Die Welt, in der wir leben. Wilfried Nelles. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilfried Nelles
Издательство: Bookwire
Серия: Edition Neue Psychologie
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783947508754
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mit welchen Methoden psychologische Beratung und Therapie in den jeweiligen Lebensstufen schauen und arbeiten sollten, um die Menschen auf dem Weg zu sich selbst zu unterstützen.

      Dass meine Erzählung eine psychologische Geschichte ist, bedeutet nicht, dass ich mich nur mit der Psyche des einzelnen Menschen befasse. Das wäre eine viel zu enge Sicht. Wir sind immer Teil der menschlichen Seele oder des allgemeinen Bewusstseins, selbst wenn wir als Einsiedler leben. Und wir fühlen und handeln auch immer aus unserem jeweiligen Bewusstsein heraus, auch als Psychologen und Therapeuten. Deshalb scheint es mir unabdingbar, dass wir uns dieses Bewusstseins, des Standortes, von dem aus wir schauen und unsere so genannten „Lösungen“ nehmen, bewusst werden. Das gilt gleichermaßen für die persönliche Ebene wie die des allgemeinen Bewusstseins, in das wir eingebettet sind. Also betrachte ich immer beide Seiten: das Innenleben des Einzelnen und dessen Entwicklung und das Innenleben der Menschheit und deren Entwicklung. Beides greift immer ineinander, und beides gemeinsam macht das aus, was ich mit „Seele“ bezeichne: die Innenseite des Lebens.

      Ich orientiere mich dabei nicht an theoretischen Annahmen oder philosophischen Positionen über das Bewusstsein, sondern an den beobachtbaren Prozessen des Lebens selbst. Mich an den beobachtbaren Prozessen orientieren heißt: Ich beschreibe und teile meine Wahrnehmung, und zwar so, dass jeder dem folgen kann. Ich tue dies in Form einer Erzählung – ich erzähle eine Geschichte. Eine Geschichte, die zwar auf dem heutigen Wissensstand, soweit er mir zugänglich und bekannt ist, basiert, aber keinen Anspruch auf Objektivität erhebt. Denn Objektivität ist nicht mehr möglich. Alle Geschichten, alle Theorien, alle Erzählungen sind subjektiv. Ihre allgemeine Gültigkeit beruht darauf, dass man sie mit den eigenen Erfahrungen vergleichen und dabei sehen kann, ob sie diese ebenfalls umfassen, oder darauf, dass man sich auf die Erfahrungen und Beobachtungen, die in der Geschichte erzählt werden, oder auf die Vorschläge, die ich zur Überprüfung mache, einlässt und sie als wahr empfindet.

      Im vorliegenden Buch sind das die Beobachtungen, die ich

      .erstens bei mir selbst gemacht habe, wozu all meine Lebenserfahrungen gehören; deshalb berichte ich dort, wo es mir angebracht erscheint, auch über diese persönlichen Erfahrungen, damit meine Schlussfolgerungen nachvollziehbar sind und der Leser angeregt wird, sich an seine eigenen Erfahrungen zu erinnern;

      .zweitens die Beobachtungen, die ich bei vielen tausend Klienten und hunderten Schülern gemacht habe, also in meiner Arbeit mit allen Arten von psychischen Problemen, psychosomatischen Krankheiten, mit der Bewältigung von Schicksalsschlägen und gewöhnlichen Alltagsproblemen und einer Vielzahl von seelischen Themen;

      .drittens das, was ich bei und mit den Menschen um mich herum, in der Familie und bei Freunden, insbesondere bei meinen eigenen und anderen Kindern, gesehen und erfahren habe, und

      .viertens alles, was ich gelesen und studiert habe – etwa Karl Marx und die Kritische Theorie (hier vor allem Herbert Marcuse und Jürgen Habermas); das große Werk von Ken Wilber und das ebenso große und für mich noch tiefere von Wolfgang Giegerich (der mir auch C. G. Jung nahe gebracht hat) über Bewusstsein und Psychologie; die Arbeit von und mit Bert Hellinger, in die ich zehn Jahre lang vollkommen eingetaucht bin; vor allem aber Osho, dem ich mit Mitte dreißig begegnet bin und in dessen Geist ich mich seitdem zu Hause fühle, und ergänzend dazu die aus demselben Geist kommenden und inhaltlich identischen, aber ganz anders formulierten Lehren von Sri Nisardagatta und Ramesh S. Balsekar, um die wichtigsten und prägendsten zu nennen. Aus der Literatur schließlich waren für mich zwei Bücher von Hermann Hesse am bedeutsamsten – nicht, weil sie besser als alle anderen wären, sondern weil ich in ihren Protagonisten mir selbst begegnet bin: Narziss und Goldmund sowie Siddhartha.

