Tief eingeschneit. Louise Penny. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Louise Penny
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Gamache
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311700852
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das Ruths Buch?« Clara nahm Mir geht’s GUT in die Hand. »Verkaufst du es mir?«

      »Aber du hast es doch gestern schon gekauft. Wir beide. Sie hat sie auch signiert. Ich bilde mir übrigens ein, gesehen zu haben, dass sie sogar ein paar Bücher von Auden signiert hat.«

      »Ich habe meines irgendwo liegen lassen. Ich nehme es mit, und wenn sie einen Anthony Hecht signiert, kaufe ich den auch.«

      Clara schlug das Buch an irgendeiner Stelle auf und las.

      »Alle Kinder sind mal traurig,

      aber manche kommen drüber weg.

      Vergiss es! Und denk mal an dein Glück,

      kauf dir einen Hund, ein Kleidungsstück.

      Bei manchen erfüllt auch Tanzen diesen Zweck.

      Wie stellt Ruth das bloß an? Ich könnte schwören, dass sie nur eine alte Säuferin ist.«

      »Das hast du von Gott auch geglaubt«, sagte Myrna.

      »Hör mal zu:

      Vergessen? Was denn?

      Die Traurigkeit, den Schatten

      dessen, was dir widerfuhr

      am Tag des Gartenfestes,

      als du ins Haus kamst, von der Sonne geküsst,

      dein Mund verklebt vom Zucker,

      in deinem neuen Kleid mit süßer Schleife

      und dem Eiscremeflecken,

      und als du dir im Badezimmer sagtest,

      ich bin nicht das Lieblingskind.«

      Myrna sah zum Fenster hinaus und fragte sich, ob der Friede ihrer kleinen Gemeinschaft, so verletzlich und kostbar, im Begriff war zu zerbrechen. Seit CC de Poitiers zu ihnen gestoßen war, hing eine Wolke darüber, die zunehmend dunkler wurde. Sie hatte etwas Hässliches mit nach Three Pines gebracht, gerade rechtzeitig zu Weihnachten.

      6

      Die Vorweihnachtszeit war von Geschäftigkeit geprägt. Clara liebte diese Zeit. Alles daran. Von den dämlichen Werbespots über die armselige Parade für Père Noël durch St. Rémy, die von Canadian Tire gesponsert wurde, bis zu den Sternsängern, die unter Gabris Leitung standen. Die Sänger gingen über die verschneiten Straßen von Haus zu Haus, und zu den Schneeflocken in der eisigen Nachtluft gesellten sich alte Lieder, Lachen und Atemwölkchen. Die Dorfbewohner luden sie in ihre Wohnzimmer ein, dann nahmen sie Aufstellung um Klaviere und Weihnachtsbäume und tranken Brandy-Eierflips, aßen geräucherten Lachs, Butterkekse und Lebkuchen und all die anderen Köstlichkeiten, die zum Fest gebacken wurden. Die Sternsinger sangen im Laufe von wenigen Abenden in jedem Haus im Dorf, nur in einem nicht. In stillschweigender Übereinkunft hielten sie sich von dem düsteren Haus auf dem Hügel fern. Dem alten Hadley-Haus.

      Gabri führte in seinem viktorianischen Cape und mit Zylinder die Sänger an. Er hatte eine schöne Stimme, auch wenn er nach Höhen strebte, die ihm versagt waren. Jedes Jahr besuchte Ruth Zardo das Bistro als Weihnachtsmann, sie war, wie Gabri sagte, auserwählt worden, weil sie sich nicht extra einen Bart wachsen lassen musste. Jedes Jahr kletterte Gabri auf ihren Schoß und bat sie um die Sopranstimme eines Knaben, und jedes Jahr drohte ihm der Weihnachtsmann damit, dass er gleich im Kastratenchor singen könnte.

      Jedes Weihnachten stellten Monsieur und Madame Vachon die alte crèche in ihrem Vorgarten auf, komplett mit Jesuskind in einer Badewanne auf Löwenfüßen, umgeben von den drei Weisen und irgendwelchen Nutztieren aus Plastik, die der Schnee langsam unter sich begrub und die im Frühling völlig unverändert wieder auftauchten, ein weiteres Wunder, wenn es auch nicht alle Dorfbewohner dafür hielten.

      Billy Williams spannte die Percherons vor den leuchtend roten Schlitten und fuhr mit Jungen und Mädchen durch das Dorf, hinauf in die schneebedeckten Hügel. Die Kinder krochen unter das mottenzerfressene Bärenfell und hielten mit beiden Händen die heiße Schokolade umklammert, während die würdevollen grauen Giganten sie mit solcher Ruhe und Vorsicht zogen, als wüssten sie, dass ihre Fracht wertvoll war. Im Bistro überließ man den Eltern die Fensterplätze, wo sie heißen Cidre tranken und ihre Kinder über die Rue du Moulin verschwinden sahen, dann drehten sie sich wieder dem Lokal mit seinen ausgeblichenen Stoffen, dem wild zusammengewürfelten Mobiliar und den offenen Kaminen zu.

