»Krishnamurti Das, Ravi Shankar Das, Gandhi Das. Ramen Das. Khalil Das. Gibran Das. Sie nennen sie sogar CC Das.« Inzwischen brüllte Clara vor Lachen wie die meisten anderen.
Die meisten. Aber nicht alle.
»Was soll daran falsch sein?«, sagte Olivier und wischte sich die Augen. »Gabri und ich folgen dem Weg von Häagen-Dazs, der von Zeit zu Zeit recht steinig sein kann.«
»Und einer deiner Lieblingsfilme ist Das Boot«, sagte Clara zu Peter, »du müsstest also auch erleuchtet sein.«
»Stimmt, allerdings ist da das Das andersrum.«
Carla fiel vor Lachen gegen Peter, Henri kam angelaufen und sprang auf sie beide drauf. Als Clara sich und auch Henri wieder beruhigt hatte, stellte sie überrascht fest, dass Mother gegangen war.
»Was hat sie denn?«, fragte sie Kaye, die ihrer Freundin nachsah, wie sie ins Esszimmer zu Em ging. »Haben wir etwas Falsches gesagt?«
»Nein.«
»Wir wollten sie nicht beleidigen«, sagte Clara und nahm Mothers Platz neben Kaye ein.
»Das habt ihr doch auch nicht. Ihr habt ja nicht einmal über sie gesprochen.«
»Wir haben über Dinge gelacht, die Mother ernst nimmt.«
»Ihr habt über CC gelacht, nicht über sie. Das weiß sie sehr wohl zu unterscheiden.«
Clara war nicht ganz überzeugt. CC und Mother hatten beide ihr Unternehmen Be Calm genannt. Sie lebten jetzt beide in Three Pines, und sie folgten einem ähnlichen spirituellen Weg. Clara fragte sich, ob die Frauen vielleicht mehr verbargen als nur ihre Gefühle.
Die Rufe »Joyeux Noël« verloren sich in der Nacht, als die Weihnachtsfeier zu Ende war. Emilie winkte den letzten ihrer Gäste nach und schloss die Tür.
Es war halb drei Uhr morgens, und sie war völlig erschöpft. Sie stützte sich mit der Hand am Tisch in der Diele ab und ging langsam in das Esszimmer zurück. Clara, Myrna und die anderen hatten schon aufgeräumt und heimlich das Geschirr gespült, während sie mit einem kleinen Glas Scotch auf dem Sofa gesessen und sich mit Ruth unterhalten hatte.
Sie hatte Ruth immer gemocht. Alle waren überrascht gewesen, als vor mehr als zehn Jahren ihr erster Gedichtband erschienen war, überrascht, dass eine augenscheinlich so spröde und verbitterte Frau so viel Schönheit in sich bergen konnte. Aber Em hatte es gewusst. Sie hatte es schon immer gewusst. Das hatte sie mit Clara gemein, und das war einer der vielen Gründe, die Em für Clara eingenommen hatten, von dem Tag an, als diese jung, arrogant, voller Ungestüm und Talent hier aufgetaucht war. Clara sah Dinge, die andere nicht sehen konnten. Wie der kleine Junge in The Sixth Sense, aber statt Geister sah Clara das Gute. Was an sich wiederum ziemlich unheimlich war. Es war so viel angenehmer, in den anderen das Schlechte zu sehen; dadurch hatte man alle möglichen Entschuldigungen für das eigene schlechte Verhalten parat. Aber das Gute? Nur wirklich besondere Menschen sahen das Gute in anderen.
Auch wenn nicht jeder, wie Em sehr wohl wusste, etwas Gutes in sich trug, das man sehen konnte.
Sie ging zu der Musikkommode, zog eine Schublade auf und holte vorsichtig einen einzelnen Wollhandschuh heraus. Darunter lag eine Schallplatte. Sie legte die Platte auf, streckte die Hand aus, um den Abspielknopf zu drücken, der Finger gekrümmt und zitternd wie eine ermattete Version von Michelangelos Schöpfung. Dann ging sie zum Sofa zurück und hielt dabei behutsam den Handschuh, als befände sich noch eine Hand darin.
In den rückwärtigen Zimmern schliefen Mother und Kaye. Seit Jahren verbrachten die drei Freundinnen den Weihnachtsabend miteinander und begingen den folgenden Tag in aller Ruhe. Em glaubte, dass dies ihr letztes Weihnachten war. Sie glaubte auch, dass es Kayes letztes war, vielleicht sogar Mothers. Halb drei.
Die Musik setzte ein, und Emilie Longpré schloss die Augen.
