Fünf Dinge, die wir nicht ändern können und das Glück, das daraus entsteht. David Richo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: David Richo
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783864102158
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Dauerhaftigkeit gegenüber. Der Umstand, dass Pläne scheitern, steht unserer Illusion von Kontrolle gegenüber. Unsere Illusion, dass die Dinge gerecht sind oder uns kein Leid geschehen wird oder dass man den Menschen vertrauen darf, wird durch die Gegebenheiten, mit denen wir im Laufe unseres Lebens konfrontiert werden, in Frage gestellt. Die Gegebenheiten befreien uns von Unwissenheit und Illusion.

      In einer Praxis wie der Achtsamkeit kultivieren wir Aufmerksamkeit für das Hier und Jetzt ohne unsere störenden Skripte oder Überarbeitungen. Auf diese Weise werden wir von der Illusion befreit. Achtsamkeit geleitet uns auf den mittleren Weg zwischen Anziehung und Ablehnung. Wir haften nicht an dem Anziehenden und flüchten nicht vor dem Abstoßenden. Wir sitzen einfach in unserer gegenwärtigen Wirklichkeit und nehmen unsere Wünsche, uns einer Sache anzunähern oder davor davonzulaufen, wahr, ohne sie ausagieren zu müssen. In dieser Zentralposition gibt es eher ein Ja zur gesamten Wirklichkeit als ein Nein zu der einen oder anderen ihrer Dimensionen. Diese Wahl gilt für die psychologische Arbeit und für die spirituelle Praxis.

      Psychologisch gesehen mag es sinnvoll erscheinen, sich auf Dinge zu oder von ihnen weg zu bewegen. Es ist ein Anzeichen für gesundes Ermessen, Unterscheidungsvermögen und Selbstbehauptung. Psychologie ist die Wissenschaft vom Ego, und das Ego lebt vom Wählen und Unterscheiden. Doch das „entweder – oder“ gewährt der spirituellen Dimension des Urteilsvermögens keinen Raum. Besteht man auf einer Möglichkeit statt alle Möglichkeiten innerhalb eines Spektrums zuzulassen, so ist das Ignoranz.

      Spirituelle Flexibilität lebt von der Versöhnung von augenscheinlichen Unterschieden. Sie ist die Wissenschaft des Paradoxen, des „sowohl – als auch“. So verpflichten beispielsweise die Bodhisattva-Gelübde der buddhistischen Praxis den Übenden, das Wohl der anderen dem eigenen Wohl vorzuziehen. Dieselbe Verpflichtung findet sich in „Liebe deinen Nächsten“, einer Handlungsanweisung, die sich in allen religiösen Traditionen findet. Doch bei der Selbstbehauptung – einer psychologischen Fertigkeit –, geht es darum, sich selbst an erste Stelle zu setzen, ohne anderen zu schaden. Wie können wir diese beiden Direktiven zusammenbringen?

      Die Antwort liegt in der Unterscheidung der Geltungsbereiche der verschiedenen Dimensionen des Lebens. In der psychologischen Arbeit arbeiten wir mit Dualität, da das „Ich“ unsere Einzigartigkeit ausmacht. In der spirituellen Praxis begegnen wir überhaupt keinem Dualismus, da wir kein „entweder – oder“-Ich haben, sondern nur eine „sowohl – als auch“-Verknüpftheit. Ich sorge für mich, aber nicht auf Kosten anderer; ich setze andere an erste Stelle, aber nicht auf meine Kosten.

      Die Methoden der Selbsthilfe-Bewegung lehren uns, unsere psychologische Arbeit und unsere spirituelle Praxis in Einklang zu bringen, aber uns ist vielleicht eine wichtige Unterscheidung nicht bewusst: Sie sind nicht dasselbe, da das eine dualistisch ist und das andere nicht. Sie zu integrieren gehört zum Bereich des Paradoxes, wobei wir die Unterschiede anerkennen und einen Weg finden, zwischen beiden zu leben. Das Gleichgewicht findet sich auf eben diesem mittleren Weg; hier findet das Wort bedingungslos in den Ausdruck „bedingungsloses Ja“ Eingang, denn es besagt, dass dieses Ja nicht mehr von einem „entweder – oder“ bedingt ist.

      „Sowohl – als auch“ spiegelt die Lehren der tantrischen Tradition des Buddhismus wider, in der die Existenzbedingungen als nützliches Rohmaterial für die spirituelle Praxis angenommen werden. Unsere persönlichen Probleme und zwischenmenschlichen Konflikte werden zum Pfad des Mitgefühls und der Weisheit. Weder leugnen wir die Gefühle, die die Lebensumstände in uns hervorrufen, noch vermeiden wir sie. Die Gegebenheiten und unsere Reaktionen darauf sind essenzielle Zutaten für die Erleuchtung. Dies lässt die Welt an sich zu einer Erscheinung von Licht werden. Tantra macht unsere Bewusstseinsevolution zu einer ursprünglichen und unzerstörbaren Einheit. Tatsächlich ist Bewusstsein die Lebenskraft des Universums.

      Wir werden auf den Seiten dieses Buches weiterhin sehen, wie jedes Fahrzeug des Ja zu den Gegebenheiten des Lebens – das spirituelle, das mystische und das psychologische – unsere Verbundenheit mit anderen verstärkt und feiert. Dies ist eine Globalisierung des Bewusstseins. Es ist nicht nur unser persönliches Bewusstsein, das zunimmt, sondern auch unser kollektives Vermögen für Bewusstsein. Unser persönliches Licht verstärkt das Vermögen der Welt, Licht zu manifestieren.

