»Wieso Kommunisten?« fragte der Richter.
»Die Nazis in meiner Gegend kenne ich, und Zentrumsleute sitzen nicht auf Bänken.«
»Warum aber Kommunisten?«
»Ja, was denn sonst?«
Er kam von einem Uniformappell der Nazis um sechs Uhr eines Sommerabends durch die Hauptstraße in Schöneberg, sah Leute vor einem Lokal stehen. »Heil Hitler!« riefen die höhnisch.
»›Gott sei Dank, immer noch Heil Hitler, wenn ihr das wollt, kommt doch ran!‹ Und dann verfolgten sie mich, und in meiner Todesangst schoß ich hinter mich.« Er traf den sechzehnjährigen Lehrling Nathan zu Tode.
Das Gericht sprach 1931 den Mörder eines Juden frei. Keiner fragte, warum er denn nicht einen Passanten angesprochen oder in einen Bus gestiegen sei. Staatsanwalt Steinäcker, dessen Namen ich nie mehr nach dem Krieg gehört habe, einer der großen Zerstörer, war es, der dem Mörder des sechzehnjährigen Lehrlings im Gewühl der sommerlichen Hauptstraße in Schöneberg um sechs Uhr nachmittags Notwehr erlaubte. Er war es, der den Sklarek-Prozeß zur Sensation, die Sklareks zu Verderbern des deutschen Volkes hochspielte, die ins Zuchthaus gehörten, der ein Verbrechen wie das des Pastors Cremer, der Gelder für die Innere Mission unterschlug, fast freundlich ansah. Er hat auch einmal gesagt: »Nicht im Namen des Volkes, sondern im Namen Hitlers wird Recht gesprochen werden als Prinzip. Man kann nicht gleichsetzen die idealen vaterländischen Forderungen der NSDAP-Bewegung mit der grob-materialistischen eigensüchtigen nur einer Volksklasse dienenden Ambition der KPD!«
Im selben August 1932 stieg ich mit meinem vierjährigen Sohn am Bahnhof Tiergarten in ein Coupé der Stadtbahn. Steinäcker saß darin, ein gepeinigtes, haßerfülltes, tief unglückliches Gesicht. Er versuchte sofort auszusteigen. Aber der Zug fuhr schon. Er stellte sich also mit dem Rücken zum Coupé an die Tür. Am nächsten Bahnhof Zoo stieg er aus, rannte ein paar Coupés entlang, sah hinein. Im Konflikt zwischen Selbstmord und wieder mit Juden im Coupé zu sitzen, sprang er, als der Stationsvorsteher »Zurückbleiben!« schrie, in eine noch offene Tür.
»Was war denn mit dem los?« fragte mein Sohn.
»Varickt jeworn«, sagte ich in Heinzens Tonfall.
»Der Liebende, nicht der Geliebte ist der Gesegnete. Das Gefäß schüttet sich in Fülle aus, aber der Becher setzt seiner Fülle die Grenze.« Der Hassende, nicht der Gehaßte, ist der Verdammte.
Diese Verrücktheit kam mir ein Jahr später (1933) noch näher. Karlsbad war ein Traum und ganz leer. Hitler erlaubte nur noch ausgewählten Parteimitgliedern, die böhmischen Bäder zu besuchen. Mit einem Federstrich ruinierte er Zimmermädchen, Badefrauen, Kellner, Hoteliers, obwohl sie Deutsche waren, ein kleiner Rest seines eigenen österreichischen Volks, Sudetendeutsche und obwohl meistens Winterantisemiten, judenfreundlich nur in der Saison.
Ringsum blühten Dahlien, höhere, buntere, aufrechtere Dahlien. Auf der Leinendecke stand ein silbernes Kännchen mit dem besten Kaffee der Welt und Tassen und Teller aus dem zartesten Porzellan. Hörnchen waren veredelt aus dem Weizen, der in den meisten Ländern zur Sättigung genügt, nicht zum Genuß. In der Butter war der Duft des Heus, des Wiesenschaumkrauts und der Pechnelken. Eine sanfte Herbstsonne leuchtete.
Ein kleiner Herr mit Pincenez und Gamsbart auf dem Hut setzte sich an den Nebentisch. Kaum saß er, rief er zu seiner Frau: »Siehste da das Firmenschild Cohen? Und da Pinchas, und da Braun? Braun könnten auch Juden sein, meinst du nicht? Überall Juden! Dem muß ein Ende gemacht werden! Unser Führer ist auf dem besten Wege dazu.« Er blätterte in einer Illustrierten: »Hier sind Photos vom Hochgebirge, den erhabenen Alpen. Aber auf den Hütten können Sie Leute finden«, sagte er zu mir hinüber, »die haben keine Ahnung von der erhabenen Schönheit. Sie wissen, wen ich meine? Juden!« Dann fiel sein Blick auf den Namen des Cafés: »Luise!« schrie er voll Angst und Schrecken. »Komm.« Und sie gingen.