In ihrem Zimmer konnte Mother die ersten Takte von Tschaikowskys Violinkonzert D-Dur hören. Mother hörte es immer nur am Weihnachtsabend, auch wenn es früher einmal ihr Lieblingsstück gewesen war. Es war für sie alle etwas Besonderes. Für Em am meisten, das war klar. Jetzt spielte sie es nur noch einmal im Jahr, in den frühen Morgenstunden zwischen dem Weihnachtsabend und dem ersten Weihnachtsfeiertag. Es brach Mother das Herz, wenn sie es hörte und daran dachte, dass ihre Freundin allein im Wohnzimmer saß. Aber sie respektierte und liebte Em zu sehr, um ihr diese Zeit, die sie allein mit ihrer Trauer und ihrem Sohn verbrachte, zu nehmen.
In dieser Nacht befand sich Mother in Gesellschaft ihrer eigenen Trauer. Sie wiederholte beständig, du wirst Ruhe finden, du wirst Ruhe finden. Aber das Mantra, das ihr so viele Jahre Ruhe gebracht hatte und nach dem sie ihr Zentrum – Be Calm – benannt hatte, hatte plötzlich seine Bedeutung verloren, war von dieser schrecklichen, gestörten, monströsen Frau seiner Kraft beraubt worden. Dieser verfluchten CC de Poitiers.
Kaye drehte sich ächzend um. Selbst wenn sie sich nur auf die Seite drehte, überfielen sie unerträgliche Schmerzen. Ihr Körper gab langsam auf. Es hieß immer, dass man den Geist aufgab. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Sie verwandelte sich in einen Geist. Sie schlug die Augen auf und wartete, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Aus der Ferne hörte sie Tschaikowsky. Es war, als würde die Musik nicht nur durch ihre halb tauben Ohren zu ihr vordringen, sondern auch durch ihre Brust, direkt in ihr Herz, wo sie sich ausbreitete. Es war kaum auszuhalten. Kaye nahm einen tiefen, rasselnden Atemzug und hätte Emilie beinahe zugerufen, dass sie die Musik ausmachen sollte. Diese göttliche Musik ausmachen. Aber sie tat es nicht. Sie liebte ihre Freundin zu sehr, um ihr die Zeit mit David zu nehmen.
Die Musik ließ sie an ein anderes Kind denken. Crie. Wer nannte sein Kind Crie? Wie cri, der Schrei? Namen waren wichtig, das wusste Kaye. Wörter waren wichtig. Das Kind hatte an diesem Abend wie ein Engel gesungen, es hatte sie alle für einen kurzen Moment am Göttlichen, am Übermenschlichen teilhaben lassen. Aber mit einigen wenigen wohlgewählten Worten hatte ihre Mutter das in etwas Hässliches verwandelt, was noch Minuten zuvor etwas ganz Wunderschönes war. CC war eine Alchemistin mit der ungewöhnlichen Gabe, Gold in Blei zu verwandeln.
Was hatte Cries Mutter gehört, das eine solche Reaktion hervorrufen konnte? Es konnte jedenfalls nicht dieselbe Stimme gewesen sein. Vielleicht hatte sie sie gehört, und genau das war das Problem. Vielleicht hörte sie auch noch andere Stimmen.
Sie wäre nicht die Erste.
Kaye versuchte, diesen Gedanken beiseitezudrängen, aber er kehrte immer wieder zurück. Und ein anderer Gedanke, eine andere Stimme tauchte auf, die eines Mannes, melodisch, irisch, freundlich.
»Du hättest dem Kind beistehen sollen. Warum hast du nichts unternommen?«
Es war immer dieselbe Frage und immer dieselbe Antwort. Sie hatte Angst. Hatte ihr Leben lang Angst gehabt.
Hier ist es also, das dunkle Etwas,
das dunkle Etwas, auf das du so lange gewartet hast.
Und siehe da, es ist nichts Neues.
Die Verse von Ruth Zardos Gedicht kamen ihr in den Sinn. Heute Nacht hatte das dunkle Etwas einen Namen und ein Gesicht und trug ein rosa Kleid.
Das dunkle Etwas war nicht CC, es war die Anklage in Gestalt von Crie.
Kaye ließ ihren Blick umherwandern, sie umklammerte mit beiden Händen die Decke unter ihrem Kinn, um sich warm zu halten. Ihr war seit Jahren nicht mehr richtig warm gewesen. Ihr Blick fiel auf die rote Digitalanzeige des Weckers. Drei Uhr. Und hier lag sie, in ihrem Schützengraben. Kalt und zitternd. Heute Nacht hätte sie die Gelegenheit gehabt, all die Momente der Feigheit in ihrem Leben wiedergutzumachen. Alles, was sie hätte tun müssen, war, das Kind zu verteidigen.
Kaye wusste, dass es bald so weit wäre. Bald müsste sie aus ihrem Schützengraben kriechen und sich dem, was da kam, stellen. Aber sie war noch nicht bereit. Noch nicht. Bitte.
Dieses