40 Jahre danach, Oktober 2019
Wieder sitze ich am Wasser in Thailand, diesmal auf einem hölzernen Bootssteg am River Kwai unweit der Grenze zu Myanmar. Nach drei Wochen mit einer Reihe von Kursen in China entspanne ich mich hier in einem sehr schönen 4-Sterne-Dschungelresort, dessen Bungalows zwischen den Bäumen verschwinden. Hier gibt es nichts außer dem Fluss und dem Dschungel, großen Höhlen mit Fledermäusen, einem Mon-Dorf (die Mon sind heute eine kleine ethnische Minderheit, aber neben den Khmer sind sie die ältesten Bewohner Thailands) und dem „Hellfire Pass“, wo die Engländer im Krieg gegen die Japaner gekämpft haben und der durch den Film „Die Brücke am Kwai“ mit Alec Guinness berühmt geworden ist. Täglich kommen und gehen Touristen aus aller Welt, werden mit Langbooten zum Hotel gebracht, bleiben 1-2 Nächte, machen eine Tour und verschwinden wieder. Abgesehen davon ist Stille.
Das Wasser fließt ruhig flussabwärts. Ich schaue auf sein Fließen und denke: Alles geht den Bach hinunter, seit Millionen Jahren. Alles verändert sich, und alles bleibt. Ein Tag wie der andere. Hermann Hesses „Siddharta“ kommt mir in den Sinn, wie er mit Vasudeva, dem alten Fährmann und Freund, am Fluss sitzt und plötzlich im Fließen des Flusses sein eigenes Leben und alle Gestaltungen des Lebens sieht, das Gebären, Lieben, Hassen, Sich anstrengen, Suchen und Sterben, und im leisen Klang des Fließens erkennt: „Alle Stimmen, alle Ziele, alles Sehnen, alle Leiden, alle Lust, alles Gute und Böse, alles zusammen war die Welt. Alles zusammen war der Fluss des Geschehens, war die Musik des Lebens.“ Ich sehe das stetige Fließen und denke: In der Natur ist alles gleich gültig, und auch alles gleichgültig gegenüber allem, was geschieht.
Am gegenüber liegenden Ufer, in der senkrechten, annähernd zweihundert Meter hohen Karstwand, die von großen Höhlen durchlöchert ist und wo auf kleinen Felsvorsprüngen hundert Meter hohe Bäume ihre Wurzeln in den löchrigen Fels bohren, beginnt eine Horde Affen durch die Baumkronen zu jagen. Das tun sie jeden Tag, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwindet, genauso wie um Punkt sechs Uhr, beim Einbruch der Dämmerung, die Grillen ihr ohrenbetäubendes Konzert beginnen, und eine Stunde später, wenn es ganz dunkel ist, damit aufhören – seit Millionen von Jahren, Tag für Tag. Alles und jeder ist in Bewegung, aber niemand „tut“ etwas, alles bewegt sich und wird bewegt nach den Gesetzen der Natur. Und zwischendrin rennt der Mensch umher und denkt, er und sein Leben (und sogar sein Denken) seien wichtig und er müsste alles be-greifen und dann im Griff haben.
I. MENSCH, WELT UND BEWUSSTSEIN
Meine Welt und deine Welt
Wir leben alle in einer anderen Welt, jeder in seiner eigenen, und keine dieser Welten ist die Wirklichkeit. Wir streiten uns deswegen über das, was richtig ist, was man tun muss oder auf gar keinen Fall tun darf oder was die „Wahrheit“ ist, weil jeder die Welt und das Leben anders sieht und meint, seine Sicht sei die richtige. Wenn vier Leute in einem Raum vor jeweils einer der vier Wände sitzen und den Raum sehen, sehen sie jeweils etwas anderes. Ihre Erfahrung des Raumes ist verschieden, die Wand, die der eine von vorne sieht, sehen die anderen von der Seite oder (die Wand hinter ihnen) gar nicht, und der ganze Raum fühlt sich anders an, je nachdem, in welcher Ecke man sitzt. Keine Sicht ist falsch, aber jede ist unvollständig.
Jeder schaut aus einer anderen Perspektive, von einem anderen Standort aus, und jeder sieht nur das, was man von diesem Standort aus sehen kann. Das ist, das Wort ist sehr genau, seine „Ansicht“. In den meisten Fällen, vor allem dann, wenn es um Dinge geht, die uns wichtig sind, halten wir diese Ansicht aber für mehr als nur eine Ansicht, wir halten sie für das Richtige, wenn schon nicht für die Wirklichkeit oder die Wahrheit. Sofern man bescheiden ist und weiß oder zugibt, dass die jeweilige Sicht vom jeweiligen Standort und der von diesem bestimmten Perspektive abhängt, wird man die eigene Ansicht nicht über die Ansichten der anderen stellen, sondern deren Ansichten aufnehmen und der eigenen hinzufügen und so sein Bild der Welt wie auch von sich selbst erweitern.
