Düsterstrand. Meike Messal. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Meike Messal
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954752164
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Niemand hatte sich um sie gekümmert, und das hieß, sie waren …

      Schnell sprang Laura auf. »Wenn wir Tom finden, dann finden wir auch Paul. Bestimmt!« Sie kramte in ihrer Tasche, holte das Notizbuch heraus und zückte ihren Stift. »Jetzt erzähl mir ganz genau, was passiert ist. Alles, jede Kleinigkeit.«

      Wiebke zog Laura in den Strandkorb zurück. »Hör zu«, sagte sie, »die Polizei arbeitet auf Hochtouren. Sie geben sich alle Mühe, wirklich. Ich denke nicht, dass es eine gute Idee ist, wenn wir uns da einmischen. Falls jemand tatsächlich drei Kinder entführt hat, dann ist er sicherlich ziemlich gefährlich.«

      »Eben!« Laura nahm Wiebkes Hand und hielt sie fest. »Wie lange ist Tom jetzt verschwunden? Schon knapp eine Woche, oder? Und hat die Polizei irgendetwas erreicht?« Sie machte eine Pause. Als Wiebke nicht antwortete, fuhr sie fort: »Paul ist seit zehn Jahren weg und es gibt keine Spur. Nein, auf die Polizei können wir uns nicht verlassen. Wir müssen sie suchen, Wiebke. Du und ich.«

      Wiebke bewegte sich unruhig und atmete mit einem Mal schwer. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, stieß sie mühsam hervor.

      »Wie meinst du das?« Laura sah Verzweiflung auf ihrem Gesicht, sie sprang aus Wiebkes Augen wie ein Tier.

      »Tom, er hat Diabetes. Es ist erst vor ein paar Wochen aufgetreten. Plötzlich, aus heiterem Himmel. Keiner in unserer Familie hat es. Typ 1 Diabetes. Unheilbar.« Wiebke traten erneut Tränen in die Augen. »Er braucht regelmäßig Insulin. Wenn er das nicht bekommt, dann steigt sein Blutzucker, immer weiter und weiter. Und … er kennt sich damit noch nicht richtig aus. Er ist doch erst sieben, Herrgott noch mal.«

      Entsetzt schaute Laura Wiebke an. »Eine Woche ohne Insulin, das ist …« Wiebke schlang die Arme um ihren Körper. »Er wird sterben, wenn er nicht bald gefunden wird.«

      17

      Eine Woche ohne Insulin … Wiebkes Worte hallten in Lauras Kopf. Auf der Toilette hatte sie schnell gegoogelt und erschrocken gelesen, dass es für einen Diabetiker praktisch unmöglich war, ohne Insulin für mehr als ein paar Tage zu überleben. Natürlich hing das von allen möglichen Umständen ab – wie viel man aß, welche Kohlenhydrate es waren, ob man sich sportlich betätigte, ob der Körper noch eigenes Insulin bildete, wie es zu Beginn der Diagnose der Fall war und einiges mehr. Aber es war ganz sicher, dass Tom schnellstens gefunden werden musste, wenn er nicht bereits im diabetischen Koma lag, das durch Überzuckerung ausgelöst wurde.

      Als Laura in den Garten zurückkam, saß Wiebke noch immer im Strandkorb, die Beine nah an den Körper gezogen, die Arme fest darum geschlungen. »Ich kann dir gar nicht viel sagen«, murmelte sie. »An dem Tag, als Tom verschwand, hatten gerade die Ferien begonnen. Ich wollte nach Spanien, war voller Vorfreude, habe meinen Koffer gepackt. Da kam dieser schreckliche Anruf.«

      »Von wem?«

      »Thorben. Meinem Sohn. Tom ist sein und Neles Kind.«

      Laura nickte. »Wir müssen zu ihnen. Sofort.«

      Wiebke blinzelte. »Sie haben so viel durchgemacht. Bestimmt wollen sie uns nicht noch einmal alles erzählen.« Müde fuhr sie sich durch das Gesicht. »Ich habe ihnen immer wieder meine Hilfe angeboten. Aber sie melden sich nicht. Ich glaube, sie stehen völlig unter Schock, können nicht begreifen, was passiert ist.«

      »Aber sie wollen ihn wiederhaben und dabei kann ihnen doch nur jede Unterstützung recht sein. Wir müssen es wenigstens versuchen.« Bittend hielt Laura Wiebke eine Hand hin.

      »In Ordnung.« Seufzend ergriff sie Lauras ausgestreckten Arm und stand auf. »Ich hole nur schnell meine Tasche und den Autoschlüssel, dann können wir los.«

      Laura wurde blass. »Wohnen sie denn nicht in der Nähe? Ich dachte, wir könnten hinlaufen«, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.

