Etwas Seltenes überhaupt. Gabriele Tergit. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Tergit
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783731761372
Скачать книгу
man von einem Mann wie Heinz nicht verlangen. Und dann kam van Gogh selber. Niemand traute sich mehr zu atmen. Es war van Goghs Neffe, Sohn von Theo, dem Empfänger von Vincent van Goghs berühmten Briefen, ein scheuer Mensch aus Holland mit dem auf so vielen Bildern verewigten Gesicht. Grete Ring erzählte: »Auf dem Boden im van Goghschen Haus lag der ganze Nachlaß. Es gab keine Listen. Wenn einer kam und wollte die vielen Bilder sehen, ließen ihn die Van Goghs einfach auf den Boden und kramen.« Diese Menschen kannten kein Mißtrauen. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß einer ihnen was stehlen würde. 1930 gab es noch etwas so Weltfremdes, Integeres.

      Grete Ring war die Nichte des Malers Max Liebermann, dessen Tochter mit Kurt Riezler verheiratet war, Bethmann Hollwegs Gehilfen, aber auch Eberts. Aus seinen fünfzig Jahre zu spät erschienenen Tagebüchern geht hervor, daß Deutschlands Führer den ersten Weltkrieg nicht planmäßig herbeigeführt, aber bewußt riskiert hatten.

      Als Cassirer 1926 Selbstmord beging, war das Berliner Tageblatt die einzige Zeitung Berlins, die diese Nachricht nicht hatte. Einer der Lokalredakteure sagte verbittert: »Ich habe ja kein Gehalt, daß ich mir einen Smoking leisten kann, um in solchen Kreisen zu verkehren.« An diesem Satz war nun alles falsch. Cassirer war zwanzig Jahre mit Tilla Durieux verheiratet, nicht nur eine der größten Schauspielerinnen, sondern auch eine hochintelligente Frau, bei der sich Kautsky und Hilferding mit Rathenau trafen, die von Corinth und Renoir, Gulbransson und Barlach abkonterfeit wurde, wo alle Theaterdirektoren und Gerhart Hauptmann und Georg Kaiser verkehrten. Richard Strauss hatte für sie die Josephs Legende geschrieben. Ich fand es bemitleidenswürdig, daß dieser Berliner Arbeiterjunge, der schließlich von seiner Feder lebte, das geistige Leben so falsch sah. Aber man konnte sich auch keinen größeren Gegensatz als die aus dem gleichen Milieu, weltzerstörend Klasse genannt, herkommenden Kiaulehn und diesen Lokalredakteur denken.

      Der Kunstsalon Cassirer emigrierte nach London, eröffnete einen neuen »Cassirer« an einer der märchenhaftesten Ecken von London, an der Ostseite des Green Parks, wo noch 18.-Jahrhundert-Häuser standen. Ganz weniges von Cézanne war auf die Wände verteilt. Drei Striche für einen Baum von Cézanne, der nichts weggeworfen hat. Wir gingen verstimmt die Treppe hinab. »Ein Ende«, sagte Heinz und zündete sich eine Zigarette an. »Bißchen viel Enden, die wir miterleben«, sagte ich.

      Im Gegensatz zu Ullstein gabs bei Mosse keine Kantine. Kiaulehn organisierte zwei Treffpunkte. Erst das bescheidene Café Adler, dann einen Mittagstisch bei ›Capri‹ in der Anhaltstraße. Wir hatten einen großen runden Tisch am Fenster, nahmen italienische Kost zu uns, ein Viertel Chianti und hinterher Grappa. Dieses Gläschen mit der hellen schweren Flüssigkeit, bei der wir die Weltereignisse besprachen, war unser Symbol der Kameradschaft. Wir kamen aus allen politischen Lagern. Wir hatten alle nur einen Fachehrgeiz, wir wollten die Wahrheit sagen über irgendeine Ecke des Lebens, des Staates. Wir waren ein Stammtisch von Don Quixotes auf der Grundlage des festen guten Einkommens, das die großen Zeitungen zahlten.

      An diesem Mittagstisch erfanden Olden und Kiaulehn Das Wunderbare. Propheten in deutscher Krise, besprachen es mit Ernst Rowohlt, der es entzückt verlegte. Es war das erste Buch dieses Stammtisches. Das zweite war mein Käsebier. Das Wunderbare war die Besessenheit des deutschen Volkes mit Hitler. Mein Roman, der Spaß über ein erfundenes Nichts, wurde viel erfolgreicher als die glänzende Darstellung echten Schwindels echter Schwindler. Olden versuchte es mit dem Wunderbaren im Leben der meisten Menschen, der plötzlich auftretenden Liebe, zu erklären. Aber wichtiger als Oldens hilflose Erklärungsversuche waren Tatsachen. Überall in Deutschland erhob sich uralter Aberglaube. Im Jahresbericht der evangelisch-lutherischen Landeskirche in Hamburg (1932) heißt es: »Scheinbar ist Hexenglaube im Zunehmen begriffen. Bei Erkrankungen von Mensch und Vieh wird oft ein Hexenmeister aus dem Alten Land geholt oder eine Frau zum Besprechen … In der Nähe von Hamburg hat die ländliche Bevölkerung eine Frau gemeinsam umgebracht, weil sie eine Hexe war.«

