Reflexartig riss er mit aller Kraft den Ellenbogen nach hinten, um sich aus dem Griff des Freundes zu befreien. Er traf ihn dabei mit enormer Wucht am Hals. Namik spürte einen stechenden Schmerz, als sein Adamsapfel in den Hals gedrückt wurde und ihm die Luft abschnitt. Röchelnd brach er zusammen.
Cevat drehte sich um, streckte dem am Boden liegenden Freund sein Messer entgegen und schrie: »Namik, ich werde dieses Schwein aufschlitzen, und wenn ich dafür in den Knast wandere, ist mit scheißegal!«
Karl wusste, so eine Gelegenheit würde er nicht noch einmal bekommen. Der Breitschultrige hatte sich von ihm abgewandt, der Hagere lag am Boden und die beiden anderen eilten gerade zu ihm. Sein Herz pochte wie wild.
Jetzt ganz cool bleiben. Ruhig und zielstrebig auf die Opfer zugehen und die Schussdistanz auf wenige Meter minimieren. Dann Waffe ziehen, Arm durchstrecken und vier gezielte Schüsse abfeuern.
In Gedanken ging er die Reihenfolge durch.
Den Breitschultrigen als Erstes, den am Boden Liegenden als Letztes. Nicht die Nerven verlieren. Nach dem ersten Schuss, spätestens nach dem zweiten, wird Panik ausbrechen. Einen klaren Kopf behalten, ruhig zielen und den Fliehenden in den Rücken schießen.
Die vier Türken bemerkten kaum, dass Karl sich in Bewegung setzte. Ihr Freund lag am Boden und röchelte. Namik lief blau an, er bekam keine Luft mehr. Cevat konnte es nicht fassen. Sein bester Freund lag am Boden und drohte, durch seine Schuld zu ersticken. Geifer rann aus seinem Mund, seine Augen verdrehten sich, sein Körper zuckte im Todeskampf.
Cevat ließ das Messer fallen, kniete sich neben Namik in den Schlamm und betete zu Gott, er möge Namik nicht für seine Sünden bestrafen. Auch die Augen seiner beiden Freunde waren nur noch auf Namik gerichtet.
Karl hatte seine Schussposition erreicht. Jetzt war die optimale Gelegenheit, alle vier Kanaken erbarmungslos zu liquidieren … aber er zögerte.
Der Breitschultrige war tief über seinen Freund gebeugt und weinte. Er schrie irgendetwas auf Türkisch, während Namik langsam das Bewusstsein verlor.
»Ihr müsst ihn beatmen«, rief Karl.
War das seine Stimme, die das eben gesagt hatte?
Die Türken reagierten nicht.
Plötzlich hatte er das Gefühl, wieder Herr seiner selbst zu sein. Was zum Teufel tat er hier? War er gerade dabei, vier Menschen zu ermorden? Er musste an Thomas denken. Was, wenn Thomas hier röchelnd am Boden läge?
Ohne weiter nachzudenken, packte er den Breitschultrigen und zerrte ihn von seinem Freund herunter. Es gab keine Gegenwehr, weder von Cevat noch von seinen verzweifelten Freunden.
Karl hielt Namik mit den Fingern die Nase zusammen und presste seinen Mund auf den des sterbenden Türken. Er blies so fest er konnte Sauerstoff in dessen Mundöffnung, aber der Gegendruck war zu groß. Er ließ ab, holte tief Luft und blickte nach oben in versteinerte Gesichter.
»Scheiße, was glotzt ihr, ruft einen Notarzt, euer Freund krepiert hier!«
Dann setzte er erneut an und presste mit aller Kraft Sauerstoff durch Namiks verengte Kehle. Wenn Namik nicht bald wieder zu sich kommen würde, müssten sie einen Luftröhrenschnitt machen. Erlebt hatte er das auf einer Demo, als Antifas einen Kameraden am Boden in den Hals getreten hatten. Ein Sanitäter rettete ihm durch einen Schnitt in die Kehle das Leben. Er nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass einer der beiden Türken hektisch telefonierte. Und wieder presste er seinen Mund auf den Mund des anderen. Er spürte, dass die Beatmung ihm nun leichter fiel. Und tatsächlich, der Türke öffnete die Augen.
Cevat versuchte Karl zur Seite zu stoßen, aber Karl ließ nicht von Namik ab, seine Hände hatten sich in dessen Jacke verkrallt. Die Blicke der Kontrahenten prallten aufeinander.
Karls Stimme klang gepresst: »Du musst weitermachen. Verstehst du? Weitermachen, bis der Notarzt da ist.«
Cevat zögerte. Karl lockerte seinen Griff und wich zurück. »Los, mach schon!«
Cevat kniete sich über seinen Freund, holte tief Luft und blies Namik lebensspendenden Sauerstoff in die eingequetschte Luftröhre.