»Seinen Kaffee hat er auch nicht bezahlt«, sagte der Kellner.
Wenn der Sturmtrupp 33 einen Abendspaziergang in Berlin machte, lagen hinterher Leute mit eingeschlagenem Schädel auf der Straße. Endlich wurden zwei Sturmmänner angeklagt. Eine junge Baronin hatte den ganzen Vorgang vom Fenster ihrer Apotheke beobachtet. Zwei Arbeiter gingen die Straße entlang und wurden von den SA-Leuten überfallen, schwer verwundet, wobei auch ein Nazi schwer verwundet wurde. Auch der Pfarrer vom Lützow[platz] in Charlottenburg hatte alles beobachtet, ein Mann Gottes, der feierlich seinen Eid ablegte. Er wußte, daß aus dem Wirtshaus geschossen worden war: »Ich sah ganz deutlich den Pulverdampf. Die beiden Angeklagten sind nationale Männer.«
»Fräulein von X sah ganz etwas anderes«, sagte der Richter.
»Natürlich«, sagte ein Nazi, »die Baronin ist ja Kommunistin.«
»Ich habe nie auch nur eine kommunistische Zeitung in der Hand gehabt. Ich bin deutschnational. Ich kann doch nur sagen, was ich sah.«
Und nun kommen ein paar dicke Bürger, der Wirt, der Oberpostschaffner, der Bäcker. Sie hatten im Wirtshaus Skat gespielt. Sie hatten Zigarren geraucht. An den anderen Tischen saßen auch Leute, die Zigarren rauchten. Als sie schießen hörten, öffneten sie die Tür … und dabei kam eine Wolke von Zigarrenrauch nach draußen, der beschworene Pulverdampf des Pfarrers vom Lützow.
Der verwundete Nazi verschwand. Wohin? Er wurde in ein Krankenhaus gebracht. Der Portier des Krankenhauses, der ihn gesehen hatte, machte keine Eintragung. Der Arzt, der ihn gesehen hatte, war nicht herauszufinden, die Krankenschwestern, die ihn gepflegt hatten, waren nicht herauszufinden. Die Polizei fand blutige Sachen des Mannes in einer Kiste im Krankenhaus.
Wer hatte sie dahin gebracht? Alle, Ärzte, Krankenschwestern, hatten sich strafbar gemacht. Aber welcher Arzt, und welche Krankenschwestern? Und dann war der Mann verschwunden.
In München war die Zentralstelle, die Leute weiter beförderte. Hier bekamen sie vom Polizeibeamten Frick, der später in Nürnberg verurteilt wurde, falsche Pässe. Von München fuhren sie nach Innsbruck. In Innsbruck wurden sie wiederum mit Geld und Ratschlägen versehen. Viele fuhren nach Italien. Viele verschwanden auch in Österreich. So organisiert war der Fluchtweg schon 1931.
Bild 7: Auszug aus dem Nachruf von Gabriele Tergit auf Varian Fry, 1967
Die Juden hatten nie einen Fluchtweg vorbereitet, weder aus Deutschland, Österreich oder der Tschechoslowakei. Die Rettungsaktion aus Südfrankreich organisierte der Amerikaner Varian Fry mit Hilfe von Eleanor Roosevelt. Die gemeinsame Flucht einiger Manns, Varian Frys und Alma Mahlers von Marseille über die Pyrenäen nach Spanien und in den Hafen von Lissabon zu den Schiffen nach Amerika ist von den Teilnehmern so verschieden beschrieben worden, daß es einen mißtrauisch gegen jede Geschichtsbeschreibung machen könnte. Franklin Roosevelt hat sich an keiner Rettung beteiligt. Er hätte nur die nicht verbrauchten Einwanderungsquoten für Deutsche von 1933, 34, 35, 36, 37 freizustellen brauchen, um alle deutschen Juden nach dem Novemberpogrom 1938 zu retten. Das tat er nicht. Vielleicht hätte er damit sogar den Krieg verhindert, da Hitler erkannt hätte, wo Amerika stand. Diese Flucht Marseille-Lissabon führt an Weltgeschichtliches. Franco, gewiß keine angenehme Figur, ließ die Flüchtlinge ohne weiteres durch Spanien. Es heißt, Franco sei ein Marrane gewesen, das heißt Abkömmling der zwangsgetauften spanischen Juden von 1490, die an ihrer Religion festhielten. Wenn es also stimmt, daß er aus diesem Grund nach fünfhundert Jahren die Flüchtlinge paß- und visumlos durchließ, so kann man auf den großen Madariaga verweisen, der Kolumbus ebenfalls für einen Marranen hält, der Amerika auf der Suche nach einem Rettungshafen für die verfolgten spanischen Juden entdeckt hat. Madariaga hat hebräische Daten auf Briefen von Kolumbus gefunden. Und ich möchte in diesem Zusammenhang vom PEN-Kongreß in London 1940 erzählen. Wells am Vorstandstisch, Madariaga stand unten.