      Alchemisten, Teufelsbeschwörer, Sterndeuter, Medizinmänner, die ganze mühselig gebändigte mittelalterliche Armee der Dummheit und Grausamkeit hielt Manöver ab bei elektrischem Licht, Staubsaugern und Zentralheizung. Man fühlte, es würde nicht mehr lange dauern, bis sie Scheiterhaufen errichten würden für Juden und Bücher, alles vernichten, was aufgebaut war mit so viel Blut, von Wyclif bis Lincoln, von Spinoza bis Montesquieu, gerechtes Gericht und die Sicherheit des Menschen in seinem Heim. Von der Freiheit, den Mund aufzumachen, wann man will, und Gedanken drucken zu lassen, die nicht die genehmigten waren, konnte man erst gar nicht reden. Es war eine religiöse Sehnsucht, die in die Irre ging. Eine Gutsbesitzerin in Ostpreußen schlug in einer Nazizeitung vor: »Wir alle sollten in unseren Wohnungen eine Führerecke einrichten. Das ist ganz einfach. Wir stellen ein Bild unseres geliebten Führers auf den Tisch, umgeben es mit Blumen und stellen zwei Kerzen davor.« Jahre vorher hatte man in Rußland, völlig in der alten Art, Altäre für Stalin errichtet mit Blumen und Kerzen.

      »Du sollst dir kein Bildnis machen und keinerlei Gestalt, du sollst dergleichen nicht anbeten und dich nicht vor ihnen verneigen.« Um dieses Gesetzes willen war Jerusalem zerstört worden. Denn die Juden wollten sich nicht vor dem Bild des Cäsars neigen und die Christen starben zu Tausenden um des gleichen Gesetzes willen. Dieses Gesetz hatte die Antike zerstört. Es war ein wichtiges Gesetz. Diesmal hieß das Bild des Cäsars Führerecke. Wenige Jahre später beteten die Kinder zu Hitler: »Händchen falten, Köpfchen senken und an Adolf Hitler denken.«

      Kiaulehn, der rationale Berliner, schilderte die wunderbaren Heilungen durch die Hartwig Quelle, die nichts anderes war als Berliner Leitungswasser auf Flaschen gefüllt, Olden die von Weißenberg mit weißem Käse, Rafael Hualla, ein Wiener Journalist, die Heilung, die Zeileis in Gallspach mit Hochfrequenzstromschlägen besonders auf das nackte Gesäß erreichte. Alle drei heilten nicht wenige, sondern Zehntausende. Zeileis machte Gallspach mitten in der Krise zu einer blühenden Stadt. Olden, der dem Wunderglauben an Hitler beikommen wollte, wußte nicht, daß Hualla selber sein Hakenkreuz unterm Revers trug. Werner Richter, Korrespondent des Berliner Tageblatts in München, berichtete, daß sich Ludendorff und Angehörige fürstlicher Häuser einen Goldmacher hielten, der noch dazu Tausend hieß. A.H. Zeiz von der Lokalredaktion schrieb über Spiritisten und andere Okkulte. Er, der mit der jüdischen Bobby Segal verheiratet war, hatte plötzlich unter den Nazis unter dem englischen Namen Frazer großen Erfolg mit seinen Stücken. Für mich ist die besonders nette Bobby unvergeßlich mit dem Winter 1916/17 verknüpft. Im Vorplatz ihrer Mutter hing etwas Leuchtendes. Es war ein Samtmantel von einem hellen Grün. Es gab nichts mehr, weder solche Mäntel noch solche Farben, noch Gelegenheiten, wo man solche Mäntel hätte tragen können. Wir waren drei junge Mädchen, wir sahen auf diesen Mantel wie auf das Symbol unserer ungelebten Jugend. Keine von uns hat diesen Mantel vergessen. 1948 auf meiner Reise von Berlin nach Hamburg traf ich Zeiz und fragte unüberlegterweise nach Bobby: »Fragen Sie bitte nicht«, sagte er. Ich hörte später, vergast.

      Oldens geschiedene Frau schrieb, leider mit etwas billiger Ironie, über Christian Science. Ein weiterer Redakteur des Berliner Tageblatts, ein Inder, Ayi Tendulkar, schrieb im Wunderbaren über Krishnamurti. Tendulkar war mit der sehr blonden Tochter des Universitätsprofessors der Kunstgeschichte Schubring verheiratet. Er schrieb böser über Krishnamurti als irgendeiner der anderen über irgendeinen der anderen: »Es heißt, in ihm seien Buddha und Christus wiederverkörpert. Christus und Buddha, nicht mehr, aber auch nicht weniger … Vor allem ist genug Geld da. Das ist eine bedeutungsvolle Tatsache aus dem Komplex des Wunderbaren, es ist immer Geld da.«

      Dasselbe stellte Rudolf Kalmar über den Entdecker der Raumkraft, Schappeller, fest, den das Kaiserpaar in Doorn großzügig unterstützte. Tendulkar schrieb bitter: »Krishnamurti, dieser einfache und bedürfnislose Mensch, der seine Schuhe selber putzt, ist im Hotel Kaiserhof abgestiegen.« Der Kaiserhof war ein Luxushotel, Hitlers Hauptquartier. Tendulkar, den ich auch für einen ungewöhnlich schönen Mann hielt, hatte den Humor, im Berliner Tageblatt zu schreiben: »Wir wollen nicht mehr romantisch bewundert werden, weil wir geheimnisvolle schwarze Augen und eine schöne braune Haut haben. Dreihundertsechzig Millionen haben solche schwarzen Augen und solche braune Haut.«

      Als er sich im ›Capri‹ Schweinefleisch bestellte, sagte ich: »Was, Sie essen Schweinefleisch, ein Hindu?«

      »Und