Der Eintritt in eine neue Stufe setzt den Abschied von der bis dahin gelebten Stufe voraus. Das heißt: Das Leben besteht aus Trennungen. Um ins Neue einzutreten, müssen wir uns vom Alten, vom Vorherigen, trennen. Oder, genauer gesagt (da wir dies nicht „machen“): Wir werden davon getrennt. Das Leben macht das ganz von allein.
Drittens:
Mit dem Eintreten ins Erwachsensein (Stufe 4) beginnt etwas grundlegend Neues: Das Leben geht vom Nehmen ins Geben. Bisher haben wir (hauptsächlich von den Eltern) genommen, jetzt sind wir selbst Eltern, geben das Leben weiter und sorgen für andere. Das Austreten aus dem Raum der Herkunftsfamilie ist zugleich das Eintreten in das Leben selbst im Sinne eines Beitrags für das Ganze. In den späteren Stufen geht dieser Beitrag vom Physischen ins Geistige über.
Von der Symbiose zur Einheit: Der Weg des Geistes
Dieser biologischen Entwicklung entspricht unsere geistig-seelische Entwicklung, und zwar beim Einzelmenschen wie bei der gesamten Menschheit. Beides geht miteinander einher. Anders als die biologische kann die geistig-seelische Entwicklung aber auf jeder Stufe stecken bleiben. Bei den meisten Menschen wächst sie nicht über die jugendliche (Ich-Bewusstsein) oder gar die kindliche Stufe (Gruppenbewusstsein) hinaus. Daher ist das Folgende ab der Stufe 4 nur eine Skizze der potenziellen geistigen Entwicklung, die nur wenige Menschen tatsächlich realisieren. Ich beginne wieder im Mutterleib.
1. Der organischen Einheit oder, genauer, Vereintheit von Mutter und Kind entspricht im Bewusstsein des ungeborenen Kindes das symbiotische Bewusstsein. Der Embryo hat sehr klare Empfindungen, aber er kann nicht zwischen sich und der Mutter unterscheiden. Beide erscheinen ihm als Eins.
In dieser Lebensphase entwickelt sich das Spüren, die Wahrnehmung mit den Körpersinnen – riechen, schmecken, tasten, hören, etc. Das ungeborene Kind nimmt seine Umwelt mit seinen Sinnen, dem körperlichen Spüren, wahr, und zwar mit seinem ganzen Körper. Alle Wahrnehmung ist Körperwahrnehmung, alles Selbstgefühl Körpergefühl – es ist sein Körper. Das bedeutet, das alles, was ein Kind im Mutterleib (und auch noch im ersten Lebensjahr) spürt, in seinen ganzen Körper eingeht und dort auch gespeichert wird. Entsprechend sitzt die Erinnerung an diese Zeit und diese Erfahrungen in unserem Körper, in unseren Zellen (und nicht etwa in unserem kognitiven Gedächtnis).
In der Entwicklung der Menschheitsgeschichte entspricht dem die natürliche, gänzlich unbewusste symbiotische Einheit mit der Natur, wie sie in den Mythen aller Völker erzählt wird und die Frühzeit der Menschheit bestimmte.
2. Der (lebensnotwendigen) Zugehörigkeit des Kindes zur Familie (allgemeiner gesagt: zu einer Gruppe, die für es sorgt und in der es sich geborgen weiß) entspricht das Gruppenbewusstsein. Es gibt zwar ein Selbstgefühl, aber dieses steht hinter dem der Zugehörigkeit zur Familie zurück. Das Kind hat sein Selbst (seine Identität) noch nicht bei sich, sondern primär in der Familie. Hier entwickelt sich das Fühlen, das nun das sinnliche Spüren ergänzt (nicht: ersetzt). Kinder nehmen ihre Umwelt und auch sich selbst – zusätzlich zum Spüren – über das Fühlen wahr. Ihre Gefühle sind ihr wichtigster Orientierungssinn – Kinder sind ihr Gefühl.
Kollektiv bedeutet das Gruppenbewusstsein, dass der einzelne zwar ein Bewusstsein seiner Existenz als eigenes, von der Natur getrenntes Wesen hat, sich aber immer als Teil der Gruppe (der Familie oder Sippe, des Stammes, des Volkes, der Nation) sieht und empfindet, und wo die Gruppe grundsätzlich über dem Einzelnen steht. Die jeweilige Gruppe, der ein Einzelner angehört, bestimmt sein Bild der Welt und von sich selbst und auch im großen und ganzen sein Leben.
3. Der Jugend entspricht das Ich-Bewusstsein, das sich jetzt vor das Gruppenbewusstsein schiebt. Damit treten Ich- oder Selbstverwirklichung auf die Agenda, entsprechend der tatsächlichen Anforderung an den Jugendlichen, sich aus der Anleitung durch die Eltern zu lösen und seinen eigenen Weg ins Leben zu finden.
