»Entschuldigung.« Er hob den Kopf, und eine riesige schwarze Frau lächelte auf ihn herunter. »Ich heiße Myrna. Mir gehört die Buchhandlung nebenan. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass morgen in Williamsburg ein großes Gemeindefrühstück und ein Curling-Wettkampf stattfindet. Wir gehen alle hin. Es sollen Spenden für das Regionalkrankenhaus gesammelt werden. Sie sind herzlich eingeladen.«
»Wirklich?« Er hoffte, dass seine Stimme gelassener klang, als er sich fühlte. Warum hatte er plötzlich Angst? Vor dieser Frau sicher nicht. Vielleicht hatte er ja Angst vor ihrer Freundlichkeit? Angst, dass sie ihn für einen anderen hielt. Jemanden, der interessant, talentiert und nett war.
»Das Frühstück findet im Vereinsheim der Royal Canadian Legion statt und beginnt um acht, der Curling-Wettkampf ist für zehn am Lac Brume angesetzt. Vielleicht haben Sie ja Zeit zu kommen.«
»Merci.«
»De rien. Joyeux Noël«, sagte sie in ihrem schönen, wenn auch nicht akzentfreien Französisch. Er bezahlte sein Mittagessen, ließ ein noch größeres Trinkgeld als sonst liegen, verließ das Lokal und stieg für die kurze Fahrt zum alten Hadley-Haus auf dem Hügel in sein Auto.
Er würde CC von der Veranstaltung erzählen. Es passte perfekt. Genau die Gelegenheit, auf die er gehofft hatte.
Wenn die Veranstaltung zu Ende war, hätte er auch den Auftrag, dessentwegen er hier war, abgeschlossen, und dann konnte er vielleicht mit diesen Leuten am selben Tisch sitzen.
8
»Hast du etwas gefunden?«
Chief Inspector Armand Gamache schenkte seiner Frau ein Glas Perrier ein und küsste sie auf den Scheitel, als er sich über sie beugte, um einen Blick auf das Dokument in ihrer Hand zu werfen. Es war der zweite Weihnachtsfeiertag, und sie befanden sich in seinem Büro in Montréal. Er trug, wie immer, wenn er im Büro war, einen grauen Flanellanzug, Hemd und Krawatte, und nur die elegante Kaschmirstrickjacke wies darauf hin, dass er eigentlich frei hatte. Er war zwar erst Anfang fünfzig, aber er schien aus einer anderen Zeit zu stammen, ein wahrer Gentleman. Er lächelte auf seine Frau hinunter, seine dunkelbraunen Augen betrachteten ihr leicht gelocktes ergrauendes Haar. Von dort, wo er stand, konnte er nur schwach den Duft von Joy von Jean Patou aufnehmen, dem Eau de Toilette, das er seiner Frau jedes Weihnachten schenkte. Dann ging er um sie herum und ließ sich ihr gegenüber auf dem Ledersessel nieder und rutschte in die Dellen, die er im Laufe der Jahre hineingesessen hatte. Sein Körper zeugte von den vielen Mahlzeiten, die er genossen hatte, und den ausgedehnten Spaziergängen, die er schon immer Sportarten wie Rugby vorgezogen hatte.
Seine Frau, Reine-Marie, saß in einem zweiten Ledersessel, eine riesige rot-weiß karierte Serviette auf dem Schoß, in der einen Hand ein Dossier, in der anderen ein Truthahn-Sandwich. Sie nahm einen Bissen, dann nahm sie ihre Lesebrille ab, die sie an einer Kette trug.
»Ich hatte gehofft, ich hätte etwas gefunden, aber dem ist nicht so. Ich dachte, der Ermittlungsbeamte hätte eine bestimmte Frage nicht gestellt, aber ich sehe hier, dass er das später nachgeholt hat.«
»Um was geht es?«
»Den Fall Labarré. Der Mann, der vor die Metro gestoßen wurde.«
»Ich erinnere mich.« Gamache schenkte sich ein Glas Wasser ein. Um sie herum waren fein säuberlich Akten auf dem Boden gestapelt. »Ich wusste gar nicht, dass der Fall nie abgeschlossen wurde. Du hast nichts gefunden?«
»Tut mir leid, Schatz. Ich bin nicht besonders gut dieses Jahr.«
»Manchmal gibt es einfach nichts zu entdecken.«
Die beiden nahmen neue Akten zur Hand und lasen in einvernehmlichem Schweigen weiter. Es war inzwischen eine Tradition bei ihnen. Am zweiten Weihnachtsfeiertag nahmen sie Truthahn-Sandwiches, Obst und Käse mit in Gamaches Büro in der Mordkommission und verbrachten den Tag mit der Lektüre von Mordfällen.
