Düsterstrand. Meike Messal. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Meike Messal
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954752164
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blickte kurz auf. »Wirklich, Oma, ich will jetzt nichts.« Als Charlotte keine Anstalten machte, zu gehen, lächelte sie. »Weißt du, ich hab nachgedacht. Bis das Wintersemester anfängt, ist noch ein bisschen Zeit. Ich habe mich nach Jobs umgesehen, damit ich hier nicht die ganze Zeit nur abhänge.«

      Charlotte kam in Lauras Zimmer und setzte sich auf das Bett. »Gute Idee, finde ich. Hast du schon etwas Konkretes gefunden?«

      Laura nickte. »Ja. Es ist allerdings in Heiligenhafen. Ich müsste da für ein paar Wochen wohnen.« Als sie Charlottes Stirnrunzeln sah, sprach sie schnell weiter: »Ich könnte dort in der Buchhandlung arbeiten und bestimmt schon einige Dinge lernen, die auch für mein Studium wichtig sind.«

      Charlottes Lächeln kehrte zurück. »Ja, natürlich, hört sich gut an!« Sie legte Laura ihre Hand auf das Bein. »Wann kannst du denn loslegen?«

      Laura starrte auf ihr Handy, um Charlotte nicht anschauen zu müssen. »Wahrscheinlich schon morgen«, sagte sie.

      »Morgen?« Charlottes Stimme klang plötzlich hoch. Dann fing sie sich. »Nun gut, morgen«, wiederholte sie ruhiger. Sie stand auf, knetete dabei jedoch den Saum ihrer Strickjacke. »Dann werde ich mal in den Keller gehen. Brauchst du deinen Schlafsack? Deine Regenjacke? Und was für Essen möchtest du …«

      Laura sprang ebenfalls auf und legte ihren Arm um Charlotte. »Oma«, sagte sie, »ich fahre auf keine Weltreise. Sie werden sich dort um mich kümmern. Mach dir bitte keine Sorgen!«

      Charlotte tätschelte Lauras Wange. »Ich weiß. Du machst das schon.« Ihre warmen Hände verharrten für einen Moment auf Lauras Gesicht. »Hast du denn schon eine Unterkunft gefunden?«

      »Klar, die Buchhandlung hat mir geholfen. Sie brauchen wirklich dringend jemanden.«

      »Gut, dann lass ich dich mal packen. Du findest mich in der Küche, falls ich dir bei etwas helfen kann.«

      Laura nickte, schloss die Tür und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie wusste nicht, wann sie ihre Großmutter das letzte Mal so richtig angelogen hatte.

      Buchhandlung! Es war das Erste, was ihr in den Kopf gekommen war. Buchhandlungen gab es schließlich überall. Und Heiligenhafen war nicht direkt Fehmarn, das wäre ihr zu auffällig gewesen, schließlich wusste Charlotte um die Vergangenheit. Aber Heiligenhafen war immerhin nah dran. Und sie las gerne, verschlang Bücher geradezu. Ja, sie musste ihre Großmutter anlügen, anders ging es nicht. Denn wenn Charlotte wüsste, was ihre Enkelin wirklich vorhatte, würde sie mit allen Mittel versuchen, Laura davon abzubringen, so viel war klar.

      Laura ließ sich wieder auf das Bett fallen und öffnete die Fotos auf ihrem Handy. Seit sie gestern aus dem Café zurückgekommen war, hatte sie recherchiert und alles ordentlich abfotografiert. Laura scrollte durch die Seiten. Hauptsächlich Zeitungsartikel aus den letzten zehn Jahren. Sie hatte mit Pauls Verschwinden angefangen, doch es war ihr schwergefallen, davon zu lesen. Der mühsam errichtete Kellerraum in ihrem Inneren drohte einzustürzen. Schnell war sie deshalb zu dem anderen Jungen gesprungen, der seit einigen Tagen vermisst wurde. Die Zeitungen waren voll davon. Noch. Denn bald würden die Schlagzeilen verblassen, die Nachrichten darüber weniger werden, bis sie eines Tages ganz verschwunden sein würden. Wie Paul.

      Sie waren nie wieder nach Fehmarn gefahren. Nie wieder, denn nur ein Jahr später waren ihre Eltern gestorben. Laura schluckte, Tränen bahnten sich einen Weg nach draußen. Sie wischte sie weg, konzentrierte sich auf ihr Handy. Las von dem zweiten Fall.

      Es hatte ebenfalls groß in den Zeitungen gestanden. Doch Laura war klein gewesen, erst neun, und wie betäubt. Natürlich hatte sie sich damals noch gar nicht für die Presse interessiert. Wenn Charlotte es überhaupt mitbekommen hatte vor neun Jahren, als ihre Welt zusammengebrochen war, hätte sie Laura niemals davon erzählt, um nicht auch noch die Wunde wieder aufzureißen. Denn es war noch ein Junge verschwunden. Spurlos. Auf Fehmarn.

