So kam es, dass sich die beiden Männer in den letzten Jahren immer auf dem Parkplatz der Sûreté getroffen hatten, um am zweiten Weihnachtsfeiertag Akten auszutauschen, als handelte es sich um Geschenke. An jedem zweiten Weihnachtsfeiertag öffneten Armand und Reine-Marie die Kartons und suchten darin nach Mördern.
»Das ist aber komisch.« Reine-Marie ließ ihr Dossier sinken und sah, dass er sie anblickte. Sie lächelte und fuhr fort. »Da ist ein Fall von vor ein paar Tagen. Ich frage mich, wie er in den Stapel geraten ist.«
»Vorweihnachtsstress. Da muss jemandem ein Irrtum unterlaufen sein. Gib her, ich lege die Akte in den Ausgang zurück.« Er streckte seine Hand aus, aber sie hatte ihren Blick wieder auf die Blätter gesenkt und zu lesen angefangen. Nach einem Moment zog er seine Hand zurück.
»Entschuldige Armand. Ich habe gerade festgestellt, dass ich die Frau kannte.«
»Nein!« Gamache legte sein Dossier beiseite und ging zu Reine-Marie. »Was ist das für ein Fall?«
»Sie war keine Freundin oder jemand, der mir nahestand. Du kanntest sie vielleicht auch. Die Obdachlose vom Busbahnhof Berri. Die bei jedem Wetter dick eingemummelt war. Dort war jahrelang ihr Stammplatz.«
Gamache nickte. »Aber das kann noch nicht als ungelöster Fall eingestuft worden sein. Du sagst, sie ist erst vor ein paar Tagen gestorben, oder?«
»Sie ist am Zweiundzwanzigsten ermordet worden. Seltsamerweise befand sie sich nicht am Busbahnhof. Sie war auf der Rue de la Montagne, vor dem Ogilvy’s. Das ist wie weit entfernt? Zehn, fünfzehn Blocks?«
Gamache setzte sich wieder und wartete, beobachtete Reine-Marie beim Lesen, ein paar graue Strähnen fielen ihr in die Stirn. Sie war Anfang fünfzig und bezaubernder als zu der Zeit, als sie geheiratet hatten. Sie trug wenig Make-up, zufrieden mit dem Gesicht, das die Natur ihr zugedacht hatte.
Gamache konnte den ganzen Tag dasitzen und sie betrachten. Er holte sie manchmal an ihrer Arbeitsstelle, der Bibliothèque nationale, ab, wobei er bewusst zu früh kam, um sie dabei zu beobachten, wie sie historische Dokumente durchging, sich Notizen machte, der Kopf gesenkt, der Blick ernst.
Dann sah sie von ihrem Schreibtisch auf, bemerkte, dass er sie beobachtete, und auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
»Sie ist erwürgt worden.« Reine-Marie ließ die Akte sinken. »Hier steht, dass ihr Name Elle war. Kein Nachname. Das ist doch nicht zu glauben. Eine Beleidigung. Sie machen sich noch nicht einmal die Mühe, ihren richtigen Namen herauszufinden, also nennen sie die Frau einfach elle, sie.«
»Es ist nicht einfach, einen Namen herauszufinden«, sagte er.
»Was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass bei der Mordkommission keine Kindergartenkinder beschäftigt werden.«
Er musste lachen, als sie das sagte.
»Sie haben es nicht einmal versucht, Armand. Sieh doch selbst.« Sie hob das Dossier in die Höhe. »Es ist die dünnste Akte von allen. Sie war für sie nur eine Pennerin.«
»Soll ich es versuchen?«
»Könntest du das? Und wenn du nur ihren Namen herausfindest.«
Gamache suchte den Karton zu Elles Fall, der mit den anderen von Brault an der Wand seines Büros aufgestapelt war. Er streifte sich Handschuhe über und breitete seinen Inhalt auf dem Boden aus.
Es dauerte nicht lange, und es lagen lauter zerschlissene, verdreckte Kleidungsstücke vor ihm, und gegen den Geruch, der sich augenblicklich breitmachte, kam selbst Blauschimmelkäse nicht an.
Neben den Kleidern lagen alte Zeitungen, verknittert und schmutzig. Zur Isolation, vermutete Gamache, wegen der harten Winter in Montréal. Worte konnten vieles erreichen, das wusste er, aber sie konnten das Wetter nicht ändern. Reine-Marie gesellte sich zu ihm, gemeinsam gingen sie den Inhalt des Kartons durch.
