Die Angeklagten, Goebbels, Hitler und noch einige Nazis sahen aus, daß man sich keine Rasse vorstellen konnte, die sie zu den Ihren zählen möchte.
Der ruhige Richter begann das Verhör: »Wie heißen Sie?«
»Adolf Hitler.«
»Wo sind Sie geboren?«
»Braunau am Inn.«
»Was haben Sie zur Sache zu sagen?«
In diesem Moment begann Hitler zu schreien, er hielt eine Rede an eine Riesenversammlung, die nicht da war, er rief ein Volk auf, das nicht vorhanden war. Er keuchte, warf den Kopf zurück und redete ohne Unterlaß. Es wurde nicht klar, spielte Hitler den Hysteriker oder war er es, jedenfalls hätte sich niemand gewundert, wenn er hingefallen wäre oder Schreikrämpfe bekommen hätte.
Der Richter war sehr erstaunt über diesen völlig fassungslosen Menschen und fragte: »Warum regen Sie sich denn so auf, Herr Hitler?«
Hitler betonte immer wieder, daß er als ein so besonders anständiger Mensch seine Mitangeklagten nicht verraten werde. Er sagte ganz hemmungslos: »Ich als ein so besonders anständiger Mensch.«
Im Zuhörerraum hatten etwa zehn Leute die erste Bank besetzt, junge Berliner Arbeiter, die sich besonders ordentlich angezogen hatten. Für diese Verbrecher hatten sie sich die Haare mit Wasser gebürstet. Als Hitler mit Gefolge den Raum verließ, erhoben sie sich im gleichen Moment, rissen den Arm hoch und riefen: »Heil Hitler.«
Ich habe vierzig Jahre lang über diesen Prozeß nachgedacht, gedacht, was ich schon während des Prozesses dachte. Hitler und Goebbels saßen mir drei bis vier Meter gegenüber. Wenn ich einen Revolver besessen hätte und ich hätte sie erschossen, hätte ich fünfzig Millionen vor einem frühzeitigen Tod gerettet und ich wäre Judith II. geworden. Aber wer hätte das gewußt? Die Juden in Deutschland hätten es zu büßen gehabt, daß ich ein ungeteiltes Deutschland erhalten hätte, weil ich Deutschlands Retter ermordet, Retter wovor? Vor dem polnischen Korridor.
Goebbels, der alle Fäden in der Hand hielt, beschuldigte bald einen hohen Beamten, bald einen Minister vom Landesverrat bis zum gemeinen Diebstahl, setzte einfach ein »Isaak« oder »Isidor« vor den Namen, gab allen Verbrechern jüdische Namen. Beleidigungsklagen wurden erhoben, aber Goebbels erscheint nicht vor Gericht. Und keine Regierung wagte oder wollte bereits 1929 Goebbels, das heißt einen nationalen Mann, verhaften. Der Oberstaatsanwalt Werner war ein Mitglied der NSDAP. Nun endlich kam Goebbels zum erstenmal, der Teufel der Volkssagen, ein Zwerg mit zu großem Kopf, Klumpfuß, schwarzen Haaren.
Schwärmerische Mädchen flatterten um ihn. Sie tragen stilisierte Dirndlkleider mit kunstgewerblichem Schmuck, haben blonde Zöpfe um den Kopf, sind besonders hübsch. Deprimierend, wie sie sich dem Wunschbild der Nazis angeglichen haben. Das sind keine vier verschiedenen Geschöpfe, sondern »Das Weib«, unterscheidbar nur durch die Farben ihrer Gewänder. Sie streiten sich, wer seine Mappe halten darf.
Goebbels hat eine besondere Taktik. Er antwortet nicht. Der Richter fragt: »Wie heißen Sie?« Und Goebbels antwortet nicht. Der Richter fragt: »Wo sind Sie geboren?« Und Goebbels antwortet nicht. Der Richter war hilflos. Herr Goebbels war stark – ein großer Teil der Richter stand hinter ihm. Denn Goebbels ist national. Der Richter konnte nicht wagen, gegen einen nationalen Mann vorzugehen. Schon damals kamen sozialistische oder republikanische Richter nicht vorwärts. Der Richter, der kein Wort aus Goebbels herausbrachte, verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe. Das war ganz formal, denn die nächste Instanz würde das Urteil aufheben, oder wenn sie es nicht aufhob, so würde ihn doch niemand verhaften.