      Älter werden: Das Bild im Spiegel ändert sich

      Auch unsere Persönlichkeit durchläuft verschiedene Phasen in unserem Leben. Unser gelegentlich arrogantes Ego der Jugend nimmt im frühen Erwachsenenalter noch an Ehrgeiz und dem Gefühl von Unbesiegbarkeit zu. Wir setzen unsere Markierungspunkte in der Welt und stoßen alles beiseite, um an die Spitze zu gelangen. Wir sind in der Lage, unseren Körper anzutreiben, ohne dass unsere Gesundheit darunter leidet. Wenn wir die Fünfundvierzig überschreiten, ändern sich die Dinge. Wenn wir diesen Wandel bejahen, gehen wir mit Leichtigkeit und Ausgeglichenheit durch ihn hindurch. Wenn wir jedoch dagegen ankämpfen oder versuchen, weiterhin im jugendlichen Stil zu leben, werden wir uns mit einer Midlife-Krise oder mit gesundheitlichen Problemen konfrontiert sehen.

      Die psychologische Herausforderung besteht darin, die Gegebenheit zu akzeptieren, dass unser Ego nur zeitweilig den Ton angegeben hat und letztlich dazu bestimmt ist, sich mit einer demütigeren Rolle zu begnügen. Das heißt nicht, dass wir nutzlos oder dem Untergang geweiht sind, sondern nur, dass wir in eine neue Phase des Lebens eintreten, eine Phase, die vielleicht weniger Glamour, aber dafür mehr Weisheit besitzt. Unser Leben geht vom Surfen am Waikiki-Strand zum „Goldenen See“ über.1

      Als meine Sehschärfe beim Lesen nachließ, leugnete ich zunächst, dass meine Augen überhaupt schlechter geworden wären. Dann begann ich ein Vergrößerungsglas zu benutzen. Schon bald wechselte ich zu einer gängigen, beim Optiker erhältlichen Lesebrille, weigerte mich aber immer noch, einen Augenarzt aufzusuchen. Erst als ich Kopfschmerzen bekam, ging ich schließlich zum Augenarzt, der mir eine Brille verschrieb. Ich erinnere mich, wie ich ihn dazu brachte, mir zu versichern, dass ich die schwächste Gläserstärke bekäme und eine Brille eigentlich nicht wirklich notwendig wäre. Es war offensichtlich, dass er Typen wie mich kannte: Alternde Knaben, die zu leugnen versuchten, dass es Zeit zum Loslassen war. Mein Körper hatte bereits Ja gesagt, schon lange bevor mein Gemüt folgen konnte.

      Unser Körper hilft uns, Ja zu sagen, weil er sich das ganze Leben hindurch in Form, Befähigung und Kraft verändert. Unser Körper verkündet energisch die edle Wahrheit der Vergänglichkeit. In gewisser Weise sind alle Gegebenheiten „edle Wahrheiten“: Sie erzählen die universelle Geschichte einer menschlichen Lebensspanne und laden uns ein, dem Fluss des Lebens zu folgen, statt zu versuchen, es nach den Wünschen des ewig unbefriedigten Egos umzumodeln. Im Prozess des Alterns können wir unserem Welken auf anmutige Weise zustimmen. Ein solches Ja befreit uns von übermäßiger Sorge um unser äußeres Erscheinungsbild. Die Natur kann dann unseren Fokus wieder auf die Weisheit lenken, auf etwas, das zu entdecken und zu teilen das Alter mit sich bringen kann. Je oberflächlicher unser Fokus bleibt, desto weniger wahrscheinlich wird dies geschehen. Dann versäumen wir es, dem Archetyp des weisen Führers für die kommende Generation gerecht zu werden.

      Warum sind Menschen allen Alters gleichzeitig auf dem Planeten? Jeder spielt eine notwendige Rolle, die sich im Laufe des Lebens ändert. Erst bin ich der junge Türke und dann der alte Weise. Liegt mein Fokus auf dem Materiellen, so bin ich der alte Geizhals und verpasse die Gelegenheit, etwas beizusteuern. Liegt mein Fokus auf dem Physischen, bin ich der alte Narzisst und versäume die Gelegenheit, großzügig zu sein. Das heißt nicht, dass es falsch sei, wenn man so gut wie möglich aussehen will. Die Gefahr liegt darin, dass man von seiner äußeren Erscheinung dermaßen besessen ist, dass unsere Eitelkeit uns für unsere Bestimmung blind macht.

      Unsere Gesellschaft ist dem Jugendwahn verfallen, und ohne ein spirituell reifes Bewusstsein fallen wir seinen verführerischen Verlockungen zum Opfer. Wie traurig wäre es, wenn wir das Ende unseres Lebens erreichten, ohne dass unsere natürliche Neigung zu Weisheit so weit wie möglich aktiviert worden wäre. Ein Ja zu der Tatsache, dass alle Dinge sich ändern und irgendwann enden, ist ein Ja dazu, dass die Natur sich in uns ihren Weg bahnt. Dies bedeutet meistens Falten und Weisheit. Irgendwie kommen sie gewöhnlich zusammen,