Etwas Seltenes überhaupt. Gabriele Tergit. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Tergit
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783731761372
Скачать книгу
war. In diesem Augenblick stand die Notenpresse still und ein Dollar war 4,20 Mark wie eh und je. So einfach wäre es also in jedem Augenblick gewesen, dachten alle und fühlten sich betrogen. Leute taten sich zusammen, um ihre alten »rotgestempelten« Hundertmarkscheine aufgewertet zu bekommen, um Betrugsanzeigen zu erstatten gegen die Republik, gegen die Reichsbank. Die Sparethik war die moralische Grundlage seit Ewigkeit, denn alles mußte mühselig mit der Hand gemacht, gesät, geerntet werden. Der Verschwender mußte ein Lump sein, der von der Mühsal anderer lebte. Die Menschen hatten, wie man sagte, Pfennig auf Pfennig gelegt, sich alle Freuden versagt, um im Alter, bei Krankheiten, gesichert zu sein. Und nun? Betrogen! Natürlich wurden sie Nazis.

      Wolff gehörte zum 19. Jahrhundert. Er fühlte sich ohne jede Einschränkung als Deutscher und hatte eine christliche Deutsche geheiratet. Er hat viel für Berlin getan. Er hatte die erste deutsche Ausstellung von Edvard Munch in Berlin organisiert, was zu einem Skandal und zur Gründung der Sezession führte; er gehörte zu den wenigen Entdeckern von Gerhart Hauptmann, die 1889 Vor Sonnenaufgang im Lessingtheater ermöglicht hatten. Er hatte Anatole France übersetzt, er war ein Freund Max Reinhardts. Er hatte in den neunziger Jahren in Paris gelebt und von dort seine aufsehenerregenden Artikel geschickt. Sein Kampf gegen die französische Politik nach 1918 war der des enttäuschten Liebenden. Er wurde in der Redaktion tief verehrt. Er hatte es aufgegeben, seine Leitartikel am Montag zu veröffentlichen, weil ihm das alle Sonntage verdarb. So schrieb er sie am Freitag und Sonnabend. War an diesen Tagen eine laute Unterhaltung auf dem Korridor der Redaktion, so kam sicher jemand, der leise sagte: »Seid mal ruhig, Wolff ist noch nicht mit seinem Leitartikel fertig.« Das genügte völlig.

Tergit_02.tif

      Bild 3: Gabriele Tergit und ihr Mann Heinz Reifenberg 1928 in ihrer Wohnung am Potsdamer Platz

      Emil Faktor, der Redakteur des Berliner Börsen-Couriers, war nicht böse, als ich ihm meinen Weggang mitteilte, er war traurig. Er bot mir dreihundert Mark im Monat und ein Zimmer an. Ich fand mich gräßlich. Faktor hatte Joachimsohn und mich entdeckt, und nach einem Vierteljahr gingen wir einfach weg. Aber zum Berliner Tageblatt zu gehören galt damals als große Sache. Und Hollywood! »Heute war Lubitsch bei mir«, sagte unser Freund Dr. Bohne, »na selig! Nach Hollywood engagiert.« Lubitsch hatte bei Reinhardt die Diener, den dritten Reiter, einen aus der Volksmenge gespielt. Und nun Hollywood! Obwohl er nicht wissen konnte, daß er ein Glück für Millionen werden würde. Meine Zeit beim BT vom 1. Januar 25 bis 33 waren auch für mich die sieben fetten Jahre im Leben einer ganzen Generation. Die Arbeit in der Lokalredaktion war nicht erfreulich. Der Chef genau wie der Feuilletonchef Fred Hildenbrandt war blond, groß, gutaussehend und fand sich hinreißend. Sie waren nicht freundlich. Ich hatte einen Artikel mit »Und dann gabs Cointreau« enden lassen. Ich schrieb das ahnungslos hin wie Cognac. Am nächsten Tag kam ein Bote und brachte mir eine Flasche Cointreau. Natürlich war es dumm von mir, die Flasche zu nehmen. Statt daß einer in der Redaktion einfach gesagt hätte: »Lassen Sie uns einen heben«, begann ein Gerede, daß ich mich bestechen lasse.

      Walther Kiaulehn, dem die Atmosphäre in der Lokalredaktion auch nicht gefiel, erfand die Berlin-Seite. Theodor Wolff erlaubte sie. Wir zogen um in Rudolf Oldens Zimmer. Es war ein Geniestreich Kiaulehns.

      Er hatte für uns eine eigene Wochenzeitschrift gegründet, gleich mit zweihunderttausend Abonnenten und ohne die Sorgen, die mit kleinen Zeitschriften verknüpft sind. Kiaulehns Vater war Maurer gewesen. »Damals sind die Maurer mit der Droschke zur Arbeit gefahren«, sagte Kiaulehn. Er war ein Berliner Proletarier. Seine Mutter war einmal beim Teigmachen vor Müdigkeit und Überarbeitung hingeschlagen, und eine herrliche Kindererinnerung war sein Aufenthalt im Krankenhaus. Er strich nachher immer um das Krankenhaus herum, weil er hoffte, sie würden ihn wieder aufnehmen. Dabei war er geschmäcklerisch wie ein Duc de Guermantes. Er kaufte Rokokoliteratur auf Bücherwagen, verstaubte Beiträge zur Geschichte der menschlichen Dummheit. Er liebte Anatole France, aber auch hier nicht die weltberühmten, sondern die abseitigen Bücher. Die Bratküche zur Königin Gänsefuß oder Nützliche und erbauliche Meinungen des Herrn Abbé Coignard, gesammelt von seinem Schüler Jaques Tournebroche. Veröffentlicht von Anatole France. Mir brachte er einmal Morgenländisches Kleeblatt, aufgelesen durch Joseph von Hammer, 1819, Wien, das folgende Widmung von 1819 trug: »Freundinn, Dichterinn, Frau, als solche dreymal verehrt, weil du glücklich vereinst Sitte mit Geist und Gemüth. Nimm als Opfer des Freunds dieses seltene östliche Dryblatt von sarazenischem Klee, medischem, türkischem auch.«

