Etwas Seltenes überhaupt. Gabriele Tergit. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Tergit
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783731761372
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ich, »wie er plötzlich laut gerufen hat: ›Sieht er nicht aus wie ein Adler? Er ist ein Adler!‹«

      »Das alles auf Seeckt, der am Nebentisch saß«, sagte sie. Seeckt war der Chef der Reichswehr.

      »Wurde er nicht gleich in ein Sanatorium gebracht?«

      »Irre.«

      »Eigentlich traurig, aber wir haben doch alle gelacht.«

      »Seeckt als Adler.«

      »Und diese albernen Memoiren«, sagte ich.

      »Mütterchen Olden!« sagte Ilse.

      »Genau das habe ich gemeint«, sagte ich.

      »Unsere Mutter ›Mütterchen Olden‹«, sagte Ilse richtig ärgerlich. »Das ist ganz selten, daß man sich so sofort versteht«, und meinte uns beide.

      Und dann sprachen wir von Tilly Wedekind. Ich sagte: »Sie war mittelgroß mit glatten schwarzen Haaren, ein süßes Gesicht. Sie war ganz unbewußt, ganz einfach, als sie mir von ihrem Schwiegersohn Sternheim vorschwärmte. Aber ich konnte kein Wort sprechen. Ich sah das Wunder. Ich sah sie mit Wedekinds Augen, Lulu, die Naturgewalt, die die Männer zu Schöpfern macht. Daß Wedekind das Wunder an dieser Frau sah und sie zur Weltfigur machte, zum Symbol der ewigen Erneuerung, das allein macht ihn zum Genie. Zart möchte ich sagen, das war das Wesentliche an ihr, das Gegenteil der Hollywood-Sex-Bombe oder der klassischen Schönheiten unserer Väter vor dem ersten Weltkrieg, keine Aphrodite, bescheiden und ein bißchen dümmlich, meinen Sie nicht?«

      »Ach, ich muß Ihnen noch etwas erzählen. Kurz nach dem Krieg gab Pamela Wedekind auf einer winzigen Londoner Bühne einen Abend. Es war natürlich ein ältliches Publikum der früheren deutschen Theaterwelt. In der Pause kam der Regisseur einer berühmten Aufführung des Strindbergschen Traumspiels bei Bernauer auf uns zu.«

      »Traumspiel?« sagte Ilse.

      »Ich weiß nur noch, daß darin einer etwas Grünes wiederzufinden sucht, aber was er findet, ist nicht das Grün. Seitdem sagten Heinz und ich bei jeder Enttäuschung: ›Es ist wieder mal nicht das Grün.‹ Er kam aufgeregt auf Heinz zu: ›Das ist ja Wedekind selber. Sie kann ja ihren Vater nicht mehr selber gehört haben, also vererbt, jeder Ausdruck, jede Gebärde genau wie Frank Wedekind, gespenstisch und wunderbar zugleich, das noch einmal zu erleben.‹ Für uns war es neu, aber in dieser im wesentlichen Alten Herrengesellschaft, aufgeregt von einem Jahrzehnte zurückliegenden Kunsterlebnis. ›Reifenberg‹, sagte der Regisseur, ›passen Sie auf die Hand auf, genau so hat Frank die Hand gehalten.‹«

      »Ich begleite Sie nach unten«, sagte Ilse, als ich mir meinen Mantel vom Pompadourbett nahm.

      »Ich kann doch allein im Fahrstuhl runterfahren«.

      Aber sie kam mit. Wir wußten, es war das erste und letzte Mal. Sie stand am Fahrstuhl. Ich ging zum Taxi. Wäre es in London oder Paris gewesen, hätten wir uns einen Kuss gegeben, aber deutsche Länder haben kein Klima der Zärtlichkeit. Kein Kuss für Haushilfen oder von Lieferanten.

      In den siebziger Jahren nahm ich mir Oldens PEN-Korrespondenz vor, bevor ich sie in ein Archiv gab. 1934 wurde nach dem Anschluss des deutschen Nazi-PEN ein PEN-Zentrum deutschprachiger Autoren im Ausland gegründet. Heinrich Mann wurde Präsident, Olden Sekretär. Ein allererster kleiner Verdacht, daß er die Dinge nicht richtig sah, kam mir, als ich ihm schrieb, als altes Mitglied würde ich gern wieder eintreten, und er antwortete: »Wozu denn? Der PEN ist doch nur dazu da, Geld auszugeben, nicht um was zu verdienen.« Als Hitler 1938 begann, Europa zu besetzen, kamen die Hilferufe der gefährdeten Schriftsteller, Olden, ein Einzelner ohne Büro, ohne Sekretärin, ohne jeden Betrieb der Wohltätigkeit, widmete den Kollegen, weit über seine Kräfte, Geld und Zeit. Er beantwortete Hunderte von Briefen, keiner war zu dumm, kein Kollege zu unsympathisch. Zwei große Engländerinnen, Mrs. Chance und Miss Storm-Jameson verhandelten mit den Behörden und den Garantoren, und der Sekretär des Internationalen PEN, der schon der Sekretär des Gründungspräsidenten John Galsworthy gewesen war, zuerst zögernd, weil er nicht recht wußte, in welche Todesstrudel sein freundlicher Dichterklub da gerissen wurde, rettete Hunderte, organisierte den Exodus. Aber nur den Exodus der Antinazischriftsteller. Noch kam keiner auf die Idee, daß ein ganzes Volk vernichtet werden sollte, die Erwachsenen in Gaskammern, die Kinder in riesigen Feuern lebendig verbrannt.

