»Det is wahr.«
»Du kannst doch nich mehr richtig wegloofen. Dir verhaften sie bloß.«
»Na, is gut«, sagte Spinner, »klebt alleine.«
»Kommste mit in ›Fliederbusch‹. Die Parteigenossen treffen sich heute dort.«
»Jrossartjes Verkehrslokal der ›Fliederbusch‹. Ich habe dicke Schulden. Denkste der Wirt mahnt? Fürn P.G., hat er jesagt, tut er alles.«
»Ick jeh heute abend dem Reichsbanner seinen Paukenschlegel klauen. Die Sozis können doch nischt andres als trommeln. Sind se doch aufgeschmissen ohne Paukenschlegel.«
Ein paar Tage später sagte auf der gleichen Bank der Kommunist Ratschek zu dem Kommunisten Maier: »Dem Reichsbanner ist sein Paukenschlegel geklaut worden. Rotfront soll mitmachen bei der Wiedererlangung.«
»Kommt janich in Frage«, sagte Maier, »ich werd den Sozialfaschisten helfen, diesen Verrätern an der arbeitenden Klasse. Nee, nee, auf keinen Fall.«
»Sei kein Frosch. Die Nazialisten sind ganz gefährliche Brüder. Die nehmen uns die ganze Jugend weg. Kannste mir glauben, gefährliche Brüder. Ich bin mit Schulze in die 534. Gemeindeschule gegangen. Den kenn ich, wir arbeiten beide bei Osram. Det is son anständiger Kerl. Ich möchte dem helfen, den Nazis was auszuwischen.«
»Das mußte auf deine eigene Kappe nehmen. Ich kann dir Rotfront nich als Rotfront zur Verfügung stellen. Da käme mir die KPD schön aufn Kopp. Aber wenn du heute abend in die Hinterstube vom ›Weißen Meer‹ gehst, kannste alle unsere Leute sprechen.«
Sozis und Kommunisten versammelten sich zweihundert Mann stark. Einer kletterte durch das Fenster in das Parteilokal der Nazis und nahm den Paukenschlegel vom Tisch weg. Nur ein SA-Mann hatte Wache. Der mobilisierte seine Freunde und auf der Straße kams zum Zusammenstoß. Die Polizei kam rasch und nahm die meisten fest, sozialdemokratische Reichsbannerleute, kommunistische Rotfront, SA-Männer und zwei Verwundete, einen Nazi und einen Sozi. Alle waren über zwanzig. Die Sechszehn- und Siebzehnjährigen waren schneller als die Polizei gewesen. Hatte Feldtke recht behalten. Die waren entwischt.
»Nun zum Angeklagten Spinner«, sagte der Richter, »das sieht ja nun böse aus. Bei Ihnen wurde ein Messer blitzen gesehen.«
»Bei mir? Ich bin Schlächtergeselle, ich geh nich mitn Messer aus. Es war ein Malerpinsel.«
»Warum soll denn ein Schlächtergeselle mit einem Malerpinsel ausgehen?«
»Entschuldigen Sie«, sagte Feldtke, »mein Freund wollte mir die Stube streichen. Des is doch hoffentlich in der freien Repuplik noch nich verboten?«
»Auch ein Schlächtergeselle legt abends sein Schanzzeug weg.«
Die ganze Geschichte ist jetzt sechs Wochen her. »Ich bin aus die SA ausgetreten, ich bin nich mehr bei die Politik. Ich bin doch schon vierundzwanzig, Herr Richter. Ich widme mich nur noch dem Sport. Ich bin Ringkämpfer geworden.«
Kann man das ernst nehmen? Ich nahm es nicht ernst. Niemand nahm es ernst. Ernst nahm ich es erst ein paar Jahre darauf, als mir Olden sagte: »Die Fememordprozesse sind öffentlich. Gehen Sie mal auf alle Fälle hin.«
Auf der Sachverständigenbank saß die deutsche Oberschicht, saßen die Gründer der Reichswehr, der vorzüglich aussehende Hammerstein, der kleine plumpe subalterne Schleicher, dem niemand glauben würde, daß seine Ahnen schon im 13. Jahrhundert auf ihrer Burg saßen, Fritsch, der die Moltketradition des Schweigens fortsetzte, und Oberst Beck, alle mit den breiten Streifen des Großen Generalstabs. Das waren nach dem Gesetz der natürlichen Auslese die begabtesten Deutschen. Seit zweihundert Jahren war es in Preußen der oberste Ehrgeiz der obersten Schicht, daß ihre begabtesten Kinder in der Armee aufstiegen. Das waren nicht die Offiziere einer geschlagenen Armee. Das waren die selbstbewußtesten Leute in Deutschland.
Sie waren die Liebenswürdigkeit selbst, und nicht für einen Moment verloren sie, die sich anschickten die tödlichste Armee der Welt zu schaffen, ihr konziliantes Lächeln. Sie würdigten die Männer auf der Anklagebank keines Blicks.