Sie sah zu ihrem Mann, der sich in eine Akte versenkt hatte, versuchte, aus den Blättern die Wahrheit herauszukitzeln, in den nüchternen Worten, in den Fakten und Zahlen eine menschliche Gestalt zu entdecken. Zwischen jedem Paar Pappdeckel lebte ein Mörder.
Es waren die ungelösten Mordfälle. Vor ein paar Jahren hatte Chief Inspector Gamache seinen gleichrangigen Kollegen bei der Montréal Metropolitan Police aufgesucht und ihm bei einem Glas Cognac im Club Saint-Denis einen Vorschlag unterbreitet.
»Ein Austausch, Armand?«, hatte Marc Brault gefragt. »Wie stellen Sie sich das vor?«
»Ich würde den zweiten Weihnachtsfeiertag vorschlagen. Da ist es bei der Sûreté ruhig und in Ihrem Büro wahrscheinlich auch.«
Brault hatte genickt und Gamache dabei mit Interesse betrachtet. Er hatte wie die meisten seiner Kollegen immensen Respekt vor dem stillen Mann. Nur Idioten unterschätzten ihn, aber Brault wusste, dass es bei der Polizei von Idioten wimmelte. Idioten mit Macht, Idioten mit Waffen.
Der Fall Arnot hatte das zweifelsfrei bewiesen. Der Fall hatte den vor ihm sitzenden großen, nachdenklichen Mann beinahe zerstört. Brault fragte sich, ob Gamache die ganze Geschichte kannte. Wahrscheinlich nicht.
Armand Gamache sprach mit tiefer, angenehmer Stimme weiter. Brault fielen die grauen Schläfen und die zunehmende Glatze auf, die er nicht dadurch zu verbergen versuchte, dass er die verbliebenen Haare darüberkämmte. Der dunkle, ebenfalls ergrauende Schnurrbart war dicht und sorgfältig gestutzt. Sein Gesicht war von Sorgenfalten aber auch von Lachfalten durchzogen, und seine dunkelbraunen Augen blickten Brault nachdenklich über den Rand der Lesebrille hinweg an.
Wie hielt er nur stand?, fragte sich Brault. Schon bei der Polizei von Montréal gab es intern ein ständiges Hauen und Stechen, und er wusste, dass es bei der Sûreté von Québec noch schlimmer zuging. Weil mehr auf dem Spiel stand. Und doch war Gamache aufgestiegen und leitete die größte und renommierteste Abteilung der Sûreté.
Aber er würde sicher nicht weiter aufsteigen. Selbst Gamache wusste das. Allerdings schien Armand Gamache, anders als Marc Brault, der von Ehrgeiz getrieben war, mit seinem Leben zufrieden zu sein, sogar glücklich. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, vor dem Fall Arnot, da hatte Brault den Verdacht gehegt, dass Gamache etwas einfältig sei, keine rechte Ahnung habe. Das glaubte er inzwischen nicht mehr. Jetzt wusste er, was hinter den freundlichen Augen und der ruhigen Miene steckte.
Er hatte das seltsame Gefühl, dass Gamache genau wusste, was vor sich ging, sei es in Braults Kopf oder in den komplizierten Hirnwindungen der Leute von der Sûreté.
»Ich würde vorschlagen, dass jeder von uns dem anderen die Akten seiner ungelösten Fälle übergibt und wir ein paar Tage mit deren Lektüre verbringen. Vielleicht entdecken wir ja etwas.«
Brault nahm einen Schluck Cognac und lehnte sich nachdenklich auf seinem Stuhl zurück. Die Idee war gut. Sie war allerdings auch reichlich unkonventionell und würde vielleicht Ärger nach sich ziehen, wenn jemand davon erfuhr. Er lächelte Gamache an und beugte sich vor.
»Warum? Haben Sie unterm Jahr nicht genug Arbeit? Oder haben Sie keine Lust, die Weihnachtsfeiertage mit Ihrer Familie zu verbringen?«
»Wissen Sie, wenn ich könnte, würde ich in mein Büro ziehen und von Automatenkaffee leben. Ich habe kein Privatleben, und meine Familie verachtet mich.«
»Davon habe ich schon gehört, Armand. Ich verachte Sie im Übrigen auch.«
»Und ich Sie.«
Die beiden Männer lächelten. »Ich würde mir wünschen, dass jemand so etwas für mich täte. Ganz einfach, reiner Egoismus. Wenn ich einem Mord zum Opfer fiele, würde ich hoffen, dass der Fall gelöst wird. Dass sich jemand dafür ins Zeug legt. Wie könnte ich das jemand anderem verweigern?«
So einfach war das. Und er hatte recht.
Marc