      Stirnrunzelnd blieb Wiebke stehen. »Ja, schon, so weit ist es nicht. Aber du hast doch selbst gesagt – jede Minute zählt!«

      Mit den Füßen fest auf dem Boden, so, als wäre sie verwurzelt, blieb Laura regungslos stehen. »Ich fahre kein Auto.«

      »Okay.« Wiebkes Furchen auf der Stirn wurden noch tiefer. »Du musst ja auch nicht fahren. Das mache ich.«

      »Nein.« Abwehrend hob Laura die Hand. »Ich fahre auch nicht mit. Ich steige in überhaupt kein Auto ein.«

      Wiebke schloss für einen Moment die Augen und sah mit einem Male sehr alt aus. Dann gab sie sich einen Ruck, trat einen Schritt auf Laura zu und blieb erneut unsicher stehen.

      »Du fährst kein Auto«, wiederholte sie tonlos. »Kein Auto mehr.«

      Laura nickte. Starrte in den Garten, auf die Blumen. Bitte nicht die Bilder, diese schrecklichen Bilder. Nein, sie wollte nicht daran denken, sie wollte …

      Doch sie waren wieder da, explodierten in ihrem Kopf.

      Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist … Ihre Mutter überlegte und schaute sich im Auto um. Ihre Sonnenbrille hatte sie auf ihre lockigen Haare geschoben, suchend wanderten ihre Augen umher, blieben auf Laura haften, die auf der Rückbank saß, strahlten.

      Dann der Schrecken in ihrem Blick, als der Wagen plötzlich schleuderte, ihr Aufschrei. Die tiefe Stimme ihres Vaters, die irgendetwas rief. Laura verstand ihn nicht, alles drehte sich, knirschte, quietschte, Mutters Stimme, die immer noch schrie. Und dieser Knall, dieser entsetzliche Knall. Der Schmerz, als Laura in den Gurt gedrückt wurde, der Ruck, der sich anfühlte, als würde ihr Körper durchtrennt. Etwas rieselte in ihr Gesicht, es tat weh, alles tat weh.

      Als sie die Augen öffnete, war da nur Nebel und so ein komisches Geräusch, es fiepte in ihren Ohren, laut und anhaltend. Laura versuchte, etwas zu erkennen, aber überall war Glas, und ihre Mutter lächelte nicht mehr. Ihr Kopf war seltsam verdreht, Blut sickerte über ihr Haar, lief an ihrer Wange hinunter, tropfte auf den Sitz, der voller Glasscherben war. Ein Ast ragte in das Auto, seitlich durch das Fenster. Und vorne dieser riesige Baum. Stoisch stand er da, ihn störte der Wagen nicht, der halb um ihn gewickelt war, er war immun gegen den Schmerz. Ihren Vater konnte sie nicht erkennen. Aber sie nahm keine Bewegung wahr. Auch nicht, als sie ihn rief. Als sie schrie. Sie schrie, schrie immer noch, als die Feuerwehr sie aus dem Wagen holte, schrie und schrie. Denn Mama und Paps bewegten sich nicht mehr, sagten nichts. Sie blieben einfach stumm.

      18

      Der Raum war klein und von oben bis unten gekachelt. Weiße Kacheln überall, die im Licht der langen Lampen unter der Decke böse glitzerten. An der rechten Seite erkannte er eine alte Badewanne. An einigen Stellen war das Weiße abgeplatzt. Rechts hing ein kleines Waschbecken an der Wand, ein Stück war aus den Fugen gerissen, sodass die linke Seite seltsam verdreht nach unten zeigte.

      Inzwischen hatte der Durst den Hunger abgelöst. In seinem Kerker hatte er wenigstens immer eine Kanne mit Wasser gehabt. Er warf einen erneuten zaghaften Blick auf das Waschbecken. Würde daraus Wasser kommen? Es sah nicht wirklich so aus, als wäre es noch in Ordnung. Und die Wanne? Ihm blieb keine Zeit drüber nachzudenken, denn der Mönch hatte ihn schon in den Raum gezerrt und vor die Badewanne gestoßen. Nun sah er, dass sich darin etwas befand. Kein Wasser. Er zog die Augenbrauen zusammen und starrte auf die weißen Stückchen. Was war das bloß?

      »Zieh die Hose aus!« Wie immer war die Stimme des Mönches schneidend wie ein eiskalter Winterwind.

      Er blickte auf seine Jeans hinunter. Sie starrte vor Schmutz, die ehemals blaue Farbe hatte sich zu einem breiigen Braun-Grün gewandelt. Trotzdem wollte er sich nicht von ihr trennen. Mit einem Mal kam ihm diese Hose wie das Kostbarste vor, das er hatte. Sein einziger Schutz.

      Der Mönch legte seine Fingerspitzen aneinander. »Das ist das letzte Mal, dass ich dir die Regeln erkläre«, sagte er. »Die oberste Regel ist – du gehorchst. Nichts ist wichtiger als das. Ich will dir nicht wehtun. Wenn du gehorchst, wird alles gut. Wenn nicht, brockst du dir ganz schöne Schwierigkeiten ein.«

      Einen Moment zögerte er, dann zog er langsam die Jeans herunter. Zum Glück hatte er noch seine Unterhose an. Die mit Spiderman drauf, seine Lieblingsunterhose.