Um zu sehen, was das für Ihr Bild der Welt und der Menschen um Sie herum bedeutet, können Sie folgenden kleinen Test machen: Wenn Sie Geschwister haben, dann lassen Sie jeden Ihre Eltern beschreiben – wie war (ist) Ihre Mutter, wie der Vater, welche Stärken, welche Schwächen hatten sie, wie war ihre Beziehung untereinander, wie haben sie die Kinder behandelt, usw. Sie werden feststellen, dass jedes Kind andere Eltern hat. Jedes hat auch eine andere Familie, obwohl es tatsächlich immer dieselbe Familie ist. Dennoch besteht in den meisten Fällen jeder darauf, dass sein Bild das richtige ist, dass seine Beurteilung der Eltern stimmt, und dass seine Kindheit tatsächlich so war, wie er dies empfindet.
Dasselbe können Sie mit Ihrem Lebenspartner oder Kollegen bei der Arbeit oder mit Freunden machen: Jeder sieht den anderen anders. Das gilt nicht nur für das allgemeine Bild, das man sich von ihm macht, sondern auch für die Beschreibung faktischer Ereignisse, also Dinge und Prozesse, die scheinbar objektiv sind. Sie alle haben zwei Seiten: die faktische Wirklichkeit und die, die im Blick des Betrachters erscheint.
Ich kenne meine Frau jetzt fast fünfzig Jahre, und fünfundvierzig leben wir zusammen; selbst wenn wir uns über Ereignisse unterhalten, die wir gemeinsam erlebt haben, weichen unsere Erinnerungen und unsere Geschichten oft erheblich voneinander ab, manchmal bis zum Gegenteil. Dies gilt erst recht für die Beschreibung und Beurteilung anderer Menschen. Wir schaffen es inzwischen meistens, darüber nicht in Streit zu geraten, sondern die Perspektive des anderen als dessen Sicht der Dinge zu nehmen und gelten zu lassen1. Das ist sehr wohltuend und bereichernd, es war aber viele Jahre lang erst dann möglich, wenn wir uns zuvor – manchmal sogar sehr heftig – gestritten hatten, vor allem, wenn eine dritte Person dabei war. Oft hat sich dann jeder in seine Welt zurückgezogen und sich unverstanden gefühlt. Nur die Liebe konnte es überbrücken, wobei das Nicht-Verstehen blieb. Die Welten sind und werden nie deckungsgleich. Vor allem für mich, der den tiefen Traum hatte, dass man sich doch über die Wahrheit einigen können müsste2, war es sehr schmerzhaft, das zu erkennen.
Das ist aber nicht nur zwischen verschiedenen Menschen so, sondern auch bei ein und demselben Menschen. Unsere Welt (unsere Sicht auf die Welt und uns selbst) ändert sich fortwährend, meistens allmählich und kaum wahrnehmbar, manchmal aber auch plötzlich und gewaltig. Ich hatte als Kind ein ganz anderes Bild meiner Eltern als mit zwanzig, und mit sechzig noch einmal ein ganz anderes. Auch ein ganz anderes Bild der Welt, sowohl der faktischen Welt als auch ganz andere Vorstellungen, was gut und wichtig und richtig ist. Und auch ein anderes Bild von mir selbst, wer ich bin, was ich kann, was ich will. Wenn man diese Bilder malen oder fotografieren oder als Film darstellen würde, bekäme man völlig verschiedene Welten zu sehen. Ich habe anderes geglaubt, anderes für richtig oder gut oder falsch oder böse oder schön oder hässlich oder wichtig oder unverzichtbar oder egal oder möglich oder unmöglich oder wahr gehalten. Mein Bild der Menschen um mich herum oder der Zeit und ihrer Ereignisse wandelt sich fortwährend, und zwar nicht nur, weil sich die Welt dauernd ändert, sondern auch, weil ich mich dauernd ändere. Dasselbe gilt für mein Selbstbild.
1. und alle folgenden Anmerkungen finden Sie ab Seite 342.
Keines dieser Bilder ist per se falsch, aber auch keines richtig in einem objektiven Sinne. Sie sind immer sowohl-als-auch. Ein Kind kann kein anderes Bild von der Welt haben als ein kindliches Bild, und daher ist sein Bild für das Kind richtig. Es ist aber auch beschränkt, und wenn man sein Leben lang daran festhält, bleibt man geistig ein Kind. Zum Beispiel ist es für ein Kind wichtig, dass jemand für es sorgt. Daher ist das Leben gut, wenn dies der Fall