Düsterstrand. Meike Messal. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Meike Messal
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954752164
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ein Konzert gegeben hatte. Lauras Eltern hatten ihn oft gehört, und als Paul und sie noch nicht zur Schule gingen, waren sie einmal im September nach Fehmarn gefahren, als das Revival-Festival stattfand. Sie konnte sich nicht wirklich daran erinnern, aber es gab Fotos davon. Auf einem sah man, wie sie auf der Wiese vor der Bühne saßen, Paul war eingeschlafen, lag mit dem Kopf auf Vaters Schoß. Im Hintergrund die Zelte der Festivalbesucher. Und wenn die Sehnsucht nach ihren Eltern zu groß wurde, schaute sie sich auf YouTube die Videos vom Festival 1970 an.

      Unauffällig tastete sie nach dem Gürtel unter ihrem Shirt. Sie hatte ihn im Internet entdeckt. Er hatte eine eingenähte Tasche für Geld. Von ihrem Sparbuch hatte Laura tausend Euro abgehoben. Was für eine Summe! Aber damit würde sie auf Fehmarn einige Zeit über die Runden kommen, und keiner würde wissen, wo sie sich aufhielt. Genug Gelegenheit und Geld, um herauszufinden, was mit Paul passiert war. Glaubte sie.

      Einen kurzen Moment fragte sie sich, ob Charlotte die Wahrheit nicht doch verkraftet hätte. Aber nein, ihre Großmutter hätte sie auf keinen Fall fahren lassen. Im Gegenteil, wenn sie erfahren hätte, was Laura vermutete – dass auf Fehmarn jemand herumlief, der Kinder entführte – dann hätte sie alles daran gesetzt, Laura sicher zu Hause zu wissen. Wahrscheinlich wäre sie zur Polizei gegangen. Aber was hatten die denn bisher schon herausgefunden? Zwei Jungen waren seit Jahren vermisst. Und der dritte, Tom, war bereits ganze sechs Tagen verschwunden. Die Polizei hatte Paul nicht zurückgebracht und auch Toms Familie würde womöglich vergeblich auf ihn warten.

      Selbst Emily, Klara und Jule hatte Laura erzählt, dass sie kurzfristig einen Ferienjob in Heiligenhafen bekommen habe. Die hätten sie sonst mit Fragen bombardiert, jeden Tag wissen wollen, was sie herausgefunden hatte. Was aber, wenn sie versagte? Wenn sie nichts herausbekam? Oder wenn sie etwas erfuhr, was sie selbst lieber gar nicht wissen wollte?

      Nein, sie würde die Sache allein durchziehen. Nun ja, nicht ganz allein. Laura schlug ihr Notizbuch auf, nahm den Kuli, der an der Seite steckte, und schlug gedankenverloren mit dem Stift auf das Blatt. Sie würde in Burg in einer Pension ein kleines Zimmer buchen. Als Nächstes wollte sie Wiebke finden. Wiebke war die Freundin ihrer Mutter gewesen, sie hatte auf Fehmarn gelebt. Laura konnte sich dunkel an eine schlanke Frau mit langen, blonden Haaren erinnern. Leider wusste sie weder den Nachnamen, noch wo Wiebke wohnte. Ob sie überhaupt noch auf Fehmarn wohnte. Sie war Lehrerin gewesen, wie ihre Mutter. Und sie konnte Laura vielleicht mehr über den Sommer vor zehn Jahren erzählen.

      Laura seufzte. Sie gab zu, der beste Plan war das nicht. Aber alles, was sie hatte. Irgendwo musste sie anfangen. Und jemand, der vor zehn Jahren dabei gewesen war, war besser als nichts. Charlotte war damals in Hamburg geblieben, sie war nie mit auf die Insel gefahren. Andere feste Bekanntschaften hatten sie auf Fehmarn nicht. Also Wiebke. Laura musste sie finden.

      12

      Oh Gott, wie es duftete! Vorsichtig rückte er etwas näher an das Tablett heran. Sein ganzer Magen zog sich zusammen, einen Moment befürchtete er, er müsse sich übergeben. Schlecht vor Hunger, ja, das hatte er seinen Papa schon ein paarmal sagen hören. Ob es bei ihm auch so ein heftiges Gefühl gewesen war wie das, das jetzt in ihm tobte?

      Du darfst nicht. Du darfst nicht essen. Seine eigene Stimme dröhnte in seinem Kopf. Doch sein Körper hörte nicht. Er wütete. Er schrie. Iss! Iss sofort! Jetzt!

      »Nein!« Er sprach laut, wie um sich selbst zu überzeugen. Was hatte der Mönch gesagt? Wenn du isst, wirst du dir wünschen, nie geboren worden zu sein. Er verstand nicht, was das heißen sollte, aber er wusste, dass es nichts Gutes war.

      Er vergrub seinen Kopf in seinen Händen. Strich verzweifelt über seine Haarstoppeln. Der Mönch hatte ihm seine schönen, braunen Haare abrasiert, sofort, nachdem er ihn in den Keller gebracht und an den Eisenring gekettet hatte. Wie lange das wohl schon her war? Hier unten war es dunkel, nur ab und zu brannte ein kleines Licht. Er wusste nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war. Er wusste nur eins: Er hatte Hunger. Fürchterlichen Hunger. Und er musste essen. Mama hatte es ihm eingebläut – regelmäßiges Essen war wichtig. Wenn ich nicht esse, sterbe ich. Und was kann schlimmer sein als sterben?