      Man konnte aus dem Proletariat aufsteigen zur verzwicktesten Geistigkeit, aber umgekehrt müssen Proletarier nicht die besseren Menschen sein. Kiaulehn hatte als der Helfer eines Elektrikers angefangen. Nach ein paar Jahren las er eine Annonce, wo ein ausgebildeter Elektriker verlangt wurde. Kiaulehn bekam die Stellung und als erste Arbeit eine ungeheuer komplizierte Klingelanlage in einer Bank. Er holte sich Bücher, arbeitete immer nach den Büchern, die Nacht durch. Er bekam einen sehr anständigen Lohn. Es war der erste Schritt. Aber er hatte, um diese Stellung zu bekommen, Papiere gefälscht. Es war geglückt. Kiaulehn entdeckte die Komik des Alltags, das Abstruse, das Skurrile. Er schrieb über einen Mann, der auf der äußersten Spitze der Loreley einen Handstand versuchte und dabei in die Tiefe stürzte. Kästner machte ein Gedicht daraus. Beide fanden, daß der Handstand auf der Loreley eine ganz besonders deutsche Abart der allgemeinen menschlichen Narrheit ist. Er romantisierte Berlin, erfand einen Heinebalkon, der nie existiert hatte, machte das verlassene Billardcafé zur Billardlegende.

      Wenn ich über einen Prozeß schrieb, so hielt das Aufnahmeband, das mein Gehirn ist, den einen entscheidenden Satz des Prozesses fest, aber aus diesem Satz entwickelte Kiaulehn eine »Studie zur Frauentreue«. Die Waage auf der Herrentoilette auf dem Wittenbergplatz wurde zum »Bacchanal auf der Wiegeschale«. Kiaulehn war ein Ziseleur der Sprache wie jeder Humorist, aber mehr noch ein Genie der Geselligkeit, ein Causeur. Die Anregungen, die er um sich streute, hätten genügt, mehrere Zeitungen zu füllen. Wir wanderten durch Berlin. Er nahm mich in Arbeiterkneipen mit, zu Demonstrationen, so zu der für Sacco und Vanzetti. Ich lernte von ihm. Den Gerichtsdienern (Amtsbezeichnung im Kaiserreich), Wachtmeistern (unter der Weimarer Republik) gab er die Hand. Ich tat das nie, nicht aus Hochmut, eher aus Schüchternheit. Von nun an tat ich es auch und bekam gleich eine ganz andere Beziehung. Bedienten wurde in Berlin nicht die Hand gegeben. In der Stanislawskischen Aufführung des Kirschgartens vor 1914 sah ich, daß das in Rußland ganz selbstverständlich war.

      Rudolf Olden, der Dritte unserer Berlin-Seite, kam aus Wien, und ich lernte an ihm das Wienerische kennen. »Wir spielen alle, wer es weiß, ist klug«, sagte Schnitzler.

      Nur nichts ernst nehmen, nur nichts Ernstes sagen. Ich nahm alles ernst, mein Schreiben, mein Judentum, meine Ehe, mein Kind, meinen Haushalt. Von Spielen konnte da wohl keine Rede sein. Ich bin Olden wohl zuerst einfältig vorgekommen, so wie Olden mir zuerst ausgesprochen albern in einem schwarzen Schoßmantel von 1840, einem schwarzen Kalabreser, groß, schlank, sein Gesicht entstellt von den Schmissen der Mensuren seiner Corpsstudentenzeit. In unserem Zimmer legte er diese Verkleidung eines Wiener Dandys ab, steckte sein Monokel in die Tasche, zog eine graue Jacke an und setzte eine Brille auf. Er hielt die Hand an die Hüfte, sagte: »Ich habe wieder solchen Ischias, bestellen Sie uns einen Kaffee.« Und begab sich an unsre Manuskripte. Er strich, stellte zusammen, hob einen Gedanken aus der Wirrnis des dunkel Gefühlten in die Klarheit einer lichtvollen Prosa, und so wurde aus unsern Artikeln erst ein guter Kiaulehn, ein guter Tergit. Um drei Uhr, wenn die Schnellpresse das Wort hatte, verkleidete sich Olden wieder. Die freundliche Brille des selbstlosen Redakteurs verschwand, der tolle Mantel wurde angezogen, das extravagante Monokel eingeklemmt, und so gepanzert, konnte er sich der Welt stellen oder den Mädchen, aus denen Olden sich viel machte. Es war alles schrecklich kompliziert. Ich mußte am Telefon sagen, ich wüßte nicht, ob er da ist, ihn leise fragen: »Sind Sie da?« Einmal sagte ich: »Ihre Frau.« »Welche, die Erste, die Richtige?« fragte er. Sie war die Tochter des Wiener Historikers Fournier und der Tochter des Wiener Burgtheaterschauspielers Gabillon, eigentlich Gabrilowitsch aus Pommern. Felix Hollaender, Reinhardts rechte Hand, hat einen Roman Unser Haus geschrieben, mit dem Türschild »Unpraktischer Arzt und Geburtshelfer«, höchst amüsant. In diesem Haus in der Oranienburgerstraße wohnten Oppenheims mit einem bildschönen