Der Deutsch-Französische Krieg: 1870/71. Jochen Oppermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jochen Oppermann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783843806657
Скачать книгу
Hungernden etwas Tabak oder Essen zu (Arand, S. 480 f). Sie hatten Mitleid! Paris kapitulierte nach 132 Tagen, Leningrad sollte knapp zweieinhalb Jahre aushalten und nie kapitulieren. Aber beide Städte warten noch mit einem anderen Vergleich auf. Kommt einem beim Gedanken an die blutigste Revolution gemeinhin die russische Oktoberrevolution 1917 in den Sinn, die in St. Petersburg, dem späteren Leningrad, ausbrach, so wird man mit dem Blick auf Paris im Frühjahr 1871 auch dahingehend eines Besseren belehrt. Schätzungen gehen davon aus, dass zur Zeit der Pariser Kommune im Mai innerhalb einer Woche zwischen 20 000 (Koechlin, S. 35) und 35 000 Menschen (Arand, S. 601) getötet wurden. Der Bürgerkrieg zwischen den Sozialisten (Kommunarden) und den konservativ-bürgerlichen Kräften war ein kurzer, lokal begrenzter, dafür umso entfesselter, der zwischen Soldaten, Frauen und Kindern keine Unterschiede machte.

      Das sind einige wenige Zahlen. Nichts weiter. Doch hinter diesen stecken menschliche Schicksale, Existenzen, die für den Rest des Lebens eine tiefe Prägung erfuhren. So war der Bürgermeister des Montmartre-Bezirks während der Belagerung von Paris und den blutigen Unruhen niemand anderes als Georges Clemenceau (1841–1929). Dieser sollte als unerbittlicher Gegner der Deutschen bei den Versailler Verhandlungen 1919 auftreten. Die größtmögliche Schwächung Deutschlands war sein Ziel und nur durch den mäßigenden Einfluss der Engländer und Amerikaner fiel der Versailler Vertrag für die Deutschen nicht noch härter aus (Winkler, S. 402). Toujours y penser, jamais en parler, ›Immer daran denken, niemals davon sprechen‹, bestimmte als Leitfaden die französische Revanchepolitik vor dem Ersten Weltkrieg und hielt damit die Erinnerung an das Trauma des verlorenen Krieges aufrecht, während die Deutschen dem unheilvollen Gedanken anhingen, dass sie die besten Soldaten der Welt hätten und deshalb den Kampf bestehen könnten, auch »gegen eine Welt von Feinden« (Wilhelm II. am 6. August 1914, zitiert nach: Krockow, Wilhelm II., S. 234). Für das Vaterland zu sterben wurde dadurch im Deutschen Kaiserreich besonders süß und ehrenvoll, weil man definitiv zu den Gewinnern zählte. Diese Erzählung fand vor allem bei den Nachkommen der Kämpfer von 1870/71 Gehör. Vom Krieg Gezeichnete und Traumatisierte schwiegen oder wurden nicht beachtet. Dass es gerade nach den blutigen Schlachten im August viele Soldaten gab, die – so würde man heute sagen – an posttraumatischen Belastungsstörungen litten, wurde im Jubel über die Siege verdrängt. Stolze Sieger durften nicht leiden.

      Auch der spätere Reichspräsident von Hindenburg erfuhr in den Schlachten 1870 seine Prägung fürs Leben. So schilderte er nach der Schlacht bei Sedan: »Die Vernichtungsbilder, die ich bei diesem Vorgehen an dem Nordostrand des Bois de la Garenne sah, übertrafen alle Schrecken, die mir je auf Schlachtfeldern entgegengetreten sind« (Aus meinem Leben, S. 36). Und diese Zeilen schrieb er nach dem Ersten Weltkrieg, der an maschineller Tötung alles bis dahin Gewesene in den Schatten stellte. Ins kollektive Gedächtnis der Franzosen und Deutschen im 20. Jahrhundert sind die Schreckensbilder von Verdun und Stalingrad eingegangen. In der Generation Hindenburgs war dies hingegen für die, die dabei waren, Sedan und Saint-Privat. Für Hindenburg war es immer wichtig gewesen, sich mit den Veteranen von 1870/71 zu treffen.

      In den Jahren 1871 bis 1914 bestand die historische Chance, aus dem Deutsch-Französischen Krieg die richtigen Schlüsse zu ziehen. Mit diesen wäre es vielleicht zu keinem dem Ersten Weltkrieg vergleichbaren Ereignis gekommen. Doch die Generation Hindenburgs hatte dies versäumt. Man betonte lieber das Ergebnis des Krieges, statt sich dessen Verlauf und dem Leiden der Menschen zuzuwenden. Dies war höchst unpopulär in jener Zeit. Heute haben wir einen anderen Blick auf Kriege. Mit diesem lohnt es sich, auf die Ereignisse von 1870/71 zurückzublicken.