      Er schluckte. Seine Zunge fuhr über seine rauen Lippen. Schnitzel. Kartoffelbrei. Pudding. Vanille. Vanillepudding.

      Ich will nicht sterben. Ich will nicht.

      Langsam hob er eine Hand. Streckte sie aus, berührte den Teller so vorsichtig, als könne er elektrische Schläge aussenden. Verharrte einen Moment regungslos. Dann ließ er seine Finger in den warmen Brei sinken. Nur ein wenig. Führte sie an den Mund und leckte sie ab. Oh Gott. Das schmeckte so gut. So wunderbar, so einzigartig wunderbar. Erneut fuhren seine Finger zum Tablett, tauchten in die köstliche Wärme, fanden den Weg zu den Lippen.

      Mit einem tiefen Seufzer langte er hinein, nahm die andere Hand zur Hilfe, griff das Schnitzel. Biss hinein, rechts das Fleisch, links die Hand voll mit Brei, alles fand den Weg in seinen Mund, alles, alles, nur essen, einfach essen.

      13

      Es war nicht zu erklären, aber sobald Laura den Zug verlassen hatte, ihren vollgepackten Rucksack geschultert und am Bahnhofsgebäude entlanglief, fühlte sie sich plötzlich leichter. Ihr war bewusst, wie verrückt das klang – sie war schließlich hier, um ihren entführten Bruder zu finden. Aber wenn sie die Augen schloss, tief die Luft einsog, die so anders roch als die hamburgische, dann hatte sie das Gefühl, als käme sie nach Hause. Hier hatte sie sich Sommer um Sommer wohl gefühlt. Hier waren sie noch eine Familie gewesen. Hier war sie ihren Eltern und Paul ganz nah.

      Eine menschliche Figur, die aus zwei Granitbeinen und einem metallenen Oberkörper bestand und deren rechte Hand nach vorne wies, zeigte ihr den richtigen Weg – »Zur Innenstadt« war darauf zu lesen. Laura blickte aufmerksam an den Häusern entlang, während sie die Straße hinunterlief. Sie wusste, dass es überall kleinere Pensionen gab.

      Das Ferienhaus, in dem sie jedes Jahr gewohnt hatten, lag ein Stück hinter Burg in der kleinen Siedlung »Neue Tiefe«. Bis heute konnte Laura sich genau an den Blick auf den Burger Binnensee erinnern. Jeden Morgen, wenn sie aufgewacht war, hatte sie die Kitesurfer bewundert, die über das Wasser flogen. Cool sahen die aus, als würden sie eher zu den Vögeln gehören und nicht zu den Menschen. Sicherlich war es jetzt, in den Sommerferien, belegt und außerdem viel zu groß für Laura allein.

      Natürlich, nichts war mehr so wie früher. Doch in der Nähe des Stadtparks entdeckte sie ein gemütlich wirkendes Haus mit roten Klinkern, in dessen Vorgarten die unterschiedlichsten Blumen um die Wette dufteten. Eine blaue Bank lud zum Verweilen ein. Zimmer frei, prangte auf einem ovalen Schild am weiß getünchten Zaun. Auf Lauras Klingeln öffnete eine kleine, rundliche Frau, die Laura breit anlächelte. Sie sagte, dass Laura großes Glück habe, eine Urlauberin habe kurzfristig abgesagt. Im Juli sei es fast unmöglich, spontan ein Zimmer zu bekommen, jedenfalls in Burg. Laura schluckte, als sie ihr den Preis für eine Nacht nannte. So teuer hatte sie es sich nicht vorgestellt. Vorsichtig tastete sie nach ihrem Gürtel. Etwas Günstigeres würde sie wohl nicht entdecken, dann musste sie an anderer Stelle sparen, beim Essen zum Beispiel.

      Das Zimmer war klein, aber gemütlich. Laura sortierte ihre Sachen in die Kommode aus dunkler Eiche, die mit bunten Schnitzereien versehen war, öffnete das Fenster und atmete tief ein. Die Luft roch nach frischer Erde, gedüngt mit ein wenig Salz. Sie hörte ein paar Kinder lachen, direkt vor ihr brummte eine dicke Hummel, Vögel zwitscherten. Für einen Moment glaubte sie fast, im Urlaub zu sein.

      Dann schob sich jedoch Pauls Gesicht in ihre Gedanken. Schnell, geradezu schuldbewusst, wandte sich Laura vom Fenster ab, holte ihr Handy und ihr Notizbuch heraus und ließ sich auf das Bett fallen.

      Sie hatte bereits herausgefunden, dass es drei Schulen auf Fehmarn gab: zwei Grundschulen und eine Gemeinschaftsschule. Leider konnte sie sich nicht mehr erinnern, was für eine Lehrerin Wiebke gewesen war. Laura rief als Erstes die Homepage der Inselschule in Burg auf. Die befand sich ganz in der Nähe. Erstaunt stellte Laura fest, dass sie beinah so groß war wie ihr Gymnasium in Hamburg – über tausend Schüler und um die hundert Lehrkräfte. Oh je, wie sollte sie da Wiebke finden, ohne ihren Nachnamen zu kennen? Doch dann atmete sie erleichtert auf. Fast das gesamte Personal war mit Foto aufgeführt. Aufgeregt scrollte