Ellie hatte das Gefühl, an der Schnittstelle zahlreicher Informationsströme zu stehen. Warum sollte sie sich nicht trotz allem freuen? Warum nicht wie ein Kind sein? Sie nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und hob sie fröhlich: cheers.
Sie ging los. Mit ihrem Sonnenhut aus Baumwolle, ihrem kleinen Rucksack und diesem unerwarteten Pochen in der Brust trat Ellie hinaus in den lieben langen Tag in Sydney. Sonnenschein wirbelte um sie herum. Der Hafen funkelte fast. Sie hob ihr Gesicht zum Himmel und lächelte in sich hinein. Es kam ihr vor, als würde sie – ja, doch, ja – Licht atmen.
James DeMello blieb eigensinnig freudlos. Noch bevor der ratternde Zug in den Bahnhof einfuhr, wusste er bereits instinktiv, dass er enttäuscht sein würde. Er betrachtete die ledrigen Hände der alten Frau neben sich und spürte das Gewicht der Zeit, all jene Male und Korrosionen. Sie ähnelten den Händen seiner Mutter, Zeichen einer Geschichte, die er nicht wollte. So viel Vergangenheit, dachte er, kehrt in den Körpern anderer zurück.
James erhob sich von seinem Platz, um den Händen zu entfliehen, hielt sich an einer kalten Metallstange fest und blieb stehen. Der Zug schwenkte in einem weiten Bogen herum, vorbei an robusten Gebäuden, und bis in seine Gliedmaßen hinein spürte er, wie die Lok bremste und sich die in Stahl eingepferchten Körper versteiften. Als die Waggontüren aufgingen, folgte er dem Mann vor sich, ging auf die nach unten führende Rolltreppe zu, die Hände in den Taschen.
Am Fuß der Rolltreppe bogen alle zum Kai ab, eine bewegliche Masse, der Architektur zugetan. Vor ihm waren Fahrkartenschalter für die Fähren, daran LED-Leuchtschriftanzeigen in Orange, und Menschen unterschiedlichster Nationen standen für eine Fahrt an. All das hatte etwas Geschmackloses, fand er, und nicht genug Ruhe. Ein Kind schrie, und er zuckte grundsätzlich genervt zusammen; der Rest war ein einziger Missklang, dazu die vage Bedrohlichkeit der Massen.
James wandte sich nach rechts, ging automatisch und folgte anderen. Da waren Schaufenster mit kunstvollen Souvenirs geschmückt, kleine weiße Tischchen mit leeren Weingläsern, außerdem Kellner, angetan mit schwarzen Schürzen und Überheblichkeit. Für den Ansturm um die Mittagszeit war es noch zu früh, aber sie bereiteten sich träge darauf vor. Ein Mann stand mit finsterem Blick und verschränkten Armen dort, betont tatenlos. James stellte sich Sydney von einer Kellnersippe bevölkert vor, einer Geheimgesellschaft von Männern und Frauen, die Rituale der selbstgefälligen Überlegenheit und geheimnisvolle Gesetze befolgten, vereint in der Verachtung gegenüber jenen, die sie bedienten. Sie trafen sich hauptsächlich montags, wenn viele Restaurants geschlossen hatten, und nahmen zeremonielle Mahlzeiten ein, in deren Verlauf sie kleckerten und fluchten.
Schirme mit Kaffee-Logos flatterten im Wind. James umrundete einen, dann einen weiteren, fragte sich, ob er Koffein brauche.
Dann sah er sie in mittlerer Entfernung, zu vorweggenommen, um einzigartig zu sein. Sie tauchte auf T-Shirts auf, auf Handtüchern, sogar kleine Schneekugeln aus Plastik gab es damit; sie konnte nie anders denn als Nachbildung existieren, die das Prestige eines Wahrzeichens für sich in Anspruch nahm. Ihre Schlünde öffneten sich in ständigem Verschlingenwollen gen Himmel.
Weiße Zähne, dachte James. Beinahe wie Zähne. Und obwohl er zuvor zahllose Bilder dieses Gebäudes gesehen hatte, fiel ihm die Analogie erst jetzt, hier und jetzt, auf. Das Monumentale ist nie genau das, was wir erwarten.
Auf einem Jahrmarkt in Sydney, einer Easter Show vor langer Zeit, hatte er einmal in das gähnende Maul eines Hais geblickt, in das große Oval einer unerhörten, unsagbaren Bedrohung. So war der Tod, das wusste er, er hatte die Form von elfenbeinernen Dreiecken. Der Tod war die kraftlose Panik, in der man sich selbst als rohes Fleisch vorstellt. Oder noch weniger; als etwas, das es zu verschlingen gilt, ein treibendes, essbares Nichts in von Blut getrübtem Wasser.
