109th. Jessica Oheim. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jessica Oheim
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960741909
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      Ich ließ mich auf die Couch fallen. So lange war ich seit Jahren nicht mehr weg gewesen, schon gar nicht, wenn ich am nächsten Tag arbeiten musste. Doch so viel Spaß wie heute hatte ich ebenfalls schon ewig nicht mehr gehabt. Beim letzten Mal musste ich noch mitten im Studium gesteckt haben. Ich griff nach der Fernbedienung, entschied mich dann aber gegen das Fernsehprogramm.

      Seufzend blickte ich auf die Uhr und stellte fest, dass es mittlerweile 1.20 Uhr war. Ich stand auf und lief in mein kleines Badezimmer. Durch die aufgedrehten Heizungen wurde es im Bad sehr schnell warm und ich legte mir zwei Handtücher zurecht. Danach entledigte ich mich meiner Kleider und stellte die Dusche an. Das heiße Nass lief wohlig über meinen Körper und es war, als würden alle Strapazen des Tages mit dem Wasser im Abfluss verschwinden. Als würden all die Akten aus meinem Kopf herausströmen.

      Nach der Dusche wickelte ich mir eins der Handtücher um meine nassen Haare, während ich mich in das andere behaglich einkuschelte. Ich trocknete mich ab und zog meinen Pyjama an. Nachdem ich das Handtuch von meinen Haaren weggenommen hatte, entschied ich mich dagegen, sie zu föhnen. Sie konnten auch über Nacht trocknen. Also ergriff ich meine Zahnbürste und putzte mir die Zähne. Als ich damit fertig war, schaltete ich das Licht im Badezimmer aus und machte meine übliche abendliche Runde. Dabei überprüfte ich jedes Fenster und verschloss die Tür, weil ich unglaubliche Angst vor Einbrechern hatte. Viele hätten mich dafür wahrscheinlich ausgelacht, doch seit vor drei Jahren in meine Wohnung eingebrochen worden war, war ich sehr vorsichtig geworden.

      Als ich meinen Rundgang beendet hatte, ging ich in mein Schlafzimmer und schloss die Tür hinter mir. Ich schaltete meine Nachttischlampe an, stellte den Handywecker auf sechs Uhr und ließ mich aufs Bett fallen. Während ich genüsslich die Decke nach oben zog, drehte ich mich auf die Seite. Dabei fiel mein Blick auf das Bild, das auf meinem Nachttisch stand. Es zeigte mich und Sophie als kleine Kinder. Glücklich lachend saßen wir im Park auf der Wiese. Damals war ich fünf und Sophie acht Jahre alt gewesen.

      Wir waren in einem Waisenheim aufgewachsen. Unsere Eltern waren bei einem Autounfall gestorben, als ich kaum vier und Sophie gerade einmal sieben Jahre alt war. Zuerst hatten wir es gar nicht richtig realisiert, dass unsere Eltern nie wiederkommen würden. Wir dachten, dass sie nur weg wären, einkaufen oder so, und sicher bald wieder auftauchen würden. Doch sie blieben fort. Noch am Tag des Unfalls hatte uns eine Sozialarbeiterin abgeholt und in das Waisenhaus gebracht. Anfangs waren wir unter uns geblieben, ließen niemanden an uns ran. Wir trauerten auf unsere ganz eigene Weise, indem wir nicht sprachen. Fast zwei Jahre lang hatte niemand ein Wort aus uns herausbekommen. Doch mit der Zeit verarbeiteten wir den Tod unserer Eltern und fanden Freunde. Leider hatte keine dieser Freundschaften darüber hinaus Bestand, aber in jener Zeit der Trauer waren sie das Einzige gewesen, das uns dabei geholfen hatte, ganz normale Mädchen zu werden.

      Ich seufzte und ein kleines Lächeln wanderte über meine Lippen, während ich mich erinnerte. Diese Erinnerungen waren das Einzige, was mich während meines stressigen Alltags wirklich glücklich machte. Natürlich davon abgesehen, dass ich meine Schwester jetzt wieder jeden Tag um mich haben konnte.

      Langsam streckte ich meine Hand aus und knipste die Nachttischlampe aus. Dann schloss ich meine Augen. In meinem Kopf ging ich noch mal den Tag durch. Die Begrüßung des Teams, die vielen Akten, der neue Fall und natürlich der Kneipenbesuch am Abend. Und ein Gesicht tauchte immer wieder vor meinem inneren Auge auf, ohne dass ich es verhindern konnte. Es war Sams strahlendes Antlitz. Er war mir von Anfang an am sympathischsten gewesen. Anna und Lena waren ebenfalls supernett, aber bei Sam war es sofort anders gewesen. Er hatte mir zugelächelt, sobald ich ihn angesehen hatte, und mir sogar meine unterzeichneten Verträge persönlich vorbeigebracht. Natürlich konnte das auch Einbildung sein, aber ich hatte das Gefühl, dass er meine Nähe suchte. Aber noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, war ich auch schon eingeschlafen.