      Clara und Peter legten letzte Hand an die Weihnachtsdekoration, stellten in der Küche Kiefernzweige passend zu der deckenhohen Waldkiefer im Wohnzimmer auf. Ihr Haus roch wie alle anderen nach Wald.

      Die Geschenke lagen hübsch eingewickelt unter dem Baum. Jeden Morgen ging Clara an ihnen vorbei und freute sich, dass endlich, dank Janes Testaments, keines der Geschenke mehr vom Sperrmüll in Williamsburg stammte. Endlich würden sie sich etwas schenken, das nicht erst desinfiziert werden musste.

      Peter hängte ihre Strümpfe an den Kaminsims. Sie hatten Butterplätzchen in Form von Sternen, Bäumen und Schneemännern gebacken und mit silbernen Liebesperlen, die wie Schrotkugeln aussahen, dekoriert. Jeden Abend vor dem Singen schürte Peter das Kaminfeuer an und las, während Clara auf dem Klavier klimperte und Weihnachtslieder schmetterte. Myrna oder Ruth, Gabri oder Olivier schauten des Öfteren vorbei und tranken etwas oder ließen sich zu einem zwanglosen Abendessen einladen.

      Auf einmal war der Vierundzwanzigste da, und sie machten sich alle auf den Weg zu Emilies réveillon-Feier. Aber zuerst zur Mitternachtsmesse in der Kirche St. Thomas.

      »Stille Nacht, heilige Nacht«, sang die Gemeinde mit mehr Begeisterung als Können. Es hörte sich ein wenig wie das alte Seemannslied »What Shall We Do With the Drunken Sailor« an. Wie selbstverständlich führte Gabris schöner Tenor sie oder machte es zumindest deutlich, wenn sie sich auf musikalisches Neuland gewagt hatten oder auf hoher See verloren gegangen waren. Mit einer Ausnahme. Aus einer der hinteren Bankreihen erklang eine Stimme von so exquisiter Klarheit, dass selbst Gabri staunte. Die Stimme des Kindes schwang sich empor, vermischte sich mit den auf und ab wogenden Stimmen der Gemeinde und schwebte um die Stechpalmen- und Tannenzweige, die die Mitglieder des Vereins anglikanischer Frauen überall verteilt hatten, sodass die Gläubigen den Eindruck hatten, gar nicht in einer Kirche, sondern in einem Wald zu sein. Billy Williams hatte nackte Ahornzweige an den Dachbalken befestigt, und die anglikanischen Frauen hatten ihn auf Betreiben von Mother gebeten, kleine weiße Lichterketten darum zu schlingen. Die Decke glitzerte wie ein Sternenhimmel über dem Häuflein der versammelten Gotteskinder. Die Kirche war von Grün und Licht erfüllt.

      »Grün ist das Herz-Chakra«, hatte Mother erklärt.

      »Das freut den Bischof sicher«, sagte Kaye.

      Am Weihnachtsabend war St. Thomas voll von Familien, aufgeregten, überdrehten Kindern, älteren Männern und Frauen, die ihr Leben lang hierhergekommen waren, immer in derselben Bank saßen und demselben Gott huldigten, hier ihre Lieben tauften, verheirateten und zur ewigen Ruhe betteten. Einige hatten sie nie zu Grabe tragen können und sie stattdessen in dem kleinen Buntglasfenster verewigt, das sich an einer Stelle befand, wo das Morgenlicht, das jüngste Licht hereinfiel. Dort marschierten sie nun in warmen Gelb-, Blau- und Grüntönen, in ewiger Vollkommenheit, erstarrt im Ersten Weltkrieg. Unter den schönen jungen Männern waren ihre Namen zu lesen und die Worte: »Sie waren unsere Kinder«.

      In dieser Nacht war die Kirche voll mit Anglikanern, Katholiken, Juden, Ungläubigen und Leuten, die an etwas Unbestimmtes, auf keine Kirche Beschränktes glaubten. Sie kamen, weil St. Thomas am Weihnachtsabend voller Grün und voller Licht war.

      An diesem Weihnachtsabend war sie völlig unerwartet auch noch von hinreißendem Gesang erfüllt.

      »Alles schläft«, sang die Stimme und rettete die Gemeinde vor dem drohenden Untergang. Clara drehte sich um und hielt Ausschau nach dem Kind. Viele andere reckten ebenfalls ihre Hälse, um zu sehen, wer sie führte. Selbst Gabri war durch die unverhoffte und nicht ganz willkommene Gegenwart der göttlichen Stimme gezwungen, seinen Platz an der Spitze aufzugeben. Es war, als wäre ein Engel, wie es in Yeats’ Wiegenlied hieß, der wimmernden Toten müde geworden und