      Meisenheim, 2019/20

      I. RINGEN UM DIE DEUTSCHE NATION

      »Die Worte ›Vaterland, Deutschland, Glauben der Väter usw.‹ elektrisieren die unklaren Volksmassen noch immer weit sicherer als die Worte:

      ›Menschheit, Weltbürgertum, Vernunft der Söhne, Wahrheit …!«

      Heinrich Heine

      Im Jahr 1814 brach die Herrschaft desjenigen zusammen, der maßgeblich dafür verantwortlich gewesen war, dass das Heilige Römische Reich deutscher Nation nach fast 900 Jahren sein Ende gefunden hatte. Napoleon Bonaparte (1769–1821) war 1806 auf dem Höhepunkt seiner Macht und hatte mithilfe des neu entstandenen Rheinbundes die Herrschaft über die meisten Länder übernommen, die einst das Reich der Deutschen bildeten. Doch Napoleon wurde niedergerungen, auch von deutschen Patrioten, die sich ihrer Nationalität immer bewusster wurden. Nicht umsonst entstanden in diesen Befreiungskriegen die Farben Schwarz-Rot-Gold als Ausdruck eines deutschen Nationalgefühls (vgl. u. a. Langewiesche, 2019, S. 64). Daran war Frankreich sowohl als Vorbild als auch als Gegner mitschuldig. Fast schon obsessiv sollte der Blick der Deutschen in der Folgezeit immer wieder über den Rhein gleiten.

      Derweil hatte Preußen im Nordosten seine ganz eigenen Lehren aus dem militärischen Zusammenbruch gegen Napoleon gezogen. Die Reformen, die auf vielen Ebenen eingeleitet wurden, legten den Grundstein für den Aufstieg Preußens zur Führungsmacht innerhalb der deutschen Staaten. Gerade die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und die Öffnung des Offizierskorps für alle Schichten wirkten wie ein Brandbeschleuniger auf die Hoffnungen der jungen Menschen (Dierk, S. 470 ff.). Diese hatten im nationalen Kampf den Beginn größerer persönlicher Freiheiten gesehen. Waren dies nicht die revolutionären Gedanken aus Frankreich, die endlich in Deutschland, hier Preußen, Einzug hielten und für die es sich zu kämpfen lohnte? Vor allem, dass jeder »Anspruch auf Versorgung im Civildienst erhalten soll« (zitiert nach: Alter/Rumpf, S. 31), machte die Armee für die jungen Männer attraktiv. Dies hatte zum Anstieg der Freiwilligen in der preußischen Armee geführt, die im Anschluss, zusammen mit Österreich, England und Russland, Napoleon besiegen konnte.

      Beim Wiener Kongress, der von September 1814 bis Juni 1815 stattfand, wurden die Hoffnungen dieser Freiwilligen auf nationale Einheit und politische Mitwirkung bitter enttäuscht. Außenpolitisch war der Kongress indes ein Erfolg. Nach Jahrzehnten des Krieges und unzähliger Kriegstoter und Verstümmelter mutet es wie eine besondere Leistung der Kongressteilnehmer an, mit dem besiegten Frankreich einen Versöhnungsfrieden ausgehandelt zu haben. Schon zu Beginn wurde eine französische Delegation unter Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838) als gleichberechtigte Verhandlungspartner eingeladen (Langewiesche, 1993, S. 7). Selbst als Napoleon, aus seiner Verbannung zurückgekehrt, während des Kongresses nochmals für hundert Tage die Macht an sich reißen konnte, wurde von dieser Haltung nicht abgerückt. Besonders wichtig – im Hinblick auf die in diesem Buch dargestellte Entwicklung – ist das fehlende Gefühl von Demütigung in einem besiegten Frankreich trotz Entschädigungszahlungen und anderen, vor allem materiellen, Forderungen nach der Unterzeichnung der Wiener Schlussakte am 9. Juni 1815. Bereits 1818 nach Erfüllung aller Forderungen wurde Frankreich wieder als vollberechtigtes Mitglied in den Kreis der Großmächte aufgenommen (ebd., S. 11). Blieb noch die Frage nach dem, was aus den deutschen Staaten werden sollte. Diese fanden sich in einem mehr oder weniger lockeren Bund aus verschiedenen Einzelstaaten mit unterschiedlicher politischer Auffassung wieder. Manche zeigten sich recht liberal, manche eher weniger. Die ständig tagende Bundesversammlung und der Bundesrat waren die gemeinsamen Organe, die in Frankfurt am Main saßen. Den Vorsitz des Rates hatte Österreich, das im Kriegsfall ein Bundesheer einberufen konnte, das sich aus den verschiedenen Ländern zusammensetzte. Eine 1821/22 eingeführte Kriegsverfassung regelte Genaueres, musste allerdings niemals ihre Tauglichkeit unter Beweis stellen (Nipperdey, Bürgerwelt, S. 355). Generell kann bereits hier gesagt werden, dass die Jahre, die auf die Gründung des Deutschen Bundes folgten, eine für Zentraleuropa ungewöhnlich friedliche Zeit waren, die jedoch innenpolitisch mit Zensur und Unterdrückungsmaßnahmen einherging. Erst 1848/49 sollten in dieser Region wieder Schlachten geschlagen werden, die aber lokal sehr begrenzt blieben, wie die Italienischen Unabhängigkeitskriege oder der Schleswig-Holsteinische Krieg von 1848–51.

      Preußen verfolgte bereits früh Bestrebungen, die nord- und süddeutschen Staaten zu einer Zollunion zusammenzuschließen. Am 1. Januar 1834 wurde der »Deutsche Zollverein« gegründet, der die meisten deutschen Staaten außer Österreich umfasste. Mit der Gründung des Zollvereins war Preußen endgültig zur Führungsmacht zunächst in wirtschaftlicher Hinsicht aufgestiegen (Winkler, S. 85). Auch wenn sich der kleindeutsche Nationalstaat –