Etwas Seltenes überhaupt. Gabriele Tergit. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Tergit
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783731761372
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ja auch meine Weltanschauung nicht wie Sie als handgesponnenes Taschentuch aus meiner Jackentasche hängen.«

      Ich fragte ihn auch einmal, ob er Kinder habe.

      »Kinder? Ich ein Brahmane, von einer Europäerin? Nein!«

      Es war wenige Tage später, daß der Nazischriftsteller Hans Zehrer, der sich in eine Jüdin verliebt und sie geheiratet hatte, auf dieselbe Frage geantwortet hatte: »Wie können Sie glauben, daß ich Judenkinder in die Welt setzen werde.«

      Wilhelm Scheuermann, ein täglicher Stammtischler, der nach 1933 Die Geschichte des Hakenkreuzes veröffentlichte, schrieb in Das Wunderbare über »Vollmond statt Kali, Landwirtschaft ohne Düngemittel«. Hier begann der Konflikt. Es war in der Natur, wo man das Wunderbare dann doch nicht einfach abtun konnte, weil wir zu wenig wissen. Warum bekommt ein Stückchen Zweig, das auf die Erde fällt, Wurzeln? Dieses Buch, so wichtig, so aufschlußreich, ist nie wieder aufgelegt worden.

      Viele kamen gelegentlich an diesen Stammtisch, zum Beispiel Prinz Hubertus Löwenstein, es kam Wandt, ein dicker blonder bleicher Mensch, tief verbittert, er grüßte kaum, er saß dabei und trank Grappa. Er war zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden, weil er in seinem Buch Etappe Gent die Belgier genannt hatte, die den Deutschen geholfen hatten. »Sollte unsere Regierung«, heißt es in dem Urteil eines deutschen Gerichts 1923 »einmal in die Lage kommen, sich für ihre Zwecke der Hilfe jener Männer von neuem bedienen zu müssen, was bei einer Veränderung der gegenwärtigen politischen Lage leicht eintreten kann, so würde ihr das durch diesen Verrat bedeutend erschwert sein.« Das bedeutete nichts anderes, als daß fünf Jahre nach dem verlorenen Krieg von Kreisen des Reichsgerichts ein neuer Einmarsch in Belgien für möglich gehalten wurde.

      Das Obige schrieb ich vor vielen Jahren. Dann, nach einer Vorlesung im Emigranten-Klub 1943 sagte Hans Jaeger, der unvergeßliche Leiter des Klubs, zu mir: »Ich dachte gerade, von Wandt spricht keiner mehr, als Sie von Wandt anfingen.« Das war Anfang der siebziger Jahre. Aber ein halbes Jahrhundert in England hat mich gelehrt, daß die Freiheit in diesem geheimnisvollen Land auf einer eisernen Disziplin beruht. Es gab nie eine Zensur im Krieg, eben weil es diese Disziplin gibt. Vielleicht, aber ich bin nicht ganz sicher, könnte man sie Patriotismus nennen. Jedenfalls haben alle Demokratien Vertrauensleute in andern Ländern. Die Namen dieser Vertrauensleute zu veröffentlichen ist Landesverrat und wird bestraft.

      In unsern Stammtisch kam Werner Hegemann, der große Architekt und Schriftsteller, der Vorkämpfer der Gartenstadtbewegung, der Verehrer Ebenezer Howards und des englischen Einzelhauses: »Die Geschichte des englischen Städtebaus wirkt wie ein erfolgreicher Kampf um den Sieg der anständigen Gesinnung, die in dem Elisabethanischen Erlaß von 1580 zu Worte kam.« Der Sieg der unanständigen Gesinnung war für ihn verkörpert in Friedrich des Großen Hypothekenordnung, die aus Berlin eine Mietskasernenstadt gemacht hatte, nicht mit fünfzig Menschen auf dem acre wie in England, sondern mit fünfhundert! Es gab keine Slums für ihn in England, denn, verglichen mit den Mietskasernen des Kontinents, waren sie anständige Menschenwohnungen. Hegemann hatte die großen internationalen Städtebauausstellungen in Boston und Berlin 1909, in London und in anderen Städten geleitet. Er hatte gehofft, daß ein großes Wohnungsbauprogramm den Weltkrieg aufhalten würde, »indem es den später verpulverten Milliarden sehr viel nützlichere Verwendung schaffen würde, als der Weltkrieg nachher zu bieten vermochte«, wie er sagte. Und dann endlich hatte sich ein Teil seiner Hoffnungen verwirklicht in den Bauten der Berliner sozialdemokratischen Stadtverwaltung zwischen 1920 und 1930, Bauten, die in die Architekturbücher der ganzen Welt übergegangen sind. Diese Stadt Berlin war zweihundert Jahre lang ein Ausbeutungsobjekt der preußischen Könige gewesen, in ihren Freiheiten beschränkt, in ihrer Ausdehnung behindert, ihrer grünen Lungen beraubt. Das Resultat war, daß sie die entsetzlichsten Wohnungsverhältnisse aller Großstädte hatte, daß 1912 sechshunderttausend Menschen in Wohnungen wohnten, in denen jedes Zimmer mit fünf bis dreizehn Menschen belegt war, und daß Berlin, als einzige aller Weltstädte einen Sterbeüberschuß hatte. Und was für gemeine Dinge geschehen waren: die Berliner Straßenbahn wurde in ihrem Ausbau beschränkt, damit sich die Grundstücke in der Innenstadt nicht entwerteten.

