Noch immer ranken sich viele Vorstellungen und Erwartungen um die ideale Mutter, nicht zuletzt auch, weil heutzutage ein Kind zum Superprojekt hochstilisiert wird, das man mit großer Umsicht plant und organisiert.
Druck von allen Seiten
Doch die Realität holt die junge Mutter rasch ein – auch wenn sie noch so gut plant und organisiert. Natürlich erlebt man unendlich viele innige Momente mit seinem Kind, doch jeder Tag ist auch eine Herausforderung. Denn das Familienleben ist deutlich anspruchsvoller als ein Bürojob und manche Tage sind mit jeder Art von Pannen gepflastert. Täglich muss man erleben, dass die Kinder keine vorprogrammierten Roboter sind, die man per Fernbedienung von einer Aufgabe zur andern lotsen kann. Der Erziehungsalltag ist anstrengend: Hundertmal sagt man dasselbe und auch dann klappt es nicht immer.
Ich selbst stieg damals sehr optimistisch in den Job als Familienfrau um. Für eine erfahrene Lehrerin ist die Betreuung eines einzigen Kindes doch ein Kinderspiel, nahm ich an. Leider war aber um 15 Uhr die Arbeit nicht beendet und es gab auch keine freien Nachmittage und Wochenenden mehr. Im Gegenteil, abends stieg der Stresspegel von Stunde zu Stunde an. Sehr bald war mir klar, dass Mütter harte Knochenarbeit leisten.
Als Mutter hat man oft den Eindruck, von den vielen Erwartungen und Ansprüchen von außen regelrecht ausgepresst zu werden. Man bekommt Sätze zu hören wie diese:
„Und diesen Fraß soll ich essen?“
„Nie hast du Zeit für mich.“
„Was – meine Lieblingsjeans sind immer noch nicht gewaschen?“
„Alle anderen dürfen bis zwei Uhr morgens in die Stadt, nur ich nicht, das ist gemein!“
Sind Ihnen solche Sprüche nicht auch allzu gut bekannt? Alle wollen etwas von Ihnen – und wer interessiert sich für Ihr Ergehen?
Dazu gesellen sich die Forderungen der Tiefenpsychologie, die von den Müttern Unmögliches verlangt. Nur wenn Mütter ihre Kinder zärtlich lieben und eng an sich binden, sie aber gleichzeitig nach dem exakten psychologisch erforschten Zeitplan in die Unabhängigkeit entlassen, wachsen sie nach Meinung mancher Fachleute ohne seelische Schäden zu ausgeglichenen Menschen heran. Bei einem derart anspruchsvollen Jobprofil kann man nie alles recht machen!
Nicht immer sind es die Forderungen der anderen, die uns in Atem halten. Denn jeder Mensch nimmt die Erwartungen von außen durch den Filter seiner eigenen Lebenseinstellung auf. Dazu gehören Ansprüche wie:
• „Ich muss es allen recht machen.“
• „Ich darf keine Fehler machen.“
• „Ich muss immer verfügbar sein.“
Wer nach diesen oder ähnlichen Lebensmottos lebt, wird die Aufgaben der Mutterschaft unweigerlich als schwere Bürde erleben. Oft sperren wir uns mit überhöhten Forderungen an uns selbst eigenhändig in ein Gefängnis von Minderwertigkeit und Selbstvorwürfen ein.
Glücklicherweise sind wir jedoch diesen vielen Anforderungen nicht hilflos ausgeliefert. Wir können den Druck auf uns reduzieren, indem wir unsere Ideale kritisch hinterfragen und unrealistische Erwartungen über Bord werfen.
Fünf überhöhte Ideale
Viele Vorstellungen von Schwangerschaft und Mutterschaft werden von Generation zu Generation überliefert und haben manchmal beinahe magischen Charakter. Und nicht selten erwartet man unterschwellig, dass man durch die Tatsache der Mutterschaft von einer normalen, durchschnittlichen Frau über Nacht zu einem beinahe überirdischen Wesen wird, welches seine eigenen Emotionen zu jeder Zeit kontrollieren kann und alle seine eigenen Träume und Wünsche den Erwartungen des Kindes unterordnet. Mit dem Wachstum des Bauches, den Veränderungen im Hormonhaushalt, dem Erlebnis der Geburt und dem Stillen des Säuglings sollen sich ganz neue Fähigkeiten und Charakterzüge entfalten. Die unternehmungslustige, lebensfrohe und lebhafte Frau soll sich über Nacht in das Idealbild der ruhigen, hingebungsvollen und allwissenden Mutter verwandeln. Gleichzeitig soll die Mutter weiterhin eine attraktive und interessante Partnerin sein, die Karriere macht und ihre eigenen Wünsche erfüllt. Was für ein hohes Ziel!
