Wir bezeichnen das heute als Aberglauben und denken, unsere Sicht wäre die richtige. Das halte ich für überheblich und falsch. Diese Behandlungen waren genauso erfolgreich oder auch erfolglos wie die heutigen Behandlungen von Schizophrenen, abgesehen davon, dass man heute die Symptome mit Chemie betäubt und damit die gesamte Persönlichkeit nachhaltig verändert und/oder die Kranken einsperrt. Von wirklicher Heilung kann keine Rede sein – von Ausnahmefällen abgesehen. Die hat es aber auch früher schon gegeben. Das heißt aber nicht, dass man wieder zu den alten Methoden zurück sollte oder auch nur könnte. Moderne Menschen kann man nicht in die Gruppenseele integrieren, weil sie diese längst und für immer verlassen haben. Wenn sie sich von Schamanen behandeln lassen oder alte schamanische Rituale abhalten, bei denen mit Trommeln und Gesängen (oder Drogen wie Ayahuasca) die Geister der Ahnen oder der Natur gerufen werden, dann wird das sie nicht zu sich selbst führen. Was für Eingeborene eine Heimkehr ist, ist für Westler eine Reise in eine andere Welt, von der man vielleicht verändert zurückkommt. Es kann einem sicher neue und tiefgreifende Erfahrungen bringen, aber seine Welt ist das nicht und wird es auch nicht. Ähnliches gilt für die Reise zum Guru nach Indien und auch für diejenige Praxis des Familienstellens, die glaubt, mit der Versöhnung mit den Ahnen und der Rückkehr in die Familienseele (Gruppenseele) so gut wie sämtliche psychischen Leiden heilen zu können.
Tatsächlich ist das jeweilige Bewusstsein die Ursache für alles, was uns als psychisches Problem oder psychosomatisches Leiden beschäftigt. Je nach Bewusstheitsstufe und/oder Kultur ist das, was für den einen ein Problem ist, für den anderen überhaupt keins, weil es als völlig normal gilt. Das gilt auch für Traumata. Ein „Primitiver“, der sich den Skalp oder irgendein Körperteil eines von ihm getöteten Feindes als Amulett oder Trophäe umhängt, ist stolz darauf, und seine Seele nimmt dabei keinen Schaden – ein moderner Westler könnte das nicht mehr tun, ohne seelisch zu verelenden; und in einer Kultur, in der die Blutrache gilt, ist man eher traumatisiert, wenn man einen Mord an seinem Bruder nicht mit einem Mord vergilt, als wenn man den Mörder tötet. Was für einen modernen Europäer ein Trauma ist, ist für einen Afrikaner oder Afghanen noch lange keins. Wenn wir zum Beispiel alle Flüchtlinge als mehr oder weniger traumatisiert ansehen, so ist das eine ganz und gar europäische Sicht, die wenig mit der psychischen Wirklichkeit der Betroffenen zu tun hat. Allgemein gesprochen sind Dinge, die für den einen ein Anlass größter Sorge oder schweren Kummers sind, für jemanden mit einem anderen Bewusstsein kein Problem.
Mensch sein heißt bewusst sein – oder: Die Frage nach dem Sinn
Unser Bewusstsein ist das, was uns von einem Tier unterscheidet, das, was das Menschsein ausmacht. Deshalb verehren wir auch Menschen, die ein ganz hohes oder weites Bewusstsein erlangt haben, etwas Jesus oder Buddha oder Laotse und viele andere, die keine Religion gestiftet haben. Viele von ihnen waren ganz einfache Menschen ohne hohe Bildung, aber ihr Bewusstsein war mit allem eins. Viele, die ganze heutige spirituelle Szene, möchten auch dorthin oder zumindest ein möglichst hohes Bewusstsein erlangen, aber die wenigsten darunter sehen, dass unser Bewusstsein auch unser größtes Problem ist und dass ein „höheres Bewusstsein“ (und Bewusstheit überhaupt) zunächst einmal auch mehr Schmerz bedeutet, denn mit steigender Bewusstheit sterben alle Vorstellungen, die wir über das Leben haben, und mit der Entstehung des menschlichen Bewusstseins ist die Einheit mit der Natur (der Garten Eden) in uns gestorben und der Mensch als Wesen, das der Natur gegenüber steht (und nicht mehr in ihr ist), geboren worden. Adam und Eva mussten es schmerzlich erfahren: Weil ihnen die Einheit des Paradieses zu langweilig wurde und sie auf die Einflüsterung der Schlange hörten, vom Baum der Erkenntnis zu kosten, wurden sie sich ihrer selbst bewusst, sahen, dass sie nackt waren, und waren aus der Einheit herausgefallen. Es bedurfte dazu nicht Gottes Strafe, die Erkenntnis selbst, das Bewusstwerden ihrer selbst brachte dies automatisch mit sich. Im Moment der Selbst-Bewusstwerdung ist der Mensch aus dem Paradies (der Einheit mit der Natur) herausgefallen. Fortan muss er sein Leben der Natur – in deren Einheit er vorher aufgehoben war, die aber von nun an sein Gegenüber ist – abringen. Seitdem fragt sich der Mensch, wer er ist und welchen Sinn sein Leben hat.