      Laura atmete tief ein. Zwei Jungen. Paul, sieben Jahre alt. Zwölf Monate später Finn, zwölf Jahre. Und jetzt Tom. Tom P., wie die Zeitungen schrieben, sieben Jahre. Sie alle hatten sich praktisch in Luft aufgelöst. Auf Fehmarn. Drei Jungen in zehn Jahren. Das musste doch jemandem aufgefallen sein? Laura hatte gelesen und gelesen. Das Hamburger Abendblatt, die Morgenpost, die Lübecker Nachrichten, die shz und natürlich das Fehmarnsche Tageblatt. Ja, über die ersten beiden Jungen war viel spekuliert, Zusammenhänge gesucht worden. Aber der neue Fall schien mit den beiden alten noch nicht verknüpft worden zu sein.

      Oder sie schreiben einfach nicht darüber. Vielleicht haben sie schon eine heiße Spur. Du glaubst doch nicht, dass die Polizei der Presse alles mitteilt. Laura blies sich eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. »Egal«, murmelte sie leise. Denn ob sie es wollte oder nicht – eins war ihr schmerzhaft klar geworden: Paul war nicht irgendwo bei einer Familie. Ihm ging es nicht gut. Es waren drei Jungen entführt worden. Irgendein Monster war da draußen, das Kinder stahl. Sie wegnahm, ganze Familien zerstörte. Paul war nicht der Einzige. Und vielleicht lebte er noch. Vielleicht lebten sie alle drei, irgendwo, und hofften, dass jemand kam und sie befreite.

      Laura stellte das Handy aus und richtete sich auf. Sie faltete ihre Hände und atmete tief ein, richtete ihren Blick nach oben. »Ich komme«, flüsterte sie. »Ich komme, Paul, und ich werde dich finden.«

      Sie nahm das Foto von ihrem Bruder aus ihrem Rucksack. Sie hatte es gestern aus der Schatulle herausgenommen und eingesteckt. Ihr Lieblingsbild. Man sah nur Pauls Gesicht, seine verwuschelten, braunen Haare, seine großen, dunklen Augen, die Sommersprossen. Sie hatte es auch mit dem Handy fotografiert, es sogar auf Facebook in ein Programm kopiert, das Menschen auf Fotos altern ließ. Er war ja nun ein Junge mitten in der Pubertät, musste sich wahrscheinlich schon rasieren. Sie traute dem Programm zwar nicht, aber vielleicht hatte sie damit wenigstens einen Anhaltspunkt.

      Lange schaute sie wieder den kleinen Paul auf dem Foto an. »Hab keine Angst mehr, ich bin bald da.« Sie schluckte und streichelte über sein Haar. »Es tut mir leid, dass ich so ewig gebraucht habe. Aber ich wusste ja nicht … Ich hatte gehofft …« Energisch sprang sie auf. »Ich werde dich finden. Ich verspreche es dir, Paul. Ich bringe dich zurück!«

      11

      An Fehmarn hatte Laura viele Erinnerungen. Der warme Sand, der durch ihre Zehen rieselte. Ihr Vater, der mit ihr und Paul eine riesige Sandburg baute. Mamas Schrei, als sie plötzlich einstürzte, der kurze Ausdruck des Schreckens auf Pauls Gesicht und das Lachen, als ihr Vater sie über und über mit Matsch bewarf. Die Schlammschlacht, das Springen ins Wasser, das Tauchen durch die Wellen. Die Abende vor dem Haus. Kerzenschein, die Stimme ihrer Mutter, die leise vorlas. Zusammengekuschelt unter einer flauschigen Decke. Die Eisdiele in Burg, Waffeln voll mit Eis, die man kaum auflecken konnte, bevor es schmolz. Süßes, wunderbares Softeis, das über die Finger lief, warme Zungen auf der Haut. Mamas Lachen. Paps Lachen. Pauls Lachen.

      Laura starrte aus dem Fenster und versuchte, das erneute Kratzen in ihrer Kehle zu ignorieren. Da! Vor ihr tauchte groß und majestätisch die Fehmarnsundbrücke auf. »Schaut, wir nähern uns dem Kleiderbügel«, hatte ihr Vater jedes Jahr aufs Neue gesagt, wenn der Koloss in ihr Blickfeld kam. Unwillkürlich musste Laura lächeln. Doch so schnell, wie es gekommen war, verschwand es auch wieder. Sie saß nicht mehr im Auto, und von ihrer Familie war nur sie übriggeblieben. Nein! Stopp! Das stimmte nicht. Paul gab es noch, natürlich, sie musste ihn nur finden!

      Eilig schaute Laura wieder aus dem Fenster, suchte einen Punkt, der ihr Halt geben konnte. Auf der Straße stand bereits eine lange Autoschlange. Ferienzeit. Wie gut, dass sie einfach daran vorbeirauschten. Weiter entfernt an der Küste konnte sie Heiligenhafen erkennen. Zum Glück hatte ihre Großmutter sie nicht weiter über die Buchhandlung ausgefragt. Sie würde irgendwann einen Ausflug dorthin machen und sie sich ansehen, damit sie wusste, wovon sie sprach. Später.

      Der Leuchtturm von Flügge! Weit weg, er war schwer zu erkennen, doch Laura sah ihn in Gedanken sofort wieder vor sich. Es war der einzige Leuchtturm auf Fehmarn, den man besteigen konnte, und sie waren natürlich mit der ganzen Familie hochgestiefelt. Laura konnte sich noch gut an den Ausblick von dort oben erinnern – bis nach Staberhuk und Großenbrode hatte sie blicken können. Anschließend waren