Ideal Nr. 1:
Gute Mütter befriedigen die Bedürfnisse ihrer Kinder
In der Tat kennt eine Mutter ihr Kind am besten. Sie hat es rund um die Uhr versorgt, ist zu allen Nachtstunden aufgestanden und hat freudig die kleinsten Entwicklungsschritte begrüßt. Sie kennt seine Gelüste und Abneigungen, seine Essgewohnheiten und Krankheiten. Eine Mutter hat tatsächlich oftmals einen sechsten Sinn. Ein Blick in die vordergründig unschuldigen Augen ihres Kindes genügt ihr, und sie weiß, wer die Scheibe im Nachbarhaus zerschlagen oder wer die Schokoladenkekse stibitzt hat. Und schon am Zuknallen der Tür erkennt sie den Seelenzustand der heimkehrenden Tochter.
Doch erahnen gute Mütter tatsächlich immer intuitiv, was ihr Kind braucht, so wie es ein Psychoanalytiker während eines Kongresses forderte?
„Ein kleines Kind verfügt nicht über die Worte, mit denen es sich mitteilen könnte. Es kann nur dadurch kommunizieren, dass es eine bestimmte emotionale Reaktion herbeiführt. Wenn dieser Affekt von der Mutter aufgegriffen und verstanden wird, kann sie das, was das Kind ihrer Meinung nach erlebt, in Worte fassen … Ist die Mutter eine Frau, die ihren emotionalen Hunger, ihre Ambivalenz, ihren Hass oder irgendeinen anderen Aspekt ihrer selbst nicht akzeptiert, wird sie nicht einfühlsam auf die Botschaften des Kindes reagieren, und das Kind wird sich missverstanden und alleingelassen fühlen.“5
Kinder brauchen also nach Meinung dieser Fachleute das absolute Verständnis durch ihre Mutter, welche mit sich und der Welt vollkommen im Reinen ist. Wer ist das schon? Wer hat nicht manchmal dunkle Stunden, in denen man das schreiende Baby am liebsten abgeben würde? Doch wenn eine Mutter nicht dauernd ein positives Gefühl zum Kind aufrechterhalten kann, muss sie laut diesem Psychologen fürchten, dass ihr Kind Schaden nehmen könnte. Sie sollte in der kindlichen Seele lesen wie in einem offenen Buch und wissen, was es nötig hat – denn gute Mütter kennen ihre Kinder durch und durch.
Ideal Nr. 2:
Gute Mütter leben nur für ihre Kinder
Kinder brauchen ihre Mutter, daran zweifelt wohl niemand. 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr benötigen sie Fürsorge und Aufmerksamkeit, besonders, wenn sie klein sind. Doch sind Mütter das Schicksal ihrer Kinder, wie das die Lehren der Tiefenpsychologie behaupten?
„Wir fangen eben erst an zu verstehen, wie absolut nötig die Mutterliebe für das Neugeborene ist. Die körperliche Gesundheit des Erwachsenen wird in der Kindheit begründet, aber die seelische Gesundheit des Menschen bewirkt die Mutter in den ersten Wochen und Monaten des Lebens … Das Vergnügen, das man bei dem unsauberen Geschäft der Säuglingspflege empfinden kann, ist auch für das Kind von lebenswichtiger Bedeutung.“6
So etwas konnte wohl nur ein Mann schreiben, der noch nie ein Baby gewickelt hat! Welche Mutter (oder welcher Vater) hat in den ersten anstrengenden Wochen nach der Geburt immer voller Freude diese „unsauberen Geschäfte“ erledigt? Hat ihr Kind nun deshalb Schaden gelitten?
David Winnicott, ein angesehener Psychologe, schrieb die oben zitierten Worte in einer wissenschaftlichen Abhandlung in den 1970er Jahren. Sie stehen stellvertretend für das Dilemma, das die damals neuen Lehren der Tiefenpsychologie auslösten und das bis heute seine Wirkung entfaltet: Die Mutterliebe wird als prägende Erfahrung für ein Kind beschrieben – das ist gut so. Doch diese richtige Feststellung kann übersteigert werden und Mütter auch heute noch stark verunsichern. Anscheinend wird Mama zur Gefahr für das Kind, falls sie sich ihm zu wenig zuwendet oder auch mal negative Gefühle ihm gegenüber entwickelt. Diese unterschwellige Drohung treibt viele Mütter zu Höchstleistungen.