      Und die Briefe handelten nicht nur von Rettung. War es ergreifend oder ahnungslos, daß Heinrich Mann und Olden es wirklich für wichtig hielten, ob Klaus Mann oder Feuchtwanger auf den PEN-Kongressen 1935 in Barcelona, 1936 in Buenos Aires, 1937 in Paris eine Rede hielten, um über Hitler aufzuklären?

      »Wer wird für unsere Gruppe sprechen?« wird in vielen Briefen diskutiert. Glaubten sie wirklich, von einem Schriftstellerkongreß aus die Welt alarmieren zu können? Vielleicht war es auch früher anders. Vielleicht genügte es früher wirklich, die winzige mächtige Oberschicht, zu der auch große Gelehrte und große Künstler gehörten, zu warnen? Heute bedarf es eines Fernsehens für Millionen, um beileibe nicht das Gleiche, aber wenigstens annähernd das Gleiche zu erreichen. Auch ein paar andre Briefe sind erschütternd. Am groteskesten erscheint, was Hermon Ould im August 1939 mitteilt, Hermon Ould, ein Lyriker, aber eben doch ein Engländer, Erbe eines mit der Welt vertrauten Empires, schreibt an Olden: »Emil Ludwig fand, daß im Kriegsfall die PEN Zentren zusammengerufen werden sollten, um sofort etwas zu tun. Diese Idee erschien mir nicht nur unpraktisch, sondern offenbarte einen rührenden Glauben an die Macht von uns Schriftstellern, mit einer wirklichen politischen Krise fertigzuwerden. An solche Kleinigkeiten wie Visas und Transport, wenn ein Krieg ausbricht, scheint er nicht gedacht zu haben.«

      Ludwig war damals ein Millionenbestseller mit Biographien geschichtlicher Figuren.

      Heinz lebte nicht mehr. Ich saß vor Oldens Briefen und konnte nicht zu Heinz ins Zimmer gehen und ihm von meinen Entdeckungen berichten, der einzige Mensch, der das alles bis in die kleinsten Fältchen verstanden hätte. Die letzten zehn Jahre unseres Lebens hatte er jeden Morgen beim Frühstück halb ironisch, halb »frozzelnd«, hätte meine Münchener Mama gesagt, und halb liebevoll gefragt: »Na, was ist heute wieder wahnsinnig interessant in der Zeitung?« Das hätte er auch gesagt, wenn ich mit diesen Briefen zu ihm gekommen wäre.

      Paul Cassirer, der in Berlin einen Kunstsalon hatte, hatte die französischen Impressionisten für Deutschland entdeckt. 1901 hatte er die erste Cézanne-Ausstellung gewagt, die Wilhelm II. so beurteilte: »Paul Cassirer, der die Dreckkunst aus Paris zu uns bringt.« Cassirer verkaufte ein einziges Bild, ein Blumenstilleben für 250 Mark. Er stellte auch als erster van Gogh aus. Jahrzehnte später fand wieder eine van Gogh-Ausstellung bei Cassirer statt. Heinz sah sie und sagte: »Ich weiß nicht. Es war gar nicht eindrucksvoll. Haben wir van Gogh überschätzt?« Die van Goghs bei Cassirer waren als Fälschungen entdeckt worden. Paul Cassirer lebte nicht mehr, und Grete Ring, die seine Nachfolgerin geworden war, sagte bei einem Prozeß, der nun stattfand: »Es hatte damit angefangen, daß wir aus Paris und New York hörten, daß man dort sagte: ›Sie können nicht in Berlin kaufen, da verkauft man Ihnen gefälschte van Goghs.‹« Und nun bekamen wir unvergeßlichen Kunstunterricht. Die van Goghs der Cassirer-Ausstellung hingen an den Wänden und waren, wie Heinz gesagt hatte, nicht eindrucksvoll, und dann ließ Geheimrat Justi die große Zypresse von van Gogh aus der Nationalgalerie bringen, deren Direktor er war. Sitzungssaal und Zuhörerraum waren voll von Kunstkritikern, Kunstinteressierten. Auch Heinz war in dem Zuhörerraum. Als das Bild in den Saal gebracht wurde, ging ein unwillkürliches »Ah« durch den Raum. Justi sagte: »Ich habe mich ja nicht mit Kunst beschäftigt, um ein Beamter Seiner Majestät zu werden, sondern weil ich Augen habe.« Es wäre sehr schwer, Fälschungen von alter Kunst zu entdecken, anders bei moderner Kunst, wo der Strich des Meisters so klar zu erkennen ist! Und dann wurde es noch aufregender. Die Bilder wurden geröntgt, und man sah den kraftvollen Strich des echten van Gogh und den vorsichtigen, immer wieder absetzenden der Fälschungen. Der Kunst auf eine so wissenschaftliche, ganz unkünstlerische Weise nah zu kommen rührte an die großen Geheimnisse. In der Pause, als wir alle aufgeregt diskutierten, sagte Heinz leise zu mir: »Ich habe auch die Fälscher entdeckt. Da sitzen sie, die rheinischen Gauner aus Düsseldorf.« Heinz lächelte ihnen zu. Sie lächelten