Marie konnte später nicht mehr sagen, ob es die Scham oder der Zorn war, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie griff entschlossen nach ihrem Klappmesser und stach es mit aller Kraft in den Ball, der noch immer neben ihr lag.
Das Gegröle der Jungs verstummte. Die Augen des großen Jungen waren hasserfüllt. Er griff Marie brutal an den Haaren und zog sie hoch. Marie schrie vor Schmerz auf, dann verpasste er ihr eine schallende Ohrfeige und stieß sie wieder zu Boden. Marie weinte jämmerlich, doch er sagte nur: »Du Schlampe, den Ball wirst du zahlen, oder ich prügle dich windelweich!«
Keiner der Jungen hatte den braunen Hund bemerkt, der tief knurrend beobachtete, wie Marie geschlagen und zu Boden geworfen wurde. Seine plötzliche Attacke kam völlig unerwartet, selbst für Marie. Mit gefletschten Zähnen sprang Louie dem Jungen blitzartig an den rechten Unterarm und biss so heftig zu, dass der Knochen laut knackte.
Zwar ließ der Hund sofort wieder ab, hinterließ jedoch eine klaffende, stark blutende Wunde. Es war kein schöner Anblick, aber Marie spürte dabei eine tiefe, innere Befriedigung.
Die Freude war aber nicht von langer Dauer, und der Fall endete vor Gericht. Nach mehrwöchigen Verhandlungen lautete das Urteil »Schmerzensgeld für den Verletzten und Einschläferung des Hundes«.
Alles Flehen und Schreien half nichts, Marie musste die bittere Wahrheit akzeptieren, dass ihr treuester Freund, der nur aus einem Instinkt gehandelt hatte, um sie zu beschützen, durch einen Gerichtsbeschluss getötet werden sollte.
Die Zeit bis zum gerichtlich festgesetzten Termin musste der kleine Louie in einem Zwinger in einem Tierheim verbringen. Marie besuchte ihn täglich und war bei der Vollstreckung des Urteils an seiner Seite. Sie hielt ihren treuen Freund in den Armen, während sein Körper erschlaffte und ihre Tränen in seinem Fell versanken.
13 JAHRE SPÄTER – FREITAG, 15. OKTOBER 2010
Die Auseinandersetzung mit Karl Rieger ging Marie näher, als sie es sich eingestehen mochte. Sie saß allein in ihrem Büro, und ihr Herz pochte wie wild. Das Telefon läutete, aber sie ging nicht ran.
Wie hatte er sie so aus der Fassung bringen können? Es war ihr erster großer Fall. Alles, wonach sie sich gesehnt hatte, war, eine Chance zu bekommen. Sie hatte so sehr gehofft, sich beweisen zu können. Nicht nur vor ihrem Chef, vor allem vor ihr selbst. Dabei hätten die Provokationen durchaus auch schlimmer sein können, wie sie im Nachhinein feststellte. Aber nur beim Gedanken an Karl Rieger begannen ihre Finger wieder zu zittern. Zum Glück lag das Wochenende vor ihr. Am Montag würde sie sich dieser Herausforderung erneut stellen, diesmal aber deutlich souveräner und professioneller. Ihr Blick blieb an einem gerahmten Bild von Louie hängen, das neben ihrem PC stand. Irgendetwas war da noch, aber sie konnte beim besten Willen nicht sagen, was.
–
Es war bereits dunkel geworden in den Häuserschluchten der Innenstadt. Karl lehnte am Geländer eines U-Bahn-Aufgangs und betrachtete die lange Reihe von Neubauten, die kurz nach dem Krieg entstanden waren. Er dachte daran, dass diese Stadt einmal eine der prächtigsten Residenzstädte Europas gewesen war und wie wenige Wochen vor Kriegsende die Innenstadt von den Alliierten erneut in einem vier Tage anhaltenden Bombardement dem Erdboden gleichgemacht wurde. Nach seinen Recherchen waren damals 200000 Menschen ums Leben gekommen …
… auch wenn die verlogene Geschichtsschreibung heute von nur mehr 25000 Opfern ausgeht. Die Sieger schreiben die Geschichte, nicht die Verlierer.
Das sagte er damals auch seinem Professor an der Universität, als er mit seiner Semesterarbeit zum »Moral Bombing« in Ungnade fiel. Überhaupt – wie makaber, die Ermordung von tausenden von Zivilisten als Moral Bombing zu bezeichnen.
Hier zu stehen, zu warten und die hässliche Fratze der neu errichteten Innenstadt zu betrachten machte ihn wütend. Wütend zu sein, darauf war er von klein auf konditioniert worden. Wütend zu sein auf Ausländer, wütend auf Arbeitslosigkeit, wütend auf diesen korrumpierten Staat und wütend darüber, den Krieg verloren zu haben.
