Die Welt, in der wir leben. Wilfried Nelles. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilfried Nelles
Издательство: Bookwire
Серия: Edition Neue Psychologie
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783947508754
Скачать книгу
unterstellt, dass sie alle hervorragend denken können und den Gebrauch der Vernunft beherrschen, bedeutet das, dass man mit Denken der Wahrheit nicht näherkommt, sonst müssten die großen Philosophen alle übereinstimmen4.

      In den mit der Vernunft und der Wissenschaft begründeten und mit kalter Rationalität geplanten und durchgeführten Massenmorden der Nationalsozialisten und den Todeslagern und kaltblütigen Gräueltaten der Kommunisten im Namen des „Fortschritts“ und der „Befreiung der Menschheit vom Joch der Sklaverei“ ist die Hoffnung auf die Erlösung durch die Vernunft dann endgültig vernichtet worden. Wir haben sie aber noch nicht beerdigt, wir wollen den Tod der Vernunft noch nicht wahrhaben. Wir klammern uns daran, weil dahinter die absolute Wüste der Sinnlosigkeit lauert. In dieser Wüste kann der Mensch nicht leben. Alle ideologischen Kämpfe heute sind nichts als verzweifelte Versuche, dieser Wüste zu entrinnen und eine neue Heimat zu finden – anders gesagt: eine neue Erzählung, die für moderne Menschen Sinn macht, die in der Lage ist, ihre Erfahrungen zu integrieren und ihrem Leben damit eine Mitte und eine Richtung zu geben. Das gilt auch für die spirituelle Suche. Letztlich ist sie eine Suche nach Heimat.

       Die Sinnfrage und die Psychologie

      In dieser Orientierungslosigkeit wenden sch die Menschen heute – abgesehen davon, dass sie alle möglichen Mythen wieder ausgraben oder neu erfinden und Zuflucht bei fremdartigen Religionen oder, ganz modern, quasi natürlichen „Identitäten“ suchen – vor allem an die Psychologie und Psychotherapie. Sie suchen dort zwar nicht unbedingt die große Erzählung, aber doch zumindest eine kurz- oder mittelfristige Orientierung, kleine Erzählungen sozusagen, die den vielfältigen Problemen des Alltags bis hin zu Krankheiten einen sinnstiftenden Rahmen geben, zumindest für eine gewisse Weile. Sie stellen, mal explizit, mal mehr implizit, Fragen wie die folgenden:

      Warum leide ich, woher kommen meine Probleme, wie kann ich sie überwinden? Wie kann ich besser, glücklicher, erfolgreicher werden, mein Leben besser in den Griff bekommen, eine bessere Beziehung haben? Mit meiner Familie, meinen Eltern wie meinen Kindern besser klarkommen? Wie meinen Stress reduzieren oder mich vor Krankheiten schützen? Kann ich das überhaupt? Was bedeutet meine Krankheit, meine Behinderung, mein Unfall? Was will mir der Tod meines Mannes oder meiner Frau oder meines Kindes sagen?

      Zwar ist das oft rein technisch gemeint (der Therapeut soll das Problem wegmachen), aber dahinter schwingen, wenn man genau hinhört, die großen Fragen mit. Manchen sind sie bewusst, manchen nicht oder nur halb, aber sie sind immer mit dabei: Wer oder was bin ich? Wozu existiere ich? Was hat das alles für einen Sinn? In zigtausenden von Workshops und Beratungszimmern suchen Millionen Menschen nach Antworten – noch in meiner Kindheit und Jugend in den 1950er und 60er Jahren wäre dies undenkbar gewesen. Obwohl die Generation meiner Eltern und deren Familien zwei schreckliche Kriege zu verarbeiten hatte, kam kaum jemand auf die Idee, die Wochenenden in psychologischen Seminaren zu verbringen, und zum Psychotherapeuten ging auch so gut wie niemand, der nicht ernsthaft psychisch krank war, also an einer Schizophrenie oder schweren Depression litt und vom Arzt mehr oder weniger in eine „Anstalt“ gezwungen wurde. Heute sind nicht nur die Praxen der ärztlichen und psychologischen Kassentherapeuten hoffnungslos überfüllt, sondern Menschen aus allen Schichten, vom Manager oder der Ärztin bis zum Handwerker und zur Bauersfrau, vom Millionär bis zum Harz IV-Empfänger, suchen Rat, Hilfe und Lebenssinn in Workshops aller Couleur, und nicht wenige darunter lassen sich selbst zum psychologischen Lebensberater ausbilden, weil die Nachfrage danach rasant steigt. Wenn ich sage, die großen Fragen schwingen dahinter mit, dann heißt das auch, dass sich die Psychologie diesen Fragen stellen muss, wenn sie das, was die Zeit an sie heranträgt, beantworten will. Tut sie dies nicht, wird sie ihrer Ver-Antwortung nicht gerecht, denn sie antwortet dem Leben nicht. Viele der Menschen, die zu uns kommen, suchen nämlich im Grunde nach einer neuen großen Erzählung, einer Erzählung, die ihnen eine Richtung für ihr Leben weist, indem sie dem, was ihnen widerfährt, einen sinnhaften Rahmen gibt.