Keiner sagte mehr ein Wort. Karl stand auf und betrachtete eine Weile, wie Cevat um das Leben seines Freundes kämpfte. Dann stahl er sich wortlos davon, während er in der Ferne die Sirene eines Krankenwagens hörte.
Er hatte einem Menschen das Leben gerettet. Und er hatte soeben all seine Ideale verraten! Er sollte sich dreckig und leer fühlen, aber er war zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zufrieden mit sich selbst.
–
»Klein-Istanbul«: Die Ladenzeile, die Karl vollkommen durchnässt im Regen entlangging, war fast ausschließlich von türkischen Geschäften flankiert. Metzger, Gemüsehändler, Import-Export, Friseurläden, sie alle warben in türkischer Sprache. Die Fassaden der Häuser wirkten verwahrlost, Bauzäune waren in dutzenden Schichten mit türkischer Werbung und Event-Plakaten zugepflastert. Der Geruch von gebratenem Fleisch mit Knoblauch kam mit einer dampfenden Rauchwolke aus dem Küchenabzug eines Döner-Imbisses, den gerade eine verschleierte Frau mit drei kleinen Kindern verließ. Sie überquerte die menschenleere Straße und verschwand in einem Hauseingang mit zerbrochener Glastür, die ein schwarzer Graffiti-Penis zierte. Irgendwo aus einem offenen Fenster im dritten Stock drang Oud-Musik, während sich an einem anderen Fenster lauthals ein türkisches Pärchen zoffte. Wind und Regen hatten das Viertel fast leergefegt, aber an sonnigen Tagen erwachte das Leben in »Klein-Istanbul«. Dann verwandelte sich die Straße in einen Basar mit dutzenden von Händlern, die lauthals ihre Ware anpriesen, spielenden Kindern, die zwischen den Beinen der Käufer umherjagten, und alten Männern, die an Klapptischen an ihrem schwarz gebrühten Mokka nippten und das lebendige Treiben verfolgten.
Mitten in dieser Enklave hatte die Kameradschaft Germania ihren Hauptsitz in einer Kneipe, oder, wie Karl es Neulingen gerne blumig beschrieb: »Hier brechen sich die Integrationsbemühungen der deutschen Regierung wie die Gischt an einer felsigen Küste, hier sticht die Kameradschaft Germania heraus wie ein roter Pickel auf einem Türkenarsch.«
In weißer Frakturschrift auf schwarzem Grund markierte der Schriftzug den Eingang zu einer gänzlich fremdenfeindlichen Welt. Auch das auf Hochglanz polierte, schwarze Mercedes S-Klasse Coupé mit kleinem NPD-Logo, das davor parkte, setzte ein eindeutiges Zeichen.
Ein glatzköpfiger Hüne stand mit breiten Beinen an der geöffneten Tür der Kameradschaft und beobachtete die Umgebung, als könnte es jeden Augenblick einen Großangriff der Muslime geben. Trotz der Kälte trug er nur ein schwarzes Muskelshirt, das sich über der Brust spannte und ungeniert auf dem rechten Bizeps ein Hakenkreuz entblößte. Auf dem Shirt stand »Troublemaker Germany« – und das war ganz sicher als Warnung zu verstehen, denn am Türstock neben dem Muskelprotz lehnte ein Baseballschläger, der schon einige Kerben hatte. Türkische Anwohner wechselten in der Regel die Straßenseite vor der Kameradschaft. Wer dennoch der Meinung war, auf sein Recht pochen zu müssen und die Frechheit besaß, das Revier der Kameradschaft zu missachten, der konnte im wahrsten Sinn des Wortes sein blaues Wunder erleben.
Karl näherte sich mit schnellen Schritten dem Hünen, dessen furchteinflößender Gesichtsausdruck bei seinem Anblick schlagartig ein breites Grinsen annahm. Kaum standen sich die beiden gegenüber, umarmte der Hüne ihn heftig und küsste ihn auf die Wange. Dann schob er Karl wieder von sich und betrachtete ihn wohlwollend.
»Karl Rieger! Ich glaub’s nicht. Alte Hackfresse!«
Karl war erschöpft, aber er bemühte sich, die Begrüßung respektvoll zu erwidern.
»SS-Rudi! Hast dich nicht verändert«, sagte er anerkennend.
»Meinst du? Schau dir das an!« Rudi zog sein Hemd hoch, grinste und zeigte Karl eine frisch verheilte Stichwunde. »Hat mir ein Antifa verpasst, hat mich fast die Leber gekostet.«