      Sehr wichtig war für mich auch, dass ich seit 2004 jedes Jahr zwei Mal für mehrere Wochen in China bin und dort Kurse mit inzwischen mehreren tausend Menschen geleitet habe. Nirgendwo haben mir die Menschen so offen ihr Herz ausgeschüttet wie in China. Ich verstehe China zwar noch immer nicht, aber ich habe nicht nur einen ganz anderen Einblick in die chinesische Kultur, die Gesellschaft und vor allem einen anderen Blick auf die Menschen bekommen, als es die Berichte in den deutschen Medien vermitteln6; vor allem hat mir die Arbeit dort es ermöglicht, auf unsere eigene Kultur von außen und mit einem inneren Abstand zu schauen, der mir sonst nicht möglich gewesen wäre, und dabei Dinge zu sehen, die ich sonst nicht wahrgenommen hätte – zum Beispiel unsere ideologische Verbissenheit, die Chinesen vollkommen abgeht, unser Schwarz-Weiß- und Entweder- oder-Denken, die Überheblichkeit, die wir Lehrern und Älteren gegenüber an den Tag legen, oder unser lieb- und respektloser Umgang mit alten Menschen. Das alles (und viel mehr) konnte ich erst sehen, als ich aus der Ferne auf unsere Kultur schaute. Das gilt auch für meine zwanzigjährige Arbeit in Mittel-Ost-Europa, namentlich in Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Hier ist der kulturelle Abstand zwar viel geringer, aber auch in diesen Ländern habe ich einen anderen Blick auf die Menschen dort und ihre Denk- und Lebensweise wie auch auf meine eigene Welt bekommen.

       DIE STUFEN DES MENSCHLICHEN LEBENS UND DES BEWUSSTSEINS

      Ich beginne meine Reise mit einer Art Landkarte, die sich mir vor gut zwölf Jahren (2007) bei einer langen Autofahrt plötzlich wie aus dem Nichts gezeigt hat. Für mich hatte sie zunächst die Bedeutung, dass sich viele Erfahrungen aus meiner Arbeit wie aus meinem persönlichen Leben plötzlich ordneten und einen Platz fanden und ich darin eine in sich schlüssige Bewegung des Lebens sehen konnte. Als ich das dann formuliert habe, erweiterte sich das Bild immer mehr, und ich sah ein Modell entstehen, das die Bewegung des menschlichen Lebens und insbesondere des Bewusstseins in ganz allgemeiner Form abbildet, vom einzelnen menschlichen Leben über soziale und kulturelle Prozesse bis hin zur Entwicklung und Veränderung ökonomischer und politischer Institutionen.

      Ich habe dieses Modell der „Lebens- und Bewusstseinsstufen“ dann in dem Buch „Das Leben hat keinen Rückwärtsgang“ (Nelles 2009) in einem ersten Entwurf vorgestellt. Es beschreibt die biologisch-lebensgeschichtliche und, analog dazu, die geistige (spirituelle) Entwicklung des Einzelnen wie des menschlichen Bewusstseins insgesamt. Es ist eine innere Landkarte, die es uns ermöglicht, einen Überblick über unser Leben zu bekommen, zu sehen, wo wir gerade stehen und auch unser Bewusstsein quasi von außen zu sehen. Daraus ist dann drei Jahre später (2011) der „Lebensintegrationsprozess“ (LIP) als praktisches therapeutisches Verfahren entstanden (Nelles 2012 und Nelles/Geßner 2014). Dieser neue methodische Ansatz kombiniert die Theorie der Lebensund Bewusstseinsstufen mit der von Bert Hellinger entwickelten Aufstellungsmethode7 und ermöglicht es, seinen (früheren und heutigen) Standort im Leben zu sehen und auch sein inneres Wesen – das, was einem von Beginn an mitgegeben wurde und sich in einem entfalten will – deutlicher wahrzunehmen. Es ist so etwas wie ein Spiegel der Seele, in dem man die Innenseite seines Lebens sehen kann.

      Im Folgenden gebe ich zunächst einen gerafften Überblick über die Lebens- und Bewusstseinsstufen, um dann Stufe für Stufe zu untersuchen, wie sich unser Leben und unser Bewusstsein in ständiger Wechselwirkung miteinander entwickeln oder bekämpfen und was Psychologie und Therapie dazu beitragen können, sich dieser Bewegung gewahr zu werden und dabei innerlich zu wachsen. Daraus ergibt sich ein klareres Verständnis der kindlichen und der jugendlichen Welt und der Bewusstseinsinhalte, die wir aus diesen Welten mit ins erwachsene Leben nehmen und die uns dort zumindest zum Teil weiterhin bestimmen und oft auch leiden lassen. Wir sind zwar einerseits erwachsen, fühlen und verhalten uns aber oft wie Kinder oder Jugendliche, was früher oder später zu Problemen, nicht selten auch zu massiven Störungen und Krankheiten führt, wobei diese Störungen und Krankheiten von mir als Versuch der Seele gedeutet werden, die Betroffenen daraufhinzuweisen, dass es an der Zeit ist, das Kindliche hinter sich zu lassen. Aus meiner Sicht sind sie der „Riss“ in der jeweiligen Biografie, durch den, wie Cohen singt, „das Licht nach drinnen“ kommen kann.

      Mein Schwerpunkt liegt dabei einmal darauf, das moderne Bewusstsein, also die Welt, in der wir in Europa (überwiegend) leben, von außen zu betrachten und dadurch die Mythen, in denen sich unser zeitgenössisches Bewusstsein aufhält, zu erkennen, und zweitens auf der Frage, wie eine Welt aussieht, die die Kindheit wie die Jugend in sich aufgenommen hat und darüber hinausgewachsen ist. Ich nenne diese Welt