Endlich, am Haupteingang des gegenüberliegenden Gebäudekomplexes, erschien Marie Stresemann. Selbst auf diese Entfernung erkannte er sie sofort an ihrer schmalen Silhouette und ihrer braunen Lederjacke, die sie schon am Morgen getragen hatte. Sie schien in Eile, steuerte aber nicht den U-Bahn-Eingang an, wie er gehofft hatte, sondern überquerte die große Kreuzung, offenbar um zur nahe gelegenen Bushaltestelle zu gelangen.
Karl hatte über eine Stunde auf sie gewartet und wollte sie nun auf keinen Fall verpassen. Die Rushhour hatte mittlerweile den Verkehr zum Erliegen gebracht. Stoßstange an Stoßstange reihten sich die Kolonnen vor den Ampeln auf, um sich bei Grün nur zäh über die Kreuzung zu bewegen. Ungeachtet der hupenden Autos rannte er quer über die Straße seinem Ziel entgegen. Karl hatte nur Marie im Auge, die an einer Fußgängerampel stand, die gerade auf Grün umschaltete, als Karl sie erreichte.
Marie erschrak, als sie unerwartet heftig am Arm gepackt wurde und erblickte Karls Gesicht. Schlagartig wurde ihr klar, Karl Rieger erinnerte sie an den Hünen, der damals für den Tod ihres Hundes verantwortlich war. Seine Stimme, seine ganze Art waren wie eine teuflische Kopie ihrer wiederkehrenden Albträume. »Sind Sie wahnsinnig geworden? Mein Gott … Was wollen Sie?«, fuhr sie ihn an, wobei sie heftig atmete. Auch Karl musste nach seinem Sprint erst Luft holen und brachte seine Antwort nur abgehackt heraus.
»Hören Sie … Ich dachte … Wir könnten noch mal reden …«
Wütend befreite sich Marie von seinem Griff und antwortete: »Mit Ihnen kann man nicht reden, Sie hören nämlich nicht zu.«
»Ich weiß, das lief heute nicht so gut, tut mir echt leid …«, versuchte Karl sich zu entschuldigen, aber Marie hatte nur den Wunsch, ihn so schnell wie möglich loszuwerden.
»Und Sie glauben, so können Sie das wiedergutmachen? Schon vergessen, ich bin Jüdin, eine Frau und nun auch Ihr Vormund. Keine Ahnung, in welcher Reihenfolge das für Sie das größte Problem ist, aber im Augenblick bleibt es Ihr Problem. Und jetzt lassen Sie mich auf der Stelle in Frieden!«
Die Fußgängerampel hatte mittlerweile wieder auf Rot gewechselt. Gezwungenermaßen musste sie nun Karls Antwort über sich ergehen lassen.
»Ich brauche Ihre Hilfe. Ehrlich … Ich bin in einer echt verfahrenen Situation.«
Na wunderbar, dachte Marie, hoffentlich erstickst du dran!
Sie biss sich auf die Lippen und versuchte, diplomatisch zu antworten. »Jetzt hören Sie mir gut zu, meine Arbeitswoche ist jetzt zu Ende. Ich werde diesen Bus nehmen und nach Hause fahren, und dann werde ich versuchen, das ganze Wochenende nicht an Sie oder Ihre Probleme zu denken, denn im Augenblick …«
»Ich dachte, Sie sind da, um mir zu helfen?«, unterbrach er sie wütend.
»Sie hatten heute Ihre Chance. Sie haben es verbockt. Am Montag bin ich wieder ganz Ohr und höre mir gerne Ihre Entschuldigung an. Aber bis dahin gehen Sie mir aus den Augen. Guten Tag«, schloss sie resolut ihre Antwort, die jede Widerrede im Keim erstickte, dann schritt sie bei Rot über die Ampel.
»Fotze«, sagte Karl leise und sah zu, wie Marie auf der anderen Straßenseite in einem Bus verschwand. Als er sich abwandte, kam gerade ein alter Mann mit Krücken auf ihn zu, der ihn einen Moment zu lange musterte.
»Was guckst du so blöd, Alter?«
Mit einem Fußtritt kickte er dem gebrechlichen Mann eine Krücke weg. Eine Frau war geistesgegenwärtig genug, den Mann zu stützen, als er beinahe das Gleichgewicht verlor.
»Was fällt Ihnen ein …?«, rief die Frau Karl nach, doch der hatte diesen Vorfall schon ausgeblendet und konnte nur noch daran denken, dass er um ein Haar seine Kameradschaft verraten hatte.
Was zum Teufel ist bloß los mit mir?
ESTHER
SAMSTAG, 16. OKTOBER 2010, SABBAT, 9.30 UHR
Es war ein regnerischer Morgen. Ephraim