      In der armen Weimarer Republik bekamen es dann die Sozialdemokraten fertig, sechsundvierzig Quadratmeilen für die Bevölkerung zu erwerben und Gartenstädte zu bauen, zum Beispiel die berühmte Hufeisensiedlung von Britz. Es war Kiaulehn, der uns zum erstenmal die Nachteile einer solchen Siedlung darstellte, sehr geringe Nachteile, verglichen mit den Mietskasernen. »Da möchte man lesen«, sagte Kiaulehn, »aber man kann nicht, man muß Gras schneiden, und wenn man zum Bahnhof geht, kommt sicher ein Nachbar, der einen ermahnt: ›Gar kein Gemüse? Aber das geht doch nicht. Und Sie müssen auch düngen.‹ Und dann kommen Rechnungen, Rosenbüsche und Stangen und Bohnensamen und Rasenschneidereparatur. ›Wenigstens zwei Rosenbüsche …‹, sagte der Nachbar, also Rechnung für Rosenbüsche.«

      Später in angelsächsischen Ländern mit ihren Gartenstädten hörten wir mehr dieser Klagen, jedermann ein Zwangsgärtner.

      Die Sozialdemokraten errichteten zum erstenmal in Berlin Spiel- und Sportplätze. Die Kosten, gemessen am Gesamtetat Berlins, waren winzig, nämlich 0,07 %. Schöpfer dieses neuen Berlin waren kleine Leute, ehemalige Buchdrucker und Werkmeister, zum Beispiel Stadtrat Busch. Sie waren die echten Fortschrittler, nicht die veralteten Kommunisten, die die scheußliche Erfindung der Neureichen, den Kurfürstendamm von 1900, im Osten wiederholten und Stalinallee nannten, natürlich auch für die Neureichen. »Nur für Sachsen«, sagte uns ein Ostberliner, »unsereiner hat da nischt zu suchen.«

      Die treuesten täglichen Stammtischler waren keine Beiträger zum Wunderbaren, aber zur Weltbühne: Dreyfus und Berthold Jacob, beide unabhängige Sozialisten. Jacob hatte nur ein Thema, das war die heimliche Reichswehr. Er und sein Bruder Hans Roger Madol waren die verschiedensten Brüder, die ich je kennengelernt habe. Madol hatte seinen Namen von seinem französischen Lehrer der Geschichte bekommen. Er machte die Fürsten Europas zu seinem Thema. Er hat einmal Heinz und mir in seinem Heim im Londoner Richmond eine brillante Studie über den Fürsten Ferdinand von Bulgarien vorgelesen. Der Unterschied zwischen den Coburgern und den Dänen, die zwei Häuser, die noch Könige lieferten, war für ihn faszinierend. Berthold Jacob war der echte Jakobiner, bereit, sämtliche Idole seines Bruders in irgendeine Verbannung zu schicken. Die beiden so verschiedenen Brüder waren grundehrlich. Berthold war ein David, der mit seiner Füllfeder gegen den Goliath Deutsche Reichswehr anrannte, völlig im Zug der Zeit Pazifist und Marxist. Madol liebte die europäischen Fürstenhäuser mit echter, im ganzen kritikloser Liebe. Es war leicht komisch, wenn ein Historiker nach 1918 die Dynastien als sein Thema wählte. Für Madol bewährte sich sein Puschel, er lebte mit den Großen, besichtigte die Welt – es wurde festgestellt, daß der europäische Hochadel erstaunlicherweise seinen Reichtum behalten hatte, führte ein volles Leben. Berthold war immer arm, im Gefängnis, in Gefahr. 1934 wurde er von der Gestapo aus der Schweiz entführt. 1934 gab es noch eine europäische Moral. Die kleine Schweiz setzte durch, daß Jacob entlassen wurde. Der Aufruf an Deutschland war ein großartiges Dokument. Ich erinnere mich nur noch daran, daß die Schweiz mitteilte, daß Europa sie zum Hüter der Alpenpässe erwählt habe, daß sie ein freies und unabhängiges Land bleiben müsse, um diese Aufgabe zu erfüllen, und daß Europa Menschenraub auf dem Boden dieses wichtigen Hüters nicht dulden könne. Berthold Jacob wollte nur das Beste, aber als er 1934 entführt wurde, fand man sein Notizbuch mit allen unseren Adressen bei ihm. Alle, die in Deutschland geblieben waren, kamen ins Gefängnis oder gar ins KZ. Auch Kiaulehn hatte schwere Wochen. 1941 ging Jacob in Lissabon zum amerikanischen Konsulat, um sich nach seiner Schiffspassage zu erkundigen. Was nur in ganz wenigen Fällen in Lissabon vorkam, Jacob verschwand. Kein Zweifel, daß in diesem Fall Portugiesen und Deutsche zusammenarbeiteten. Man hat nie mehr etwas über sein Schicksal gehört.

      Es kamen auch ausländische Journalisten an unseren Tisch. Knickerbocker, dessen Buch Deutschland so (Hakenkreuz) oder so (Hammer und Sichel) ein Bestseller war. Er hatte in ganz Deutschland vom Untergang an den Reparationen gehört, (zum Beispiel hatte Reusch, der Generaldirektor der Gutehoffnungshütte, gesagt: »Wenn Frankreich nicht unsere politischen Schulden streicht, stehen wir Deutschen vor einem geistigen Zusammenbruch.«) Von Knickerbockers Tatsachen wurde nicht Notiz genommen: deutsche Stahlausfuhr dreimal so groß wie die amerikanische, Stickstoffwerke allein könnten