Vor dem Gerichtseingang stand ein Zeitungshändler, Hakenkreuz an der Armbinde, den Hut ringsum mit Hakenkreuzfähnchen besteckt, Hakenkreuzfahne im Knopfloch. Er trug braune Hosen militärisch in den Stulpenstiefeln, eine Ziviljacke. Die Überschrift der Zeitung war dick rot unterstrichen: »Rotmord tobt. Er schrie: ›Furchtbares Verbrechen des Juden Isidor Weiss!‹« Dr. Bernhard Weiss, der schon unter dem Kaiser ein Beamter war, war der makellose Schöpfer der sozialdemokratischen Polizei. Aber die Bevölkerung sagte: »Geht ja auch nicht, ein Jude Polizeipräsident.«
Die Gerichte schritten nicht ein. Für den, der sich wundern mag, sind hier zwei Prozesse: Theodor Knobel, der Führer des Jungsturms in Guhrau, machte einen Ausflug mit den Jungen. Sie gingen über Wiesen, durch Wälder. Knobel ließ die Jungen am Judenfriedhof haltmachen. »Spuckt alle dreimal aus!« befahl er. Er wurde wegen Religionsschändung angeklagt. Das Gericht in Glogau sprach ihn frei. Religionsschändung liege nicht vor, denn Knobel habe nicht die religiöse Gemeinschaft der Juden, sondern die jüdische Rasse treffen wollen.
Wandervögel zogen in die deutschen Wälder, sie hatten Lauten mit vielen bunten Bändern, entzückende Bänder, die die Mädchen für ihre Freunde bestickt hatten mit Vergißmeinicht und mit alten weisen Sprüchen. Und wenn sie durch die Dörfer zogen, dann sangen sie: »Ich hört ein Bächlein rauschen« und »Blut muß fließen, Judenblut«.
Die Gerichte lehnten es ab, dagegen einzuschreiten, denn es gab nur ein Vergehen wegen Aufreizung zum Klassenhaß, aber die Juden seien keine Klasse, sondern eine Rasse.
Die entstehenden Prozesse waren mittelalterlich, denn die Nazis und die Kommunisten hatten das Institut des Eideshelfers wieder eingeführt. Zeuge war der politische Gegner. Die Seite, die die meisten Meineide schwor, gewann. Damit hatten die Nazis angefangen.
Die Narretei war die Typisierung des Menschen, die Verwerfung der Renaissance, die den Menschen als Individuum entdeckt hatte, was jahrhundertelang Europa zu Europa gemacht hat. Der Kommunist war und blieb ein Untermensch. Der Nazi war und blieb ein edelblütiger Germane. Man wurde gefoltert für etwas, was man vor sechs Wochen und jetzt schon nicht mehr war. Menschen sind keine Eichen, die Eichen bleiben, oder Buchen, die Buchen bleiben. Scheringer, der im Prozeß gegen die Ulmer Offiziere wegen nationalsozialistischer Propaganda zu Gefängnis verurteilt worden war, wurde noch im Gefängnis Mitglied der Kommunistischen Partei. Er schrieb in Die Linkskurve: »Die Volksrevolution in Deutschland, die Zerreißung der Tributverträge und der revolutionäre Krieg gegen die wahrscheinliche Intervention der Kapitalistischen Westmächte …« Fünfzehn junge Offiziere folgten ihm. Der Bombenleger Klaus Heim, von dem Falladas Roman Bauern, Bonzen, Bomben handelt, trat ebenfalls in die KPD ein, genau wie Bruno von Salomon, der Bruder des am Rathenaumord beteiligten Ernst von Salomon.
Mit dieser Einschränkung: Wer waren die Nazis? Da war Pantel, ein Krümel im riesigen Brot Berlin, mit dem Wunschtraum aller farblosen Millionen, ein Held zu sein, das hieß 1930 ein wilder Nazi, gefürchtet von den Kommunisten, sie würden ihn überfallen, verwunden, nicht zu schwer natürlich, nur so, daß er einen Verband um Kopf und Arm haben könnte, er würde wie im Märchen sieben auf einen Streich erledigen, er würde eine Überschrift sein im Völkischen Beobachter »Parteigenosse Pantel – Opfer von Rotmord!« Die Zeitungshändler würden durch Berliner Straßen brüllen: »Pantel Opfer der Kommunisten!« Und die Mädchen würden sich um ihn reißen. Aber nichts geschah. So schrieb er einen Brief an die Rote Fahne:
»Werte Genossen, ich mache Euch hier auf einen besonders gefährlichen Mann, namens Pantel, aufmerksam … Er muß umgelegt werden. Nieder mit der Hitlersau!«
Aber er irrte sich in den Kommunisten. Die haben eine Weltanschauung, die individuelle Terrorakte verbietet. Schließlich lauerte er selber an einer Straßenecke, brach, als zwei Sozialdemokraten vorbeikamen, in den alten Straßenräuberruf aus: »Halt oder ich schieße«, und schoß wild um sich.
Noch einfacher war der Fall Kunze. »Ihr Beruf?« fragte der Richter.
»Ordonnanz des Standartenführers II der NSDAP.«
»Ich denke Sie sind Postbote?«
»Das auch«, sagte Kunze.
Er kam aus wohlhabendem Kaufmannshaus. »Aber ich hatte keine Lust zum Schacher.« Der Vater kaufte ihm ein Gut.