Am Eingang zum Festzelt hatte ein Schild »Ungeheuer der Tiefe« angekündigt, und ein alter Mann mit ungepflegten Bartstoppeln und einem Anflug von Verfall im Gesicht hatte ihn mit einer leichten Berührung seines Hinterkopfes hereingeführt. Er kann den Augenblick noch immer sehen, jene im braunen Licht leuchtenden Zähne, kalt und verstörend. Er kann ihn noch riechen: den Gestank von abgestandenem Tabak und ungewaschener Kleidung, dazu ein stechender Geruch, als hätte jemand in eine Ecke gepisst. Als sich der Zelteingang mit einem leisen Pfffhh schloss und ihn einsperrte, war James sicher, er würde dort sterben, in die Dunkelheit verschluckt werden wie in den Bauch einer Bestie. Abergläubisch und ängstlich hatte er seine Füße in ein schmales Dreieck aus Sonnenlicht gestellt, das durch den Eingang fiel. Er blickte von seinen Schuhen zu den Zähnen und noch einmal zurück: von den Schuhen zu den Zähnen, von den Zähnen zu den Schuhen. Er konnte weder das Haigebiss in seiner vollen Größe betrachten, noch gar nicht hingucken. Er war ein Kind, das sich entsetzlich fürchtete vor dem, was ihm seine Phantasie eingeben mochte.
Der stinkende Mann trat hinter ihn, und James spürte seine Hand auf der Schulter. Er erstarrte gefügig und blickte im Schein des Zitronenlichts nur auf seine Schuhe mit den gebundenen Schnürsenkeln. Und dann machte er sich los, James drehte sich um und floh. Er stieß gegen die Zeltöffnung, panisch, und fiel vornüber aufs Gesicht.
Warum, fragte er sich jetzt, schauderte die Zeit immer wieder auf diese Weise und ließ ihn stets zu dem unzureichenden Jungen zurückkehren, der er einmal war, in kurzer Hose und voller Angst vor dem gezackten Anblick weißer Zähne? Eine wenige Minuten währende Erfahrung, Jahre her und zweifelsohne stark übertrieben.
James wandte sich um, genervt von der lächerlichen Belagerung durch seine Erinnerung.
Nein, nein, nein. »Clocks« von Coldplay schoss ihm in den Kopf: closing walls and ticking clocks – das war der Fluch seiner Generation, dass man für alles den passenden Soundtrack hatte.
James wandte sich ab und ging über den Pier zurück. Er sah die Brücke, sah die Fähren, sah die pfirsichfarbene Fassade des Museum of Contemporary Art; sie war mit roten Transparenten behangen, die für irgendetwas warben. Sein Blick war teilnahmslos, entrückt. Was es zu sehen gab, empfand James als nicht weiter erwähnenswert, trist im Rahmen seiner schlechten Laune, er kehrte zum Hafen zurück und verzog sich in ein Café, als müsste er sich gegen das verteidigen, was andere unterhielt. Leute rauschten um ihn herum, allesamt in eigenen Gedanken, jeder – die Vorstellung war flüchtig – mit einer eigenen Ahnung von dem, was ein einzelnes Leben zunichte machen kann, Zähne, eine Berührung, ein brauner Raum, festgefroren in der Zeit nach einem Blick zwischen zwei Zeltbahnen hindurch. Aber die Masse war ein Kollektiv und unbestimmt. Sie hatten keine Verbindung zum Ich. Sie waren ungeniert autonom. Die Massen, wie er sie gerne nannte.
In den blauen Schatten des Cafés fand James einen freien Stuhl mit dem Rücken zum Fenster. Er fühlte sich leicht krank. Er fühlte sich unglaubwürdig. Ein Kellner mit einer Haut wie Bimsstein und einem strähnigen Pferdeschwanz nahm seine Bestellung professionell cool entgegen und entschwand anschließend wieder. Auch er gehörte zu der Geheimgesellschaft, ein kriecherischer Mitläufer. Mit dem Klappern von Besteck und dem Klirren der Teetassen, dem infernalischen Getöse der Kaffeemaschine und dem Brüllen des Milchschäumers schwoll auch das Gewirr der Stimmen an. Was aber war es darüber hinaus? Der Sommer aus Vivaldis Vier Jahreszeiten dudelte vor sich hin. Wie er das hasste: wenn Musik nebensächlich im Hintergrund lief.
Als sein Espresso mit einem Glas Wasser eintraf, schluckte James eine Xanax, würgte seinen Kummer herunter. Chemie, dachte er, um fehlgeleitete Chemie zu korrigieren. Neural künstlich, in biochemisch ausgezeichnetem Zustand, dem abgespannten, kranken Körper so etwas wie Selbstheilung abringen. Vielleicht würde er in einen Spiegel sehen und über seine Wiederherstellung staunen. Noch könnte er sich erholen.
Jedes Geräusch war wie verstärkt; das Café war alles andere als ein Rückzugsort.