      Die Theologie kann diese Antwort nicht mehr geben, die Philosophie auch nicht, denn die Vernunft ist genauso tot wie Gott. Was bleibt, ist die Psychologie. Allerdings keine „wissenschaftliche“ Psychologie, keine, die dem Vorbild der Naturwissenschaft nacheifert, denn Wissenschaft kann keine Sinnfragen beantworten.

       Eine neue Erzählung? Über dieses Buch

      Wie kann aber eine solche neue Erzählung aussehen in einer Zeit, in der nicht nur Gott tot ist, sondern auch die Vernunft? Wie kann sie aussehen, ohne zur Ideologie zu verkommen? Wie kann eine Psychologie und Therapie aussehen, die den Menschen eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn gibt? Kann sie das überhaupt? Worauf kann sie gründen in einer Welt, in der es, wie Nietzsche sagt, „kein oben und kein unten“ mehr gibt, keinen archimedischen Punkt, von dem aus sich eine Ordnung oder wenigstens eine Richtung ableiten ließe? Im Außen, also oben (im Transzendenten) oder unten (im Physisch-Materiellen oder in der Geschichte, wo Marx und Engels ihn zu finden geglaubt haben), lässt sich dieser Punkt nicht mehr finden. Wenn es noch einen Ort geben kann, der uns eine gewisse Orientierung gibt, kann er nur innen sein. In uns selbst, in jedem einzelnen selbst.

      Alles, was wir tun können, scheint mir zu sein, den Menschen einen Weg zu zeigen, wie sie sich selbst und ihre eigenen Antworten finden können und ihnen den Übergang zu sich selbst zu ermöglichen – wobei niemand im Vorhinein sagen oder wissen kann, was dieses „Selbst“ ist. Dieser Weg ergibt sich aus dem Leben selbst und zeigt sich, wenn man sich dem Leben und seinen Stationen zuwendet und sie sorgfältig beobachtet.

      Ich möchte Sie mit diesem Buch zu einer Reise durch das menschliche Leben und das den einzelnen Lebensabschnitten entsprechende Bewusstsein einladen und zeigen, wie sich unser Bewusstsein Stufe für Stufe entwickelt, verändert und weitet. Dabei entsteht so etwas wie eine Landkarte, die nicht nur unseren biologischen Lebensweg nachzeichnet, sondern auch beschreibt, wie unser Bewusstsein sich mit den Stationen dieses Weges verändert oder – dies gilt vor allem für die zweite Lebenshälfte – verändern kann, wenn wir uns ganz auf dieses Leben einlassen. Der Weg führt, ganz kurz gesagt, zunächst (bis zum Ende der Jugend) ins Leben und in die Welt hinaus und dann (mit dem Eintreten ins Erwachsensein) wieder ins Leben – in unsere jeweilige Lebenswirklichkeit, in das, was sich in uns verwirklichen will – hinein. Wenn wir dem folgen, landen wir bei uns selbst.

      Wenn etwas sich ent-wickelt, dann bedeutet das, dass es bereits existiert – nur noch eingewickelt, noch nicht ausgewickelt. Wenn ein Mensch sich entwickelt, bedeutet dies entsprechend, dass er als genau dieser Mensch bereits existiert – er muss nur noch ausgewickelt werden oder eben: sich ent-wickeln. Dies kann aber keine Bewegung zu etwas anderem oder jemand anderem sein, zu irgendeinem Ziel, das man sich selbst setzt oder sich vorsetzen lässt, sondern nur eine Bewegung zu sich selbst, zu dem, was man – in eingewickelter Form – bereits von Anfang an ist. Mir scheint, dass dies der dem Leben innewohnende, aus ihm selbst herauskommende Sinn ist: sich zu ent-falten und zu ent-wickeln zu dem, was man im Innersten bereits ist, also zu sich selbst, ähnlich wie eine Blume ihre Erfüllung (ihren inneren Sinn) darin findet, dass sie aus dem Samen, in dem sie anfangs eingeschlossen ist, herauswächst, sich ent-faltet und als die Blume erblüht, die sie immer schon war. Dasselbe gilt für das Bewusstsein: auch das Bewusstsein strebt aus sich heraus danach, sich zu dem zu ent-falten, was es bereits ist, zu seinem innersten Wesen, zu sich selbst.

      Wir werden, so gut dies geht, in die Anfänge unseres Bewusstseins zurückgehen, und zwar beim einzelnen Menschen wie auch in die Anfänge der Menschheitsgeschichte, und uns von dort – beim Einzelmenschen bis zum Ende des Lebens, beim allgemeinen, kollektiven Bewusstsein bis heute –, vorwärtsbewegen. Damit folgen wir der Bewegung des Lebens selbst, denn die geht immer und ausschließlich vorwärts5.

      Dem Leben folgen heißt auch, dass ich die Entwicklung eines Menschenlebens von der Empfängnis bis zum Tod, die Räume, die wir dabei durchschreiten, die Bedingungen und Grenzen, die uns das Leben jeweils auferlegt, die Erfahrungen, die wir dabei machen, und die neuen Räume und Möglichkeiten, die sich mit jeder Lebensstufe auftun, im einzelnen beschreibe und als Grundlage dafür nehme, wie sich das Bewusstsein