      Als am nächsten Morgen um Punkt sechs Uhr mein Wecker klingelte, hätte ich ihn am liebsten abgeschaltet und weitergeschlafen. Doch ich wusste, dass ich mich nicht vor meinem neuen Job drücken konnte, deshalb quälte ich mich aus dem Bett und lief verschlafen in die Küche. Ich machte mir einen Kaffee und trank diesen fast in einem Zug leer. Ohne dieses starke braune Gebräu war ich morgens einfach nicht wach zu bekommen. Ich zog mich um, bändigte meine Haare und schminkte mich.

      Um sieben Uhr verließ ich meine Wohnung, stieg in meinen Wagen und fuhr los in Richtung Revier. Ich drehte das Radio laut auf, damit auch der letzte Rest Müdigkeit verschwand. Und mit Try von Pink klappte das auch ganz gut. Ich fuhr die noch sehr leeren Straßen entlang und blickte dabei kein einziges Mal in den Rückspiegel. Hätte ich das getan, wäre mir vielleicht der dunkelblaue SUV aufgefallen, der mich unablässig zu verfolgen schien. Doch so fuhr ich unwissend weiter und parkte schließlich vor dem Revier. Ich stieg aus, schloss mein Auto ab und lief in das Gebäude. Der Fahrer des SUV notierte sich etwas auf einem Notizblock, bevor er das Gaspedal durchtrat und davonfuhr.

      Ich betrat im selben Moment den Aufzug, der gerade im Erdgeschoss angekommen war. Als ich im ersten Obergeschoss ausstieg und das Großraumbüro durchquerte, stellte ich fest, dass ich eine der Ersten war. Aber das war eigentlich kein Wunder. Immerhin hatte ich noch eine Menge Akten und Umzugskartons vor mir, die durchgearbeitet und ausgeräumt werden mussten. Ich schloss mein Büro auf und betrat den Raum.

      Nachdem ich meine Tasche neben dem Schreibtisch abgestellt und den Stapel Papiere auf dem Tisch zurechtgerückt hatte, nahm ich seufzend die erste Akte und fing an, sie zu lesen. Doch meine Gedanken schweiften immer wieder zu dem Fall ab, den ich schon übermorgen vor Gericht verhandeln musste. Jener Prozess, in dem der Sohn des Bürgermeisters angeklagt und von meinem alten Mentor Johannes Benett verteidigt wurde.

      Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Ohne auf ein „Herein“ von mir zu warten, öffnete Sam die Tür und betrat mein Büro.

      „Hey Sam. Was machst du denn schon so früh hier?“ Ich beschloss, ihm das Hereinplatzen nicht übel zu nehmen, da ich ihn nicht gleich am frühen Morgen nerven wollte. Und außerdem sah er mich mit einem Blick an, bei dem alles andere in Vergessenheit geriet.

      „Das Gleiche könnte ich auch dich fragen“, lachte der Detective.

      „Ich muss noch eine Unmenge an Akten bearbeiten und Kartons ausräumen“, erwiderte ich. „Und was ist deine Ausrede?“

      „Na ja, ich wollte sehen, ob ich den Fall voranbringen kann.“

      „Immer noch keine Verdächtigen?“

      Sam schüttelte den Kopf. „Leider nein. Aber heute erhalten wir hoffentlich von der Forensik und den Computerspezialisten Hinweise auf den Täter.“

      Ich blickte auf die zwei Kaffeebecher, die Sam in der Hand hielt, und fragte: „Ist einer davon zufällig für mich?“

      „Oh ... äh ... ja, natürlich.“ Er hielt mir eine der Tassen hin, die ich nur zu gerne annahm. „Ich wusste nicht, wie du deinen Kaffee trinkst, also habe ich dir Milch und Zucker mitgebracht“, meinte er und holte aus seiner Jackentasche beides hervor.

      „Danke“, lächelte ich und nahm sowohl Milch als auch Zucker entgegen. „Damit du es das nächste Mal weißt: ein Döschen Milch und ein Päckchen Zucker.“

      „Ich werde es mir merken“, versprach mir Sam mit einem charmanten Lächeln.

      Wenn ich mich nicht schon vorher etwas in ihn verguckt hätte, dann wäre dies spätestens jetzt geschehen. Er war einfach so nett und hilfsbereit.

      „Also, ich muss dann mal wieder an die Arbeit“, meinte er. Ich nickte und er verließ mein Büro.

      Als ich versonnen in meinem Kaffee herumrührte, fragte ich mich, ob Sam jedem Mitarbeiter morgens einen Kaffee brachte oder ob er das nur für mich gemacht hatte. Ich nippte an meinem Becher und verbrannte mir dabei fast die Zunge.

      „Verdammt!“, zischte ich und verschluckte mich dabei auch noch. Ich hustete und konnte mich nur langsam wieder beruhigen. Den Kaffee schob ich erst mal zur Seite, damit er abkühlen konnte, und widmete mich wieder meiner Akte.

      ***