»Sie scheint sich buchstäblich mit Wörtern umgeben zu haben«, sagte Reine-Marie und hob ein Buch hoch. »Die Zeitungen zum Warmhalten und dann noch das Buch.«
Sie schlug es an irgendeiner Stelle auf und fing an zu lesen.
»Längst tot und anderswo begraben,
Hat meine Mutter über mich noch Macht.«
»Darf ich mal sehen?« Gamache nahm das Buch und betrachtete den Umschlag. »Ich kenne die Dichterin. Persönlich. Ruth Zardo.« Er sah auf den Titel. Mir geht’s GUT.
»Die aus dem kleinen Dorf, das dir so gut gefiel? Ist sie nicht eine deiner Lieblingsdichterinnen?«
Gamache nickte und blätterte zur ersten Seite vor. »Das Buch habe ich noch nicht. Muss neu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Elle es gelesen hat.« Er sah auf das Veröffentlichungsjahr und bemerkte die Widmung: »Du stinkst, von Herzen, Ruth«.
Gamache ging zum Telefon und wählte eine Nummer.
»Spreche ich mit der Buchhandlung von Ogilvy? Ich wüsste gerne – ja, ich warte.« Er drehte seinen Kopf zu Reine-Marie und lächelte. Sie streifte sich Gummihandschuhe über und nahm eine kleine Holzschachtel, die sich auch in dem Karton befunden hatte. Es war eine ganz einfache, ziemlich abgenutzte Schachtel. Reine-Marie drehte sie um und entdeckte vier Buchstaben auf dem Boden.
»Wie erklärst du dir das?«, fragte sie und zeigte sie Armand.
B KLM
»Lässt sie sich öffnen?«
Vorsichtig hob sie den Deckel und schaute hinein, dabei wurde ihre Miene immer verwirrter.
In der Schachtel waren lauter Buchstaben.
»Willst du nicht – ja, hallo?« Er hob entschuldigend die Augenbrauen. »Ich rufe wegen Ruth Zardos neuestem Buch an. Ja, genau das. Viele Leute? Ich verstehe. Gut, ich danke Ihnen.« Er hängte ein. Reine-Marie hatte den Inhalt der Schachtel auf den Schreibtisch geleert und ordnete die Buchstaben zu kleinen Häufchen.
Es waren fünf verschiedene. Bs, Cs, Ms, Ls und Ks.
»Dieselben wie auf dem Boden, bis auf die Cs«, sagte sie. »Warum diese Buchstaben, und warum nur Großbuchstaben?«
»Glaubst du, es hat etwas zu bedeuten, dass es nur Großbuchstaben sind?«, fragte Gamache.
»Ich weiß nicht, aber bei den Schriften, mit denen ich in der Arbeit zu tun habe, ist es so, dass bei einem aus Großbuchstaben zusammengesetzten Begriff die einzelnen Buchstaben meistens ein Wort repräsentieren.«
»Wie bei FBI oder CIA.«
»Du kannst den Polizisten in dir einfach nicht verleugnen, aber genau das meinte ich. Mir geht’s GUT zum Beispiel«, sagte sie und deutete auf Ruths Buch, das auf dem Schreibtisch von Gamache lag. »Ich wette, das GUT steht für irgendetwas. Was haben die von der Buchhandlung gesagt?«
»Ruth Zardo hat das Buch vor ein paar Tagen vorgestellt, im Ogilvy’s. Am zweiundzwanzigsten Dezember.«
»Dem Tag, an dem Elle starb«, sagte Reine-Marie.
Gamache nickte. Warum gab Ruth Zardo einer Obdachlosen ein Buch von sich und widmete es ihr »von Herzen«? Er kannte die alte Frau gut genug, um zu wissen, dass sie mit solchen Worten nicht hausieren ging. Er wollte gerade erneut zum Telefon greifen, als es klingelte.
»Ja, allô? Gamache hier.«
Schweigen am anderen Ende.
»Bonjour?« Er versuchte es noch einmal.
»Chief Inspector Gamache?«, fragte eine verunsicherte Stimme. »Ich hatte nicht erwartet, dass Sie selbst ans Telefon gehen.«
»Ich bin ein vielseitiger Mann.« Er lachte entwaffnend. »Womit kann ich dienen?«
»Mein Name ist Robert Lemieux. Ich bin der diensthabende Polizist