Plakate und das riesige Diagramm eines Fußes, die Druckpunkte mit zarter Schrift mit einem bemerkenswerten Grad an Komplexität hervorgehoben, dann einen Laden, in dem buddhistische Artefakte verkauft wurden, die meisten waren augenscheinlich rot. Dass in der Innenstadt ein Geschäft für Gegenstände der kultischen Verehrung existieren konnte, erschien ihm hoffnungsvoll, wenn auch ungewöhnlich. Als er hineinspähte, sah er Altäre, Weihrauch, eine Reihe Buddhas im Schneidersitz, alle hergestellt aus dunkelrotem Plastik, wie es schien, außerdem verschiedene Stickereien, die vermutlich dem Gebet dienten und nun in spirituell empfänglicher Atmosphäre baumelten. James