Menschen sind Wesen, die um sich selbst wissen, die wissen, dass sie leben und dass sie sterben. Kein Tier weiß das. Deshalb haben Tiere keine Religion oder Philosophie, sie fragen nicht nach dem Sinn ihrer Existenz. Sie existieren einfach. Menschen haben Bewusstsein, sie sind sich ihrer selbst, ihrer Umgebung, ihrer Herkunft, ihrer Geschichte, ihres Handelns, ihres Lebens, ihres Sterbens und in diesem Sinne der Zukunft bewusst. Wenn sie einen anderen Menschen oder ein Tier töten, dann wissen sie, dass sie töten. Tiere töten ohne zu wissen, dass sie töten, es ist einfach Teil ihrer Existenz. Ein Raubtier ist ein Raubtier, aber es weiß nicht, was ein Raubtier ist und kommt auch nicht auf die Idee, dass daran etwas falsch sein könnte. Der Mensch ist auch ein Raubtier, aber für uns ist das ein Problem, zumindest dann, wenn es uns bewusst wird. Ein Tier lebt einfach in und mit seiner Natur, Menschen haben und brauchen Kultur. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir unserer Natur enthoben seien. Sie ist nach wie vor in uns, auch wenn wir geistig nicht mehr in ihr beheimatet sind. Wir sind nach wie vor biologische Wesen, keine Kultur und keine Technik kann dies ändern. Sollte sich das ändern, sollte es gelingen, das Biologische im Menschen zu überwinden, wären diese Wesen keine Menschen mehr.
Dass wir Wesen mit Bewusstsein sind, dass wir uns unserer Existenz, unserer Handlungen und der Tatsache unseres Sterbens bewusst sind, ist nicht nur ein großer Vorteil und ein evolutionärer Sprung gegenüber Tieren, sondern zugleich unser größtes Problem. Ein Tier hat weder Schuldgefühle noch Ziele, die es glaubt verwirklichen zu müssen. Ein Tier fragt nicht nach dem Sinn seines Handelns und der Bedeutung seines Lebens, wir müssen dies. Der Mensch braucht einen Referenzrahmen, etwas, in dem sein Leben, sein Handeln und vor allem sein Tod einen Sinn machen, etwas, in das wir eingebunden sind. Ein Tier ist eingebunden in seine Natur, wir sind aus der Natur ausgebrochen. Die Natur ist sozusagen das Paradies, der selige Urzustand. Mit dem Biss in den Apfel der Erkenntnis, mit dem Erkennen, dass „ich bin“, ist dieser Urzustand, das rein natürliche Leben, zu Ende. Damit taucht ganz automatisch die Frage auf: Wer oder was bin ich? Warum bin ich? Wozu? Wozu leben, wozu sterben? Wozu dies tun, wozu jenes? All dies ist nicht mehr fraglos wie bei einem reinen Naturwesen. Aus diesen Fragen ist das entstanden, was wir im weitesten Sinne Kultur nennen.
Das Ende der großen Erzählungen
An deren Anfang steht die Religion, zunächst in der Form des Mythos. Der Mythos ist eine Erzählung, eine Erzählung über den Ursprung, über die Herkunft des Menschen, über seine Ahnen und über den Sinn seines Daseins. Diese Erzählung ersetzt die Natur, er ersetzt das fraglose Existieren und gibt der menschlichen Existenz damit wieder einen Ort. Er lebt zwar immer noch in engster Symbiose mit der Natur, aber er ist nicht mehr (nur) Natur. Nach dem Verlust der Heimat in der Natur hat er eine neue Heimat, nämlich den Mythos. Die Natur, die Erde ist zwar noch seine „Mutter“, aber er lebt nicht mehr in der Mutter, sondern hat sie schon als Gegenüber.
Es spielt zunächst keine Rolle, ob der Mythos in einem faktischen Sinne wahr ist. Dies wird erst dann zum Problem, wenn der Mensch Erfahrungen macht, die dem Mythos widersprechen. Wenn viele oder bedeutsame Einzelne diese Erfahrung machen, wird er durch einen anderen, weiter gefassten Mythos ersetzt. Der nächste große Schritt, die nächste Stufe ist dann der Schritt vom Mythos zur Religion. Sie gibt uns eine neue Heimat, in der Erfahrungen aufgehoben sind, die der Mythos nicht mehr fassen konnte. Aber mit der Zeit – genauer gesagt: mit den Entdeckungen, die den Naturwissenschaften vorausgingen und vollends dann mit deren Erkenntnissen – ist auch der Rahmen der Religion zu eng geworden. Auch sie gibt dem Menschen keine Heimat mehr.
In den Anfängen der Aufklärung hat man dann geglaubt und gehofft, in der Vernunft und der Wissenschaft eine neue Heimat zu finden, also einen noch weiteren Rahmen, der dem menschlichen Dasein wieder einen Sinn, eine Einbindung in etwas Größeres gibt. Diese Hoffnung ist mit dem Eintritt in die Moderne (um 1900) bereits verloren gegangen, denn die Wissenschaft und die Vernunft, die die Religion abgelöst haben, können keinen Sinn erzeugen, können uns nicht sagen, wie