Jetzt übernimmt das Denken die Führung, jedenfalls „offiziell“. Was man spürt und was man fühlt, wird jetzt vom Denken überprüft, es muss sich vor dem Denken rechtfertigen. Damit entstehen im Innern (und auch oft im Äußeren) Konflikte, wenn man etwas anderes fühlt als das, was „rational“ ist.
Dem entspricht das moderne Bewusstsein, in dem sich alles um den Einzelnen dreht, wo das Ganze für den Einzelnen da ist und man glaubt, dass einem das Leben gehöre und man ein „Recht auf Leben“ habe. Jetzt hat, zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte, das jeweils einzelne Leben (das „Individuum“) einen größeren Wert als das der Gruppe.
4. Dem Erwachsensein entspricht (oder entspräche) das Selbst-Bewusstsein. Ich füge den Konjunktiv (entspräche) hinzu, weil ein wirklich erwachsenes Selbst-Bewusstsein empirisch (noch) die Ausnahme ist. Selbst-Bewusstsein heißt, sowohl das Wir als auch das Ich zu lassen und ganz bei sich selbst anzukommen. Kollektiv ist das Bewusstsein noch nicht auf dieser Stufe angekommen.
Im Selbst-Bewusstsein entwickelt sich die geistige Wahrnehmung. Dies ist nicht dasselbe wie denken, das Wahrnehmen nimmt auch das Denken wahr, ebenso wie das Spüren und das Fühlen. Ein anderer Begriff dafür wäre das „geistige Schauen“. Man könnte es auch „geistiges Spüren“ nennen analog zum sinnlichen Spüren in der ersten Lebensstufe. Tatsächlich ist es genau dies: die Transformation des Spürens vom Physischen ins Geistige.
5. Aus der vollständigen Hingabe an diese Lebensbewegung, die sich durch den jeweiligen Menschen (wie durch jedes andere Lebewesen) manifestiert, entsteht ein Erkennen des „Lebensrufes“ oder des inneren, geistigen Potenzials, dessen, was das Leben einem mitgegeben hat, auf dass es sich in einem und durch einen entfalte – der geistige Beitrag zum Leben (im Unterschied zur körperlichen Reproduktion auf der Stufe 4). Dies nenne ich das Geist-Bewusstsein. Die Befreiung von der physischen Reproduktion und der Kindererziehung (Frauen) und der physischen Leistungserzielung (Männer) gibt uns den Raum und ruft uns dazu auf, in diesen geistigen Raum einzutreten. Man sieht seinen Platz im Leben und kommt in Einklang damit.
Hier verdichtet sich die Wahrnehmung, sie wird zum geistigen Sehen („Vision“) und führt zum kreativen Ausdruck, dessen Quelle nicht mehr das Ich ist. Vielleicht ist dies der höchste Ausdruck von Persönlichkeit im Sinne der antiken Bedeutung des Wortes Person. Person bezeichnet ursprünglich die Stimme, die durch die Maske der Schauspieler im antiken Theater hindurch tönte (per-sona, von per = durch und sonare = klingen, tönen).
6. Mit dem Eintreten in die letzte Lebensstufe (vor dem Tod) wird das Leben fast vollständig, es fehlt nur noch der letzte Schritt in den Tod hinein. Geistig bedeutet dies, zu realisieren, dass jedes Leben so, wie es ist, in sich vollständig ist, und dass das Leben insgesamt vollständig ist9. Alles ist, wie es ist, und kann nicht anders sein. Wenn das Bewusstsein diese Stufe erreicht, ist das keine Theorie mehr, sondern klare und erkannte Wirklichkeit, unmittelbares und unbezweifelbares Wissen.
Damit tritt das Bewusstsein wieder in die Einheit ein, die aber eine ganz andere als die anfängliche Einheit mit der Mutter ist. Es ist jetzt die Einheit mit der Welt, wie sie ist, und mit sich selbst, wie man ist, und diese Einheit ist bewusst. Hier haben wir das wirkliche Einheitsbewusstsein.
7. Wie der Tod das Verschwinden des Körpers ist, ist der letzte Schritt das Verschwinden des Geistes im Sinne eines Bewusstseins von Eigenheit oder Besonderheit oder Individualität oder Selbstgefühl. Das Bewusstsein kehrt zu sich selbst (zu dem Bewusstsein) zurück und löst sich auf im Ganzen. Ich bezeichne dies als „All-Bewusstsein“.
Die Lebens- und Bewusstseinstufen im Überblick und als Lebenskreis
Die folgenden Tabellen und Schaubilder zeigen die Lebens- und Bewusstseinsstufen noch einmal auf einen Blick. Danach untersuche ich sie dann im einzelnen.
Schaubild 1
1. Stufe |