Denn das war die Unterwelt, von der der gute Bürger aller Zeiten und Länder keine Notiz nehmen will, wo sich Draufgängertum und Verbrechertum schneiden, wo das Gewissen erstickt ist durch den Befehl, gedungene Mörder, Leutnants vom kleinen Herkommen, die fast noch als Schulknaben Herr wurden über Leben und Tod, ein Gott für Vater und Mutter und die Mädchen: »Mein Sohn, der Leutnant«, der nun reden konnte wie die feinen Leute: »Mein Kamerad vom Regiment X«, und nicht mehr heimfand in das bürgerliche Leben, den Zigarrenladen des Vaters.
Oberleutnant Schulz wurde im Militärwaisenhaus aufgezogen, die menschlichen Beziehungen bestanden zeit seines Lebens in Befehl und Gehorsam. Dr. Dr. Ing. Stantien, Typus des staatsfeindlichen Studenten, völlig besessen von der Terminologie des Krieges, weil Lernen Unsinn scheint, Wissenschaft eine überlebte Angelegenheit, und wer war Nothelfer und wer Hochverräter? Klapproth war ein Riese, der Kopf nur Kinn, keine Stirn: »Wenn ich einen packe«, sagte er und hob die Hände über den Kopf, »und auf den Zementboden schmeiße, dann ist er eben ohnmächtig.« Schwere Eisenmuffen wurden in den Saal geschleppt. Einen Toten hat man mit ihnen ins Wasser versenkt. »Heute haben wir einen schwimmen lassen.« »Wenn der Auspuff offen ist und es knattert, kann der Schuß krachen.« Der Schuß, den Fuhrmann »ein Schüßchen in den Hinterkopf« nannte, eine Atmosphäre der Fußtritte, des Ochsenziemers. Was zehn Jahre später als der Anfang des Endes des alten Reiches begann, es war alles schon da.
Der Kunstgewerbler Schmidt-Halbschuh, als eine Art von militärischem Wandervogel gekleidet, sagte: »Wir gründeten 1920 eine nationale Armee. Ziel der nationalen Armee war die Vernichtung der Republik in allen ihren Organen. Wir beschlossen die Tötung Severings, Seeckts und die Befreiung Ehrhardts.«
Der Richter fragte: »Wie groß war die nationale Armee bei ihrer Gründung?«
»Sechs Mann.«
Auch die Nazis begannen mit sechs Mann. Warum Hitler und nicht Schmidt-Halbschuh? Oder: ein alter preußischer Beamter gibt vor, alles sei ordentlich zugegangen.
Der Richter sagte: »Erlauben Sie mal, es sind doch Morde vorgekommen?«
»Ja, ich habe davon gehört. Mir aber kann nicht zugemutet werden, daß ich Kameraden, ehrenwerte Männer, als Mörder betrachte.«
Einer der Mörder nennt sich Tell. Das ist ein Programm. Es ist zu kompliziert, auf die Nachkriegswirren einzugehen, nur ein Beispiel: In Oberschlesien war Grenzschutz notwendig. Die fünfzig ungesühnten Morde, die dort geschahen, die als Selbstjustiz galten, hat sie das Recht gedeckt? Legal war es, dort einzutreten, illegal war die Organisation Consul, aber sie wurde wiederum legal, als sie in die Schwarze Reichswehr eingeschmolzen wurde. Man weiß, daß es sie gibt, die Parodie des »Krümpersystems« nach 1806, winzig, aber da, töricht, aber vergiftend.
Noch ein finsterer Bursche trat auf, Heines auf Baldur, auf hellen Sonnengott getrimmt, in fast weißem Tweed mit kurzen Sporthosen und weißen Strümpfen mit breiten hellblauen Strumpfbändern mit Schleifen an den Außenseiten, hellblauer Krawatte, blonden langen flatternden Haaren, im Zuhörerraum junge Leute, die ihn anschwärmen wie normale Jünglinge eine Primadonna.
Er ist es, der besonders gern die Menschen zu Tode prügelt.
1933 wurde er Polizeipräsident von Breslau. Er ließ als erstes die jüdischen Richter die hohen Steintreppen des Gerichts hinunterwerfen.
Breslau war die Hauptstadt der Provinz Schlesien, dem Land der alten Aristokratie, der Herzöge von Sagan, der Fürsten Pleß.
Damals war die preußische sozialdemokratische Polizei noch völlig intakt. Damals waren noch die alten Beamten und Richter in ihren Ämtern. Damals existierte noch das alte Offizierskorps mit seinen berühmten Ehrbegriffen. Alle diese ließen einen homosexuellen Sadisten über Tod und Leben einer Million Seelen bestimmen.
Heines wurde zusammen mit allen übrigen Fememördern am 30. Juni 1934 umgebracht, aber von seinen eigenen Leuten